Читать книгу Das Internat am Schlossberg - Cécile Tourin - Страница 8
Erster Schultag
ОглавлениеEs war ein paar Minuten vor acht am nächsten Morgen, als sich die sechs Neuen vor dem Büro der Internatsleiterin trafen. Mit einem Schwung ging plötzlich ihre Tür auf, die Rektorin bat sie herein und stellte sich ihnen vor. Sie begrüßte die Gruppe, indem sie jedem einzelnen die Hand gab, mit dem Vornamen ansprach und willkommen hieß. Neben Leyla und Gino waren es noch Marit, Valerie, Johannes und Moritz.
„Ich hoffe, dass wir jedem von euch den richtigen Mitbewohner ausgesucht haben. Sie sind zugleich eure Paten in diesem Schuljahr. Ich möchte, dass ihr euch gegenseitig ergänzt und einander eine Hilfe seid. Das Zusammenwohnen mit einem der Älteren hat sich bisher als sehr günstig erwiesen. Nächstes Jahr werdet ihr wiederum die Paten für sechs neue Schüler sein und dann für sie eine gewisse Verantwortung tragen. Bevor ich die drei Vorschriften nenne, die mir am allerwichtigsten sind, möchte ich euch Mut machen, immer ohne Scheu alles anzusprechen, was euch bewegt. Das leben und lernen hier soll sich nämlich im Geist der Freiheit und besonders auch in eurer eigenen Selbst- und Mitverantwortung entwickeln. Nun aber zu den drei Punkten, die in unserer Gemeinschaft nicht verhandelbar sind.“
In diesem Moment klopfte es an die Tür und ein ziemlich großer Mann kam gleich darauf herein. Er hatte schwarze lockige Haare und war so ein schlaksiger Typ, fast wie verlegen grinsend, blieb er mit dem Rücken an der Tür stehen. Alle Köpfe der Anwesenden drehten sich zu ihm hin. „Komm ruhig herein, Klaus. Hier sind unsere neuen Mädchen und Jungen. Das ist Klaus Ferber, zuständig für Deutsch, Philosophie und Geschichte und gleichzeitig der Vertrauenslehrer in diesem Jahr. Übrigens meist rund um die Uhr präsent, denn er hat seine Wohnung hier im Haus – ganz oben im 4. Stockwerk.“ Der Lehrer hob lässig die Hand, sagte sein ‚Hallo und Grüß Gott‘ und lächelte interessiert in die Runde, denn er sah die neuen Schüler in diesem Moment auch zum ersten Mal. Die Rektorin wandte sich mit fester Stimme wieder den Schülern zu, als sie begann:
„Die drei besonderen Vorschriften sind also folgende:
Erstens, weder der Besitz noch der Konsum von illegalen Drogen ist erlaubt.
Zweitens, es wird nicht die geringste physische oder psychische Gewalt gegen Personen oder Sachen geduldet. Für jemanden der meint, überschüssige Kräfte zu haben, gibt es genug Gelegenheiten sich abzureagieren. Zum Beispiel im hauseigenen Fitnessraum oder indem man sich zwischendurch mal eine Woche lang bei einem unserer Bauern oder Fischern ausarbeitet.
Es wird drittens größten Wert auf die pünktliche Einhaltung der vorgegebenen Zeiten gelegt. Das uns von euren Eltern entgegengebrachte Vertrauen in die Wahrnehmung unserer Aufsichtspflicht rechtfertigt die in diesem Punkt auferlegte Strenge. Für alle heißt das, die Unterrichtszeiten genau einzuhalten und für euch Fünfzehn- und Sechzehnjährige, dass ihr spätestens um 20 Uhr hier auf dem Gelände seid. Abweichungen davon sind nur gestattet, wenn eine Lehrkraft die ausdrückliche Genehmigung erteilt hat. Schuldhaft nachgewiesene Verstöße werden beim ersten Mal ermahnt. Allerdings führt schon die zweite Missachtung dieser drei Regeln zu einer fristlosen Kündigung des Aufnahmevertrages. Hat dazu noch jemand eine Frage?“
Die neuen Schülerinnen und Schüler schauten sich fragend an und alle schüttelten verneinend die Köpfe. „Äh, doch“, sagte Moritz, „wenn man durch ein plötzliches Ereignis verhindert ist, pünktlich wieder hier zu sein, also zum Beispiel der Bus kommt nicht oder so was, was kann man dann tun?“ „Für diese Fälle gibt es ein Notfalltelefon, das wöchentlich zwischen den Lehrkräften wechselt und weitergereicht wird. Die Rufnummer könnt ihr der Hausordnung entnehmen und am besten in eure Handys einspeichern. In wirklich dringenden, ernsthaften Notfällen wählt ihr natürlich die 110 oder 112, aber das dürfte ja bekannt sein.
Wenn keine weiteren Fragen sind, dann wünsche ich euch hier bei uns ein gutes Gelingen, viel Erfolg beim Lernen und Spaß in der Gemeinschaft. Und glaubt mir, weder an dem einen, noch an dem anderen wird es mangeln. Nach einer gewissen Zeit der Eingewöhnung haben sich die meisten unserer neuen Schülerinnen und Schüler hier sehr wohl gefühlt und denken später gerne an ihre Zeit bei uns zurück. Das bestätigen die Ehemaligen auf ihren jährlichen Zusammenkünften hier im Haus immer wieder. So Klaus, jetzt bist du dran!“
„Ja, danke Iris, also wir gehen jetzt in euren Klassenraum und dann schau‘n wir mal.“ Der Unterrichtsraum für die Neunte Klasse befand sich auf der gleichen Etage. Dort fanden sie sieben Schreibtische vor, die in einem großen Kreis aufgestellt waren. „Am besten ihr lauft ein paar Mal hier herum und setzt euch irgendwann einfach auf den Platz, der euch gefällt.“ „Eh, Moment mal und wo sitzen Sie?“, fragte Marit. „Ich setze mich an den Tisch, der frei bleibt. Ihr werdet es kaum glauben, aber das ist meist immer derselbe Platz.“
Zögernd setzte sich die kleine Gruppe in Bewegung. Nur Moritz nahm sofort an einem Tisch Platz, von dem er gut aus dem Fenster sehen kann. Marit wählte den Schreibtisch rechts von ihm. Daneben möchte Valerie sitzen. Johannes entschied sich für den Tisch links von Moritz, dann kommt Gino und neben ihm Leyla. Der Lehrertisch steht also zwischen Valerie und Leyla.
„Ich denke, ihr habt alle eine gute Wahl getroffen, wenn nicht, könnt ihr auch jederzeit die Plätze tauschen. Dann beginnen wir mal. Also ich bin Klaus Ferber, euer Klassenlehrer und für dieses Jahr auch als Vertrauenslehrer der ganzen Schule gewählt, das habt ihr ja schon gehört. Die Fächer, die ich unterrichte, sind euch aus den Unterlagen bekannt. Wie Frau Kern schon erwähnte, wohne ich hier im Haus und bin für alle sozusagen Tag und Nacht zu sprechen. Nachts natürlich nur in wirklichen Notfällen, da bitte ich um euer Verständnis.“ Während er schelmisch in die Runde blickte, konnten sich Marit und Valerie ein hintergründiges Lächeln nicht verkneifen. Ferber registrierte es amüsiert. „Habt ihr Lust, euch auch ein wenig vorzustellen?“
Alle nickten mehr oder weniger erfreut und die Hand des Lehrers wies einladend auf Johannes. Der begann zögernd zu sprechen: „Also ich bin der Johannes und komme aus Stuttgart. Ich bin 15 Jahre alt. Meine Eltern sind beide sehr beschäftigt, deshalb haben sie nicht genügend Zeit, sich um mich zu kümmern, sagen sie, und darum bin ich hier. Ich konnte unter 3 Internaten aussuchen und habe mich für dies hier entschieden, weil ich den Bodensee von den Ferien her kenne und ihn sehr mag.“
Johannes blickte hinüber zu Moritz und der sagte: „Ich bin Moritz und komme aus Berlin. Meine Mutter ist vor langer Zeit gestorben, als ich noch klein war, mein Vater ist Flugkapitän. Ich wohnte allerdings bei einer Tante von mir, das war bisher eigentlich ganz o.k., doch die wird jetzt nach Kanada versetzt und naja, darum bin ich hier.“
Dann schaute er fragend zu Leyla hinüber. Die verschränkte angespannt ihre Finger ineinander, atmete tief durch und fing leise an zu sprechen: „Ja, ich bin also die Leyla, wir wohnten zuletzt in Freiburg. Meine Eltern sind viel unterwegs und darum musste ich ständig die Schulen wechseln. Das fand ich nicht so gut, außerdem sind meine Zensuren dadurch auch nicht so besonders. Ich will aber ein gutes Abitur machen und deshalb möchte ich für die nächsten Jahre hier bleiben.“
Nachdem Gino seine Geschichte erzählt hatte, ermunterte Herr Ferber auch Valerie kurz etwas über sich zu sagen. „Ich komme aus München. Meine Eltern leben nicht mehr zusammen und ich war es leid, andauernd zwischen den beiden hin und her zu pendeln. Außerdem konnte ich ihre ständigen Streitereien nicht mehr ertragen. Ich habe deshalb selbst darum gebeten, in ein Internat gehen zu dürfen. Und wie Johannes kannte ich den Bodensee auch aus den Ferien. Die Gegend hier gefällt mir sehr.“
„Und Marit?“ Aufmunternd und neugierig blickte der Lehrer auf das Mädchen mit den kurzen blonden Haaren. „Ich komme aus Kiel, aus der Sicht meiner Eltern hatte ich dort die falschen Freunde kennengelernt und deshalb sollte ich von da weg. Mir fällt es nicht leicht, hier zu sein, so weit weg von Zuhause, das merke ich jetzt schon, aber ich will mir Mühe geben, mich einzuleben.“ Man merkte dem Mädchen deutlich an, dass es sich kurz fassen wollte.
„Och, das wird schon, da bin ich mir sehr sicher“, sagte Herr Ferber freundlich und auch die anderen Fünf nickten Marit aufmunternd zu. „Habt ihr im Moment noch Fragen?“ Als sich keiner meldete, fuhr Herr Ferber fort: „Wie ihr bemerkt habt, liegt auf jedem Schreibtisch ein Notebook. Das ist von jetzt an euer Begleiter für die Unterrichte. Wahrscheinlich schon gegen Ende dieses Jahres werden wir auf Tablets umstellen, denn es sind viele interessante und nützliche Apps bereits vorhanden und weitere in der Entwicklung, die uns das Lehren und euch das Lernen mit toller Software stark vereinfachen können und eins kann ich euch jetzt schon versprechen: Der Spaßfaktor beim Lernen wird steigen. Herkömmliche Schulbücher werden wir dann kaum noch brauchen, aber auf Block und Bleistift werdet ihr nicht verzichten können.“
Dann begann der Lehrer mit einer kurzen Einweisung in den Gebrauch der Computer. „Falls euch irgendetwas nicht klar ist oder ihr Hilfe braucht, um die Geräte richtig zu bedienen, fragt bitte gleich, dann klären wir das sofort hier im Unterricht. Scheut euch aber nicht, eure Mitbewohner, die ja auch eure Paten sind, auszufragen. Normalerweise müsste denen ziemlich alles bekannt sein, was man braucht, um damit klar zu kommen. Sie wissen, dass das Prinzip der Hilfsbereitschaft hier unser Programm ist, ich kenne sie alle und ich bin sicher, dass sie euch gerne helfen werden.“ Neugierig und gespannt sitzen die sechs nun vor den aufgeklappten Notebooks. Als Gino zu Leyla hinüber blickte, sah er sie mit rotem Kopf vor dem Gerät sitzen. In der ersten Pause sprach er sie deshalb an: „Ich helfe dir gerne, wenn du mit dem Computer Schwierigkeiten hast.“ „Das ist ganz lieb von dir, Gino, denn ich habe wirklich kaum einen Schimmer von so einem Gerät.“ „Wir setzen uns jeden Abend eine Stunde zusammen o.k.? Dann schaffen wir das schon.“ „Aber wir wollen uns doch auch um den Garten kümmern!“ „Das mit dem Notebook ist jetzt erst mal wichtiger, dann kommt der Garten, alles klar?!“ Das Mädchen nickte jetzt sehr erleichtert.
Als die Pause beendet war, erklärte Herr Ferber: „Leute, ihr habt ja gehört, dass Leyla mit ihren Eltern sehr viel auf Reisen war. Da musste der Umgang mit dem Computer ja einfach auf der Strecke bleiben, ist doch klar. Deshalb biete ich dir, Leyla an, dich direkt neben einen der anderen zu setzen, um erst einmal zusammen zu lernen, willst du?“ Leyla lächelte dankbar, nahm ihr Notebook und rückte mit ihrem Stuhl hinüber an Ginos Schreibtisch. Als die anderen Schüler nach dem Unterricht zum Mittagessen hinunter gingen, blieb Leyla noch im Klassenraum und sagte: „Danke, Herr Ferber, das ist sehr freundlich von ihnen gewesen.“ „Das ist doch selbstverständlich, aber sag mir auch, wenn es mal ein Problem gibt, von dem ich nichts mitbekommen habe, o.k.?“ Leyla nickte froh und folgte dann den anderen nach unten in das Casino. Dort setzten sich die neuen Schüler zusammen an einen der größeren Tische. „Der Ferber ist ja irgendwie cool, oder?“, fragte Marit in die Runde. „Ja, er scheint ganz witzig zu sein“, erwiderte Valerie, „ich bin ja mal gespannt auf die anderen Lehrer.“
Die Jungs tauschten sich inzwischen aus über die technischen Ausstattungen der PC`s, über die neue Lernsoftware und natürlich über die angesagtesten Computer-Spiele. Mit diesem ersten Tag schienen alle sehr zufrieden zu sein. Gino und Leyla verabredeten sich für abends um 7 Uhr zu ihrem Treffpunkt, der Bank hinter dem Geräteschuppen.
Als sie sich zur vereinbarten Zeit dort trafen, war Gino ehrlich gesagt, ziemlich erstaunt, dass Leyla fast nichts über den Umgang mit dem Notebook weiß. Aber er stellte ihr keine großen Fragen, freute sich aber darüber, dass sie eine gute Auffassungsgabe hatte und ziemlich schnell lernte. Sie beschlossen, dass sie sich am Vorabend immer den Unterrichtsstoff für den nächsten Tag ansehen wollen. Leyla war heilfroh, dass sie so schnell einen guten und geduldigen Freund gefunden hat. Nach dem Lernen gingen sie durch den Garten. „Weißt du, was ich hier noch nicht gesehen habe?“, fragte Leyla, und sprach gleich weiter, als Gino verneinte. „Ein Beet mit Heilkräutern.“ „Was für Heilkräuter denn? So Küchenkräuter wie Schnittlauch, Petersilie, Minze und verschiedene Sorten Basilikum zum Beispiel gibt es aber da vorne irgendwo.“ „Naja, ich meine zum Beispiel solche, die gegen Erkältung helfen oder bei Verletzungen, Durchfall oder Unwohlsein.“ „Kennst denn welche?“ „Na klar, also zumindest einige. Es gab doch so Heilkundige wie Hildegard von Bingen zum Beispiel, die hat damals für viele Krankheiten das herausgefunden, was gut hilft. Man braucht nicht immer unbedingt die Chemiesachen aus der Apotheke, es wächst fast alles in der Natur. Meine Großmutter hat mir da viel beigebracht. Sie hat immer gesagt, gegen jede Krankheit ist ein Kraut gewachsen.“ „Du, das wäre ja toll, wenn du deine Heilkräuter hier anbauen könntest und ich meine Kartoffeln!“ Die beiden verabschiedeten sich später fröhlich und im Treppenhaus rief Leyla: „Gino!“ Als der sich umdrehte, sagte sie leise: „Danke!“ Dann gingen beide gut gelaunt und zufrieden mit diesem Tag auf ihre Zimmer.
Im Laufe der nächsten Tage und Wochen lernten die sechs Neuen auch alle anderen Lehrer kennen. Auf den ersten Blick besonders beliebt waren Constanze Frey, die Sport- und Naturwissenschaften lehrte und Alice Wilson, die Lehrerin für Englisch, Französisch und Geschichte. Hinzu kamen noch eine Reihe Fachlehrer für Informatik, Wirtschaft, Sozialkunde Kunst, Hauswirtschaft, Werken und Technik sowie für weitere Sprachen wie Spanisch und Latein. Die Tage waren zwar sehr ausgefüllt, aber irgendwie kam es den neuen Schülern vor, als ob das Lernen hier einfacher war als zu Hause. Von den Lehrkräften wurden sie wie Partner behandelt, mit denen zusammen definierte Aufgaben zu erledigen waren von den einen als Lehrende und von den anderen als Lernende. Um die anfallenden Projekte erfolgreich zu bewältigen, war diese Gemeinschaft von Lehrern und Schülern zusammen mit den Paten täglich immer wieder aufs Neue gefordert, ihr Bestes zu geben.
Wie besprochen, trafen sich Leyla und Gino jeden Abend. Das Mädchen hatte ziemlich schnell gelernt mit dem Computer umzugehen und die Lernprogramme einfach so anzusehen, als wenn sie in einem Buch stehen würden. Schnell verstand sie die Vorteile des Rechners bei der Bewältigung ihrer Aufgaben zu nutzen. Speicherung von Texten, Abfragen im Internet, moderne Kommunikation in den sozialen Netzwerken und natürlich auch Spiele zur Entspannung gingen ihr immer leichter von der Hand. Sie war so froh, in Gino einen „Lehrer“ gefunden zu haben, der ihr auf seine ruhige, ausgeglichene Art alles Nötige beibrachte oder vertiefte. Auch Marlene, ihre Patin und Mitbewohnerin half ihr sehr, sobald sie gebraucht wurde.
Inzwischen hatte Leyla sich Gino anvertraut, dass sie aus einer Sinti-Familie stammt und gar kein festes Zuhause hatte. Ihre Eltern gehören sozusagen zum „Fahrenden Volk“, wie es landläufig bezeichnet wird „zu Zigeunern“ wie sie traurig sagte. Sie haben noch nicht einmal eine Staatsangehörigkeit und ihr Aufenthalt wurde von den deutschen Behörden immer nur befristet geduldet, die Genehmigungen auch nur wegen der historischen Verpflichtung immer wieder verlängert. Sie wurde als einziges Mädchen von ihrer Großfamilie ausgewählt, Abitur zu machen, um später studieren zu können. Sie möchte entweder Juristin werden oder in die Politik gehen. In beiden Berufen sieht sie nämlich gute Möglichkeiten, etwas für Menschen ihrer Herkunft zu bewirken. Alle Verwandten legen monatlich Geld zusammen, um Leyla den Besuch dieses teuren Internats zu ermöglichen. Gino konnte nur staunen über diese Einblicke in eine ihm fremde Welt, von der er in seinem bisherigen Leben in einer wohlhabenden Schweizer Familie kaum etwas wahrgenommen hatte.
Eines Tages fragte er sie: „Hast du Lust am Wochenende mitzukommen und meinen Opa zu besuchen, ich denke, er würde sich freuen.“ „Wenn du willst komme ich natürlich gerne mit, aber glaubst du denn, ich bin auch willkommen?“ „Warum denn nicht, schließlich bist du meine beste Freundin. Er ist total gut drauf, weißt du, der ist auch irgendwie anders als die anderen.“ „Ältere Leute haben aber oft Probleme mit uns.“ „Wie meinst du das?“ „Naja von wegen Zigeuner und so, die Vorurteile eben. „Mein Opa hat die nicht, das garantier‘ ich dir!“ Gino nahm das Handy und rief seinen Großvater gleich an, um ihm zu sagen, dass er und seine Freundin am Sonntag zu Besuch kommen würden, wenn es passt. „Ihr könnt gerne kommen, ich erwarte euch zum Mittagessen.“ Trotz des kurzen Gesprächs hatte der Junge das sichere Gefühl, dass der alte Mann sich auf den Besuch freute. „Und der kocht, du wirst staunen, allerdings gibt es kein Fleisch bei ihm, soviel ich weiß. Aber was Opa bisher auch immer zubereitet hatte, es schmeckte alles köstlich!“
Kaum hatte er ausgesprochen, rief seine Mutter an. „Gino, wie ist es, wie geht es dir? Ich möchte dich am Sonntag besuchen.“ „Du, das geht nicht, ich bin verabredet, wir gehen zu Opa.“ „Wir?“ „Ja meine Freundin Leyla und ich, Opa freut sich und will für uns mittags etwas kochen.“ „Ach schade, das passt mir jetzt nicht so, ehm – ich meine mit Opa und so. Aber gut, ich verschiebe meinen Besuch auf ein anderes Wochenende. Da du dich nicht bei mir meldest, scheint es dir ja ziemlich gut zu gehen, oder?“ Gino berichtete seiner Mutter von den Unterrichten und dass hier alles prima läuft. Im Herbst bekommt er auch einen kleinen Kartoffelacker, wo er seine ‚Gokno‘ anbauen darf.
Am Ende des Gesprächs schaute Leyla ihn mit großen Augen entgeistert an, als sie fragte: „Du sagst deiner Mutter einfach ab, das geht?“ „Ja, wieso denn nicht, wir beide waren doch schon verabredet.“ „Du hast deine Mutter gar nicht gefragt, wie es ihr geht.“ „Ja das stimmt, denn innerlich bin ich noch ein wenig sauer auf sie und meinen Vater. Obwohl, ich sollte es als Glücksfall betrachten, dass sie mich hierher geschickt haben.“ „Wieso das denn jetzt auf einmal?“ „Weil es mir hier immer besser gefällt – und …“ „Und?“ „Und - weil ich dich sonst wahrscheinlich nie und nimmer kennengelernt hätte.“ Leyla lächelte verlegen, aber glücklich und küsste ihren Freund zärtlich auf eine Wange, während er seine Arme um sie legte und sie fest an sich drückte.