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Blau

Was wir wissen, ist ein Tropfen;was wir nicht wissen, ein Ozean

Isaac Newton, Englischer Physiker,
Mathematiker und Astronom (1643 - 1727)

Jener verhängnisvolle Tag war bis dahin ein ganz gewöhnlicher Arbeitstag gewesen, der 144ste, ohne außerplanmäßige Tätigkeiten oder bemerkenswerte Vorkommnisse. Gegen Abend hatte er sich an seinen Lieblingsplatz, in die Cupola, zurückgezogen, um das Tagesgeschehen zu reflektieren und in seinem Tagebuch festzuhalten. Das kleine, in schwarzes Leder gebundene Buch, war einer der wenigen persönlichen Gegenstände, die er hatte mitnehmen können. Seine Frau hatte es ihm zum Abschied geschenkt und eine Widmung hineingeschrieben, die er hin und wieder las. Entgegen seiner anfänglichen Erwartung nutzte er es mittlerweile regelmäßig. Mit der Zeit war es zu einer Art privatem Logbuch geworden, dem er nahezu täglich einen neuen Eintrag hinzufügte. Dabei ging es ihm nicht so sehr darum, das Erlebte für die Zukunft zu protokollieren. Vielmehr half ihm das Schreiben seine Gedanken im Hier und Jetzt zu sortieren und diese einzigartige Phase seines Lebens so bewusst wie möglich wahrzunehmen. Er rechnete nicht damit, dass er nach seiner Rückkehr häufig hineinschauen würde.

Doch wie schon oft fand er auch an diesem Abend den Einstieg nicht und mühte sich mit dem ersten Satz herum. War es die Müdigkeit nach einem prall angefüllten, straff durchorganisierten, zehnstündigen Arbeitstag? Nein, das konnte es nicht sein, denn war dieser erste Satz geschrieben ging ihm der Eintrag stets leichter von der Hand. Der erste Satz war wie eines der ersten Teile in einem Puzzlespiel, schwierig, aber wenn gelegt, gab es immer Anknüpfungspunkte für die nächsten. Vielleicht war es auch ein gewisser Unwille, sich mit bereits Vergangenem zu beschäftigen. Seine Gedanken bewegten sich in der Tat meist um unmittelbar anstehende Aufgaben oder waren auf die nahe Zukunft gerichtet. Aber es war wohl eher sein Hang zur Perfektion: Der erste Satz legte den Grundstein, gab seinen Gedanken Struktur, er war ein Kristallisationspunkt, um den herum sich der restliche Inhalt seines Eintrages zwanglos gruppieren und entwickeln konnte. Mit dem ersten Satz musste er einfach zufrieden sein.

Er spürte, wie seine Konzentration nachließ, immer wieder schweiften seine Gedanken ab. Der grandiose Ausblick aus den Panoramafenstern der Cupola tat ein Übriges. Wie immer, wenn er sich in der Cupola aufhielt, musste er daran denken, wie privilegiert er war, diesen Ausblick genießen zu dürfen. Sicher, er hatte sich seine Chance hart erarbeitet, aber nicht zuletzt war eine Reihe von Faktoren im Spiel gewesen, die er nicht durchweg hatte beeinflussen können. Und ohne die fortwährende Unterstützung durch seine Familie hätte er es nie geschafft. Das Gefühl der Dankbarkeit, welches ihn an diesem Ort oft erfüllte, hatte er entsprechend schon mehrfach in seinem Logbuch festgehalten.

Schließlich schaffte er es, ein paar Zeilen über eines seiner Experimente zu schreiben, an dem er die meiste Zeit des Tages gearbeitet hatte. Kein sonderlich origineller Eintrag, wie er sich eingestehen musste, aber das Ergebnis des Experimentes war unerwartet gewesen, hatte zu einigen Diskussionen geführt und damit den Tag in der Tat ein wenig geprägt.

Als er aber in einer Schreibpause aufblickte, zog unter ihm ein Anblick vorbei, der seine Aufmerksamkeit sofort und vollständig fesselte:

Dieses Blau war absolut atemberaubend!

An seinen Rändern ins Hellblaue, Weiße oder Grünliche changierend, war der mittlere Bereich der riesigen Fläche, auf die er hinunterblickte, von einem Blau, wie es keine künstlich gefärbte Fläche je hervorbringen konnte. Es war ein Blau, das durch räumliche Tiefe zustande kam und dessen dreidimensionale Natur nicht nur zu ahnen, sondern geradezu greifbar war. Er war unfähig, den Blick wieder abzuwenden und vergaß den ohnehin etwas faden Eintrag ins Tagebuch. Stattdessen ließ er dieses magische Blau auf sich einwirken, stellte sich vor, wie es wäre, darin einzutauchen. Es erinnerte ihn seltsamerweise an seine Kindheit, die er in einer deutschen Kleinstadt verbracht hatte. An einen der klaren Spätsommertage, an denen er nach dem Fußballspiel auf dem Rücken im Gras liegend in das Blau eines wolkenlosen Himmels geschaut hatte. Ja, blau war die Farbe, die er mit seiner Kindheit verband, warum wusste er nicht so genau. Es war eher ein vages Gefühl, das sich in seinen Erinnerungen kristallisiert hatte, ähnlich etwa wie der Geruch der Ledertasche, in der er immer seine Pausenbrote und das Obst für die Schule mitbekommen hatte.

Wie durch das tiefe Blau unter ihm hervorgerufen, kamen und gingen diese Erinnerungen nun in loser Folge. Er sah sich mit Freunden durch die Gassen zwischen alten Fachwerkhäusern streunen, im Freibad toben oder an Sonntagen im Stadtpark Garten-Schach spielen. Er sah vor seinen Augen die Kirchtürme, die sich in einen natürlich blauen Himmel reckten und das Stadtbild dominierten. Diese Erinnerungen waren so tief wie das Blau, auf das er herunterschaute, und gelangten nur sehr selten an die Oberfläche. Während ihm die Augen vollends zufielen, war ihm, als könne er nun sogar die Schläge der Kirchenglocken vernehmen, die - niemals synchron - die halben und vollen Stunden ankündigten, oder an Sonntagen zum Gottesdienst riefen. Aber noch während sich sein Körper entspannte, begann sein Unterbewusstsein Dissonanzen zu registrieren: Irgendetwas stimmte nicht! Wachsam geworden entschied es, dass bewusste Aufmerksamkeit erforderlich war, und holte ihn unsanft aus seinen Träumereien zurück. Innerhalb von Sekundenbruchteilen war er hellwach und realisierte, dass er statt Glockengeläut die Alarmsirene seiner jetzigen Heimstatt, der „„International Space Station““, der ISS hörte, deren durchdringender Ton unmissverständlich klarmachte, dass seine besinnliche Zeit in der Cupola zu Ende war.

Er warf noch einen letzten Blick durch die Panoramafenster und sah, wie die blaue Fläche des Pazifiks unvermittelt einer braungrünen Landmasse wich, die im küstennahen Bereich von mäandernden Flussdeltas wie von schmutzig-schlammfarbenen Adern durchzogen wurde. Dann riss er sich los und schob sich mit perfekt eingeübtem Bewegungsablauf durch die Schleuse ins Tranquility-Modul, um sich auf den Weg zur restlichen Crew zu machen. Dort würde er erfahren, was passiert war. Vielleicht ein Fehlalarm oder wieder mal eine unangekündigte Übung. Allerdings fühlte er eine dumpfe Vorahnung in sich aufsteigen, dass es diesmal ein ernsterer Anlass sein könnte.

Er würde es bald wissen!

Immerhin, dachte er noch, würde er seinem kleinen Logbuch nun vielleicht doch noch etwas mitzuteilen haben...

Im Bereich des Unmöglichen

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