Читать книгу Im Bereich des Unmöglichen - Cees. A. Vandersahr - Страница 7

Aus der Tragödie
Hercules Furens 1“ Vers 437 Lucius Annaeus Seneca, Römischer Politiker, Naturforscher, Philosoph und Schriftsteller (ca. 1 - 65 n. Chr.)

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Am frühen Morgen wurde Markus von Musik geweckt. Er fühlte sich unausgeschlafen, was angesichts der Aufregung des gestrigen Tages und von lediglich fünf Stunden Schlaf kein Wunder war. Aber die Erwartung dessen, was an diesem Tag vor ihm lag, weckte rasch seine Lebensgeister. Die Musik, die aus den Lautsprechern der Station klang, tat ein Übriges. Auf der ISS gab es eine lange Tradition, die Crew mit Musik zu wecken. Die Musikstücke wurden jeweils von den Bodencrews ausgewählt und variierten von Klassik, über Jazz und Blues bis hin zu Hardrock. Das Ganze hatte mittlerweile sogar schon einen gewissen Kultstatus erlangt. Im Internet kursierten lange Listen mit Musiktiteln, die auf vorangegangenen Missionen gespielt worden waren. Die heutige Musik war passenderweise „Hard Knocks““, ein Song von Joe Cocker. Markus war sicher, dass Richard an der Auswahl maßgeblich beteiligt war, konnte er sich doch erinnern, dass Richard ein Joe Cocker Fan war.

Josh gähnte und grinste: »Ich hätte „„Who let the dogs out““ oder sowas erwartet.« Markus befreite sich aus seinem Schlafsack und stellte die normale Lichtstärke wieder her. Sie setzten die Sauerstoffmasken auf und leiteten die Erhöhung des Drucks in der Schleuse ein. Für diesen Zweck waren auf der Oberseite des Quest-Moduls riesige Hochdrucktanks für Sauerstoff und Stickstoff befestigt, aus denen jetzt das Gas in die Ausrüstungsschleuse strömte und den Druck allmählich auf den Normwert von einem Bar anhob. Anschließend öffneten sie die Luke und verließen die Quest-Schleuse. Nach einer diesmal eher dürftigen Morgentoilette begaben sie sich zum Briefing hinüber ins Swesda-Modul.

„»Da kommen unsere beiden hübschen EVAs, guten Morgen!«,“ begrüßte sie Kathy, die wie die anderen drei bereits mit dem Frühstück beschäftigt war.

»Wie war die Nacht?«, fragte Josh, während er sich umgehend daran machte, sich einen Kaffee zuzubereiten. »„Irgendwelche besonderen Ereignisse?“«

»Guten Morgen, Ihr beiden, wir hatten keine weiteren Schwierigkeiten heute Nacht, sieht so aus als stünde Eurem kleinen Ausflug heute nichts im Wege“«, erwiderte Aleksei mit einem Lächeln. „»Wir haben die Ausrichtung der Station nach Anweisungen der Bodenstation in der Nacht leicht korrigiert. Richard war übrigens die ganze Zeit über im Einsatz, er hat sich jetzt schlafen gelegt“.«

Markus prüfte seine Kollegen mit einem Blick. Es war eine kurze Nacht für alle gewesen, Josh und er selbst hatten noch den meisten Schlaf bekommen. Die Gesichter wirkten müde, aber nicht erschöpft. Er selbst verspürte mittlerweile kaum mehr Müdigkeit, stattdessen hatte er großen Hunger. Er nahm die Sauerstoffmaske ab und begann ebenfalls mit dem Frühstück.

Einige Minuten später eröffnete Houston das Briefing und stellte den Zeitplan vor. Ihr CAPCOM für den Tag war Lynn Walters, die zum Reserveteam gehörte und sich derzeit auf die Mission 62/63 vorbereitete. Ihre helle Stimme mit einem leichten Südstaatenakzent kam aus den Lautsprechern der Station:

„»Guten Morgen, hier spricht Lynn Walters, ich hoffe Ihr habt die Ereignisse des gestrigen Tages gut verdaut und seid bereit für Euren Außeneinsatz. Ziel dieser EVA ist es, möglichst umfassend in Erfahrung zu bringen, welche Schäden der Einschlag an der Station verursacht hat. Und hier kommt Euer Zeitplan für den heutigen Tag:

Um UTC 08:00 begeben sich Markus und Josh zurück in die Joint Airlock. FLIGHT hat angeordnet, dass Ihr weitere vier Stunden reinen Sauerstoff atmen sollt. Die Unterdruck-Phase war diesmal nur etwa sechs Stunden lang, Ihr müsst also nachsitzen“.«

Markus nickte. Je länger die für die EVA vorgesehenen Crew-Mitglieder bei Unterdruck verbrachten, desto kürzer konnten die Phasen sein, in denen reiner Sauerstoff eingeatmet werden musste, um den restlichen Stickstoff im Blut gegen Sauerstoff zu ersetzen.

»„Gegen 12:00 könnt Ihr mit dem Anlegen der Anzüge beginnen, um 13:00 erfolgt dann der Ausstieg. Wir planen eine sorgfältige Erfassung aller Schäden an der ISS, wir gehen davon aus, dass der Einsatz etwa fünf Stunden dauern wird. Wir werden Euch vom Boden aus dirigieren. Wir müssen darauf hinweisen, dass für diesen Einsatz ein erhöhtes Risiko besteht. Markus, Josh, ich nehme an, dass Ihr das bereits realisiert und abgewogen habt. Im Übrigen wäre es wahrscheinlich risikoreicher nicht zu überprüfen, welche Schäden die Kollision bewirkt hat. Ihr beginnt den Einsatz mit der Inspektion der Quest-Schleuse und dann in dieser Reihenfolge des Unity-Verbindungsmoduls und des „„Destiny““ („„Vorsehung““)-Labors“.«

Markus und Josh machten sich entsprechende Notizen.

„»Anschließend begebt Ihr Euch direkt hoch zum S0-Segment der Stützstruktur. Von den Aufnahmen her, die uns die Außenkameras liefern, vermuten wir hier den primären Einschlagsort. Uns interessiert der Zustand des S0-Moduls, des mobilen Transporters, des Canadarm2 und der Versorgungsleitungen. Insbesondere müssen wir Klarheit darüber bekommen, ob die Stabilität der Stützstruktur weiterhin gewährleistet ist. Wenn Ihr die Untersuchungen abgeschlossen habt, begebt Ihr Euch an der Stützstruktur entlang steuerbordseitig bis zum S6-Stützsegment. Anschließend wechselt Ihr zur Backbordseite. Wir wissen bereits, dass die Sonnensegel am P6-Segment getroffen wurden. Wir müssen aber wissen, ob weitere Module betroffen sind. Danach kehrt Ihr zum Destiny-Modul zurück und legt eine Pause von fünfzehn Minuten ein. Anschließend geht es rüber zum internationalen Teil der Station. Uns interessiert, ob an der Außenhaut der unter Druck stehenden Module gravierende Schäden zu beobachten sind. Zum Schluss inspiziert Ihr den russischen Teil der Station, wo Ihr Euch bitte die restlichen unter Druck stehenden Module, sowie die Sojus-Kapseln und den Progress-Transporter genauestens anseht.

Ihr bleibt zusammen und arbeitet immer zu zweit, einer sichert und hält Ausschau nach Trümmerteilen. Lose Teile oder frei schwebende Trümmerteile in Eurer Reichweite sammelt Ihr besser ein, wir vermuten aber, dass es um die Station herum kaum mehr welche geben dürfte. Der Einsatz heute dient ausschließlich der Schadensaufnahme. Ihr braucht also keine Werkzeuge mitzunehmen. Dagegen benötigt Ihr Eure Kamera-Ausrüstungen, wir möchten hier in den Bodenstationen genau sehen, was Ihr sehen werdet. Die Schäden müssen fotografiert, kartiert und vermessen werden. Zudem werdet Ihr die SAFER-Steuereinheiten anlegen, Euer Aktionsradius wird heute sehr groß sein, es handelt sich schließlich nicht um einen Routineeinsatz“.

»Na, sie werden Euch doch nicht etwa von der Leine lassen?«,“ streute Kathy ein.

Lynn fuhr unbeeindruckt fort: »„Spätestens gegen 18:00 Uhr wird der Einsatz beendet, auch wenn die Schadenserhebung bis dahin noch nicht vollständig abgeschlossen sein sollte. Ihr kehrt in die Quest-Schleuse zurück, und wir werden nach dem Abendessen gegen UTC 19:00 ein Abschlussmeeting haben. Es versteht sich von selbst, dass das wissenschaftliche Programm und die Übungseinheiten heute entfallen“.« Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: „»Habt Ihr Fragen zu Eurem heutigen Arbeitsprogramm?“«

„»Was werden wir tun, sollte die Integrität der Stützstruktur nicht mehr gewährleistet sein?“«, fragte Markus.

Die Antwort kam prompt: „»Das werden wir entscheiden, wenn das ein Ergebnis der Überprüfung sein sollte“.«

Josh fragte: „»Warum ist der Einsatz auf nur fünf Stunden begrenzt?«“

»„Ihr habt gestern viel Stress gehabt und seid nicht komplett ausgeruht. Wir wollen kein Risiko eingehen“.«

Anatoli ließ sich vernehmen: „»Bleibt es bei der geplanten Ankunft des ATV in der nächsten Woche? Und bleibt der Missionszeitplan mit Rückkehr des ersten Teams in 32 Tagen unverändert?“«

»„Wir werden nach der heutigen Inspektion entscheiden, ob wir das ATV losschicken oder nicht. Bislang sieht FLIGHT keine Veranlassung den Missionsplan abzuändern, sprich zu verkürzen oder zu verlängern“.«

Grigorij wollte wissen, wann man mit den Familien sprechen könnte und bekam als Antwort, dass man einen Slot am Abend nach der Lagebesprechung dafür vorsehen würde. Dann erfuhren sie noch, dass die amerikanische Weltraumbehörde NASA und der russische Staatskonzern GK Roskosmos, eine Pressekonferenz für den morgigen Tag planten, für die noch eine separate Vorbesprechung anberaumt würde.

Als keine weiteren Fragen mehr gestellt wurden, schloss Lynn das Briefing mit den Worten: »„Markus, Josh, die Teams hier am Boden wünschen Euch viel Erfolg bei Eurem Einsatz! Wir sprechen uns spätestens wieder, sobald Ihr bereit zum Ausstieg seid“.«

Nach dem Frühstück wechselten Markus und Josh zurück in die Quest-Schleuse und legten die Sauerstoffmasken an. Sie senkten den Druck wieder ab, gingen noch einmal die Checkliste durch und besprachen den Arbeitsplan. Sie nutzten dazu einen tablet-PC, auf dem eine dreidimensionale Simulation der ISS erstellt werden konnte. Anhand dieser Simulation konnten sie sich Aufbau und Lage der einzelnen Module nochmals ins Gedächtnis zurückrufen und ihre vorgegebene Route virtuell durchlaufen. Zudem studierten sie die Lage der Sicherungspunkte, an denen sie ihre Sicherungsleinen befestigen würden. Als sie das Gefühl hatten, ausreichend gut vorbereitet zu sein, widmeten sie sich nochmals der Checklisten für die EMU-Anzüge und legten dann eine Ruhephase bis zum Start der unmittelbaren Vorbereitungsarbeiten ein. EMU-Raumanzüge waren komplizierte technische Wunderwerke, jedes Exemplar ein Miniatur-Raumschiff, das mehrere Millionen Dollar kostete und es Menschen gestattete, sich bis zu sieben Stunden in einem extrem lebensfeindlichen Umfeld aufzuhalten. Sie bestanden aus bis zu vierzehn verschiedenen Lagen aus Kunst-Fasern wie Nylon, Dacron oder Spandex. In diese Lagen waren Röhrensysteme eingebettet, die der Temperierung der Anzüge dienten, vorwiegend zur Kühlung, um die bei Bewegung entstehende Körperwärme abzuleiten und einen Hitzestau zu vermeiden. Durch Einleiten von Luft in eine Lage aus harnstoffbeschichtetem Nylon und druckresistentem Dacron konnte der Anzug vor dem Einsatz unter Druck gesetzt werden. Er enthielt zudem eine Schicht aus mehreren Lagen aluminierten Mylars, das gegen Mikrometeoriten schützen sollte. Gegen 12:00 Uhr begannen Josh und Markus mit dem Anlegen der Anzüge. Dazu zogen sie zunächst eine Art Windel aus einem besonders saugfähigen Material an, über die eine lange einteilige Unterwäsche angelegt wurde, welche das Kühl- und Ventilations-System beinhaltete. Danach kamen Kathy und Anatoli, um ihnen bei den weiteren Vorbereitungen zu helfen. Sie widmeten sich zunächst den Vorbereitungen der Helme und brachten eine Substanz auf die Sichtfläche auf, welche das Beschlagen verhindern sollte. Dann wurden ein wassergefüllter Trinkbeutel und ein Power-Riegel mit einem Nährstoff-Konzentrat angebracht. Letztere waren notwendig, um Dehydrierung und Unterzuckerung während des fünfstündigen Einsatzes zu vermeiden. Während der EVA konnte man bei Bedarf über einen in den Helm hineinragenden Plastikschlauch Flüssigkeit aufnehmen oder von dem mit essbarem Papier umgebenen Riegel abbeißen. Über der Sichtfläche des Helms wurde ein Aufsatz mit LEDs befestigt, sowie eine Helmkamera mitsamt Sender. Das Kommunikations-System mit Kopfhörern und Mikrofon war in eine Art Kappe eingebettet, die Josh und Markus auf die Köpfe setzten. Anschließend legten sie den unteren Teil des Anzuges an, während Kathy und Anatoli die oberen Teile vorbereiteten, die in Wandhalterungen eingespannt waren. Am linken Arm wurden ein kleiner Spiegel sowie eine Checkliste angebracht. Der Spiegel sollte die Sicht auf alle Bereiche des Bedien- und Kontrollmoduls an der Vorderseite des Anzuges erleichtern, wo die Beschriftungen praktischerweise in spiegelbildlicher Schrift aufgedruckt waren. Dann wurde das Oberteil an die Versorgungsleitungen der ISS angeschlossen. Das Primärsystem zur Lebenserhaltung war als eine Art Rucksack auf der Rückseite des Anzug-Oberteils angebracht und enthielt Vorrichtungen zur Sauerstoff-Versorgung, zum Entfernen von Kohlendioxid, Sicherheits- und Warnsysteme sowie Systeme zur elektrischen Versorgung und zur Kühlung. Josh und Markus konnten von unten in die harten Fiberglass-Schalen der Oberteile hineintauchen. Kathy und Anatoli halfen ihnen dabei, die beiden Handschuhe anzulegen und alle Anzugöffnungen sorgfältig zu verschließen. Die SAFER-Einheit wurde unter dem Rucksack des Lebenserhaltungs-Systems angebracht. Nach Anlegen des Helmes waren Markus und Josh in ihren Anzügen bereits vollständig an die Versorgungsleitungen der ISS angeschlossen. Ihre beiden Helfer widmeten sich dann einer Überprüfung der Dichtigkeit des Anzuges, indem ein leichter Überdruck im Anzug erzeugt wurde. Während die letzten Überprüfungen vorgenommen wurden, atmeten Josh und Markus nochmals reinen Sauerstoff, um das Blut von den letzten Spuren von Stickstoff aus der Atmosphäre der ISS zu befreien. Schließlich verabschiedeten sich Kathy und Anatoli und verließen das Quest-Modul. Nach dem Verschließen der Luke begann mit dem Abkoppeln der Anzüge von den Versorgungsleitungen der ISS die Endphase der Vorbereitungen. Das Lebenserhaltungs-System der Anzüge übernahm jetzt eigenständig die Versorgung. Josh und Markus wechselten in das Ausstiegsmodul der Schleuse, schlossen die Luke hinter sich und senkten den Druck zunächst auf 0,35 bar, dann auf 0,2 bar ab. Schließlich ließen sie die restliche Luft durch eine Klappe in der äußeren Schleusentür ab. Markus nickte Josh zu, sie gaben sich die Hand und Josh öffnete vorsichtig die äußere Schleusentür, die sie ins darunterliegende Nichts entlassen sollte. Sie waren bereit für eine Grenzerfahrung der besonderen Art, wie sie bislang nur sehr wenigen Menschen vorbehalten war.

Josh hängte seinen Sicherungshaken ein, sah sich zu Markus um und deutete als Zeichen, dass er fertig zum Ausstieg war, mit dem Daumen seines Handschuhs nach oben. Markus nickte und sagte in sein Helmmikrofon: »„Houston, wir gehen jetzt raus!“«

Lynns Stimme kam laut und klar aus den Kopfhörern: »„Verstanden, Markus, wir sehen Bilder aus Deiner Kamera, aber Joshs’ Kamera scheint noch nicht eingeschaltet zu sein“.«

Josh begann, an seinem Kontrollmodul herumzufingern. Markus kam ihm zu Hilfe, fand die Bedieneinheit an Joshs’ Brust, und kurz darauf meldete Lynn, dass Houston nun auch Bilder seiner Helmkamera empfangen würde. Markus konnte die Anspannung in Joshs’ Augen lesen, was vor einem Außeneinsatz generell, insbesondere aber vor dem ersten völlig normal war. Auch er selbst fühlte die Nervosität in sich. All das jahrelange Training und die Professionalität, die sie sich durch ihre Ausbildung erworben hatten, vermochten Angst und Nervosität lediglich in Schach zu halten. Zudem war eine gewisse innere Anspannung durchaus angemessen, denn sie schärfte die Sinne und erhöhte die Aufmerksamkeit. Immerhin waren sie im Begriff, sich in eine extrem lebensfeindliche Umgebung zu begeben, in der Fehler jederzeit tödlich sein konnten.

Josh zog sich von der offenen Ausstiegsluke zurück und deutete mit einer Geste an, dass er Markus den Vortritt lassen wollte. Markus klappte sein goldbedampftes Helmvisier herunter und klopfte Josh kurz auf die Schulter.

»„Also, gehen wir´s an!“«

Er hängte ebenfalls seine Sicherungsleine ein, zwängte sich an Josh vorbei zur Austrittsluke und schob sich vorsichtig, die Beine voraus, hinaus ins Nichts. Nachdem er die Luke vollständig verlassen hatte, versuchte Markus sich zu orientieren:

Nach unten fiel sein Blick direkt auf die Erde, die sich majestätisch unter der ISS hinwegdrehte. Einen Augenblick hielt er inne, um den gewaltigen Anblick in sich aufzunehmen. Direkt über ihm sah er auf die Ausrüstungsschleuse des Quest-Moduls, links und rechts mit den großen, kugelförmigen Hochdrucktanks für Sauerstoff und Stickstoff besetzt. Rechts oberhalb der Quest-Schleuse sah er einen Teil des großen US-Labormoduls Destiny, und daran angrenzend das neben Tranquility und Unity dritte Verbindungsmodul, das den Namen „„Harmony““ („„Harmonie““) trug. An Harmony hatten in früheren Jahren die Space-Shuttles angedockt. Danach war es zum Zielpunkt für besuchende „Dragon“- und „Cygnus“-Raumtransporter der privaten US-amerikanischen Unternehmen „SpaceX“ und „Orbital Sciences Corporation“ geworden. Ebenfalls zu seiner Rechten lag die große Röhre des europäischen Weltraumlabors „Columbus“, in dem sich sein regulärer Arbeitsplatz an Bord der ISS befand. Zu seiner Linken erstreckte sich der russische Teil der Station mit ihren größten Modulen Zarya, Swesda und Nauka.

Josh schickte sich an, ihm aus der geöffneten Austrittsluke zu folgen. Sie empfingen Lynns Anweisungen ohne jegliche Störgeräusche aus den Helmlautsprechern:

»„Bitte schaut Euch zunächst den Komplex Quest-Unity-Destiny an und untersucht ihn auf Schäden“.«

Markus bestätigte, dass er verstanden hatte, und bewegte sich vorsichtig an der Steuerbord-Seite der Quest-Schleuse weiter nach oben. Er begann mit der Inspektion der Außenhülle der Schleuse und suchte die Außenwand des Moduls sorgfältig nach Schäden ab, konnte aber keine feststellen. Er schaute sich um und wartete bis Josh ihn erreicht hatte. In den nächsten fünfzehn Minuten untersuchten sie die Steuerbordseiten des Verbindungsmoduls „Unity“ und des Destiny-Moduls. An keinem der Module des Komplexes konnten sie zunächst Schäden feststellen. Anschließend begaben sie sich gemäß Vorgabe von Lynn auf die Oberseite des Destiny-Segmentes.

Hier befanden sie sich nahezu im Zentrum der größten je von Menschenhand gefertigten Struktur im Orbit, deren Ausbau bis zur Endstufe sich über mehr als fünfzehn Jahre hinweg erstreckt und Schätzungen zufolge insgesamt mindestens 100 Milliarden Dollar verschlungen hatte.

Vor ihnen, in Flugrichtung der Station, lag der internationale Teil der Station, zu dem das Destiny-Modul gehörte. Die 8,5 Meter lange und 4,3 Meter breite, mit einem speziellen Mikrometeoritenschutz in der Wandung ausgestattete Röhre war bereits 2001 zur Station hinzugefügt worden. Sie beherbergte das US-amerikanische Forschungslabor, in dem Experimente zu Biologie, Ökologie, Erderkundung, Mikrogravitation und Materialwissenschaften durchgeführt wurden. An Destiny angrenzend folgte das Verbindungsmodul Harmony, an dem zur rechten Seite das europäische Forschungslabor Columbus und auf der linken Seite das japanische Forschungslabor „„Kibo““ („„Hoffnung““) angekoppelt waren. Kibo war der Beitrag der japanischen Weltraumbehörde JAXA zur Internationalen Raumstation und war mit mehr als elf Metern Länge eines der größten Module der ISS. Es bot vier Raumfahrern und einer Vielzahl von vorbestückten Containern, sogenannten „„International Standard Payload Racks“ Platz. Die sich scharf gegen den tiefschwarzen Hintergrund abhebende Achse Columbus-Harmony-Kibo bildete das Kopfende der Station. Von ihrer Position aus gesehen wirkte sie aber eher wie eine riesige Schwanzflosse. Am äußersten Ende der Station und mit dem Kibo-Modul verbunden gab es schließlich noch eine ausgelagerte Plattform für Experimente, die direkt den Bedingungen des Weltraumes ausgesetzt werden sollten. Über eine Materialschleuse konnte man Gegenstände mithilfe eines Roboter-Armes zwischen Plattform und Kibo-Modul hin und her transportieren. Hinter ihnen, also entgegen der Flugrichtung der Station, erstreckte sich der russische Teil der Station. Ein unter Druck stehendes Zwischenbauteil, der „Pressurized Mating Adapter“ (PMA), trug zum einen ein kleineres Modul„ mit dem Namen „Rassvet““ („„Morgenröte“). Zum anderen verband der PMA die Module Unity und Zarya, und damit den internationalen Teil der Station mit dem russischen. Zarya, welches 1998 zur ISS gebracht worden war, war das erste Modul der ISS gewesen. Es hatte die Stromversorgung für die ersten Bauarbeiten an der ISS sichergestellt. Jetzt wurde es vorwiegend als Lager- und Stauraum verwendet. Hinter Zarya folgte das Heck der Station, welches durch das Swesda-Modul gebildet wurde, in dem sie ihre letzten Briefings abgehalten hatten. An Swesda war das kleine Poisk-Modul angebracht. Zum anderen hatte hier erst vor Kurzem auch das große russische Forschungslabor Nauka seine Position gefunden. An den Modulen Poisk, Nauka und Rassvet befanden sich Docking-Stationen für Progress-Versorgungstransporter und Sojus-Raumschiffe. Poisk stellte darüber hinaus auch eine weitere Schleuse, von der aus Weltraumspaziergänge unternommen werden konnten. Vor Ihnen, senkrecht zur Flugrichtung, und weit nach rechts und links ausladend, erstreckte sich nun die mehr als einhundert Meter lange Stützstruktur, gleichsam das Rückgrat der Station, an dessen Ende sich die Träger für die riesigen, schwenkbaren Photovoltaik-Arrays befanden, die die Energieversorgung der Station sicherstellten. Sie hörten Lynn über leichtes Rauschen hinweg sagen: »„OK, dann wollen wir uns jetzt gleich mal S0 ansehen, ich kann Euch versichern: Die Bodencrews in Houston und Koroljow hängen an den Monitoren“.« Das S0-Modul bildete das zentrale Segment der Stützstruktur, war 13,5 Meter lang und mehr als zwölf Tonnen schwer und bestand aus einer Gitterstruktur mit insgesamt fünf einzelnen Buchten. Es war über mehrere ausfahrbare Teleskopstützen mit dem Destiny-Modul verbunden. An der Vorderseite trug S0 den sogenannten „mobilen Transporter“, eine Aluminium-Konstruktion, eine Art ferngesteuerte Draisine, die sich auf Schienen entlang der Stützstruktur bewegen konnte. Er war mit 2,7 Meter Länge und 2,6 Meter Breite nahezu quadratisch und etwa einen Meter hoch. Der mobile Transporter trug als Aufsatz das „mobile Basissystem“ (MBS) des „Canadarm2“, eines technischen Wunderwerkes aus Kanada, das bis auf achtzehn Meter ausgefahren werden konnte. Mithilfe des MBS und des mobilen Transporters konnte der Canadarm2 entlang der gesamten Stützstruktur bewegt werden und dadurch auf viele Bereiche der Station „zugreifen“. Dieser Roboter-Arm war beim Aufbau der Station eine unerlässliche Hilfe gewesen, und auch später noch konnten mithilfe dieses Kranes viele der Außenarbeiten durch Fernsteuerung aus dem sicheren Inneren der Station geleistet werden. Jetzt aber sah nichts von dem was Josh und Markus vor sich erblickten mehr so aus, wie es sein sollte. Sie hörten erschrockene Ausrufe aus der Station und in Englisch und Russisch durcheinanderredende Stimmen vom Boden, als sie die Einschlagstelle erreichten und ihre Kameras auf die Schäden richteten. Etwas hatte das mobile Basissystem, auf das der Canadarm2 mit mehreren Befestigungspunkten aufgesetzt war, mit ungeheurer Wucht getroffen und eine Schneise der Zerstörung nach innen geschlagen. Viele der massiven Querstreben waren einfach durchtrennt worden. Verbogene, teilweise scharfkantige Metallfragmente standen nach allen Seiten, und Vorsicht war geboten, um sich nicht die Anzüge daran zu beschädigten. Eine ursprünglich trapezförmige Abdeckung mit der Aufschrift „Canada“ war nach außen gebogen worden und die letzten drei Buchstaben waren nicht mehr vorhanden. Das Kamera- und Beleuchtungssystem war in Mitleidenschaft gezogen worden. Der unter dem MBS liegende mobile Transporter zeigte ebenfalls gravierende Schäden und würde nicht mehr zu gebrauchen sein. Auch zwei der wiederum darunter liegenden Segmente des S0-Moduls waren betroffen und eingebeult oder teilweise gespalten. Der Roboter-Arm selbst hatte im unteren Bereich mehrere schwere Treffer erhalten, und würde, so wie es auf den ersten Blick aussah, ebenfalls nicht mehr einsatzfähig sein. Sie inspizierten und protokollierten die Schäden an der Basis und am Roboter-Arm selbst. Die Bilder ihres Kamerasystems wurden ins Innere der Station und nach Houston und Koroljow übermittelt, sodass spätere Detailanalysen erfolgen konnten. Sie kamen überein, dass die Integrität des Aufbaus nicht mehr sicher gewährleistet war. Es würden weitere EVAs notwendig werden, in deren Verlauf Arm und Basis demontiert, oder zumindest gesichert werden mussten. Für den weiteren Betrieb der Station war der Ausfall des Roboter-Armes mit Sicherheit ein herber Verlust. Ob und wie man zu einem möglichen Ersatz kam, musste die Zukunft zeigen.

Josh schaute nach oben.„

»Das Geschoss muss etwa aus einem Winkel von 45 Grad zur Flugrichtung gekommen sein“«, sagte er mehr zu sich selbst. Markus beugte sich vorsichtig vor, um die etwa achtzig Zentimeter breite Schneise, die das Objekt geschlagen hatte mit seinen Helmlampen auszuleuchten. Richard lag richtig: Sie hatten ungeheures Glück gehabt! Wäre das Objekt direkt auf unter Druck stehende Habitate oder auf eine der Sojus-Kapseln getroffen, die Auswirkungen wären katastrophal gewesen. So aber hatten mehrere Lagen von Aufbauten, bestehend aus Roboterarm-Basis, dem mobilen Transporter und der Stützstruktur verhindert, dass darunterliegende Habitate durchschlagen wurden. Markus sah, dass sich mehrere Streben und Trümmerteile innerhalb der geschlagenen Schneise ineinander verkeilt hatten. Einige Leitungen im Innern des mobilen Transporters waren geborsten oder durchtrennt, die Enden lagen frei zwischen den verbogenen Metallstreben.

Markus zog den Kopf vorsichtig zurück, als er Lynn plötzlich sagen hörte:

»„Ah, Markus, warte mal einen Moment, kannst Du bitte nochmals hineinleuchten“?«

Markus beugte sich vorsichtig wieder vor, immer darauf achtend, nicht mit den spitzen Metallfragmenten in Kontakt zu kommen.

»Links unten!«,“ hörte er Kathy sagen.

Markus versuchte im Licht der Helmleuchten auszumachen, was Lynn und Kathy gesehen hatten. Er strengte seine Augen an, bis das Bild verschwamm, konnte aber im Wechsel aus Halbdunkel und Licht-Reflexionen nicht viel erkennen. Er schloss die Augen für einen Moment und verlagerte den Kopf etwas zur Seite. Als er die Augen wieder öffnete, sah er es sofort: Da war ein Bruchstück, das da nicht hingehörte. Er schätzte es auf etwa fünfunddreißig bis vierzig Zentimeter Länge, und vielleicht fünf bis sechs Zentimeter Breite. Die meisten Aufbauten in diesem Bereich waren weiß oder goldbeschichtet, oder aber von einer grauen Metallfarbe. Das Fragment, was Lynn und Kathy gleichzeitig in der Übertragung gesehen hatten aber war dunkler, und Markus meinte, Spuren einer rötlichen Farbtönung ausmachen zu können.

»„Ich sehe, was Ihr meint, ist das vielleicht ein Bruchstück des mobilen Transporters?“«

»Unsere Techniker diskutieren das gerade und analysieren die Bilder, die reinkommen, aber wenn ich das richtig interpretiere sieht es nicht so aus, als könnten sie es einfach zuordnen. Vielleicht gehört es ja auch zum Objekt, das Euch getroffen hat. FLIGHT möchte, dass Ihr es erst einmal da belasst, wo es ist, es sieht aus als wäre es verkeilt und damit sicher. Die Erfassung aller Schäden hat für Euch Priorität. Wenn Ihr die Untersuchung der restlichen Bereiche abgeschlossen habt, könnt Ihr versuchen das Fragment zu bergen, sofern dann noch Zeit dafür übrig ist“.«

Sie setzten ihre Inspektion gemäß der Anordnung der Bodenstationen fort, und kontrollierten als Nächstes die Verteiler für die Solarenergie an der Unterseite des S0-Moduls. Diese Verteiler waren für die Energieversorgung der Station unerlässlich und Markus und Josh waren erleichtert, sie intakt vorzufinden. Die teleskopartigen Verbindungsstutzen zum Destiny-Modul wiesen wie durch ein Wunder nur oberflächliche Schäden auf. Markus hörte Seufzer der Erleichterung über die Kopfhörer, konnte aber nicht zuordnen, ob sie von der Bodenstation oder von Bord der ISS kamen.

Von Lynn dirigiert bewegten sie sich vorsichtig von einem zum nächsten Befestigungspunkt für ihre Sicherungsleinen und achteten sorgfältig darauf, eine Verbindung erst dann zu lösen, wenn eine andere bereits angelegt war. Im Notfall hätten sie sich auch mit den SAFER-Einheiten auf ihren Rücken frei bewegen können, aber kein Crew-Mitglied ließ es während einer EVA je mit Vorsatz darauf ankommen. Im NASA-Jargon stand „„SAFER““ zwar für „Simplified Aid For EVA-Rescue““, übersetzt so viel wie „„Vereinfachte Hilfe zur Rettung bei Außeneinsätzen““. Allerdings war es überhaupt nicht einfach mit den SAFER-Einheiten zu steuern, und kaum ein Astronaut oder Kosmonaut hatte ausreichend Gelegenheit zur Übung unter schwerelosen Bedingungen gehabt. Die Sicherungsleinen waren deshalb notwendige mechanische und darüber hinaus auch psychologisch wichtige Verbindungen.

Sie krochen nun vorsichtig wie auf einem großen Kranausleger auf der Steuerbordseite der Stützstruktur nach außen. Sie sahen sich als Nächstes den großen Radiator am S1-Segment an. Er wurde über einen Kühlkreislauf mit Kühlmittel versorgt, welches überschüssige Wärme aus dem Innern der Station aufgenommen hatte. Der Radiator erzeugte eine große Fläche zur Abstrahlung überschüssiger Wärme. Sie konnten keine sichtbaren Schäden am Radiator erkennen. Dagegen mussten sie feststellen, dass das „Alpha Magnet-Spektrometer“ (AMS), welches auf dem S3-Segment thronte, einige schwere Treffer erhalten hatte. Dieser eineinhalb Milliarden Euro teure und mehr als sechs Tonnen schwere Detektor war seit seiner Installation im Jahre 2011 auf der Suche nach Antimaterie und der sogenannten „Dunklen Materie“, jener geheimnisvollen Unbekannten, die sich jeglicher direkten Beobachtung entzog. Grigorij hatte einmal versucht, Markus zu erklären, was es mit der Dunklen Materie auf sich hatte: Es sollte sich dabei um Materie handeln, die, anders als gewöhnliche Materie, keine elektromagnetische Strahlung aussandte oder reflektierte, und sich daher einer direkten Nachweisbarkeit entzog. Sie war zunächst als eine Art Korrekturfaktor postuliert worden, damit die Gleichungen der theoretischen Physiker und Kosmologen sinnvolle Ergebnisse liefern konnten. Das AMS sollte durch eine genaue Vermessung der kosmischen Strahlung Hinweise auf die Natur dieser Dunklen Materie liefern. Markus konnte sich noch daran erinnern, dass ihm am Ende der Lehrstunde einige nicht ganz ernst zu nehmende Ideen für die Verwendung Dunkler Materie in den Sinn gekommen waren. Tarnumhänge aus Dunkler Materie hätten sicher ein attraktives Marktpotenzial in der Gothic-Szene. In den zurückliegenden Jahren hatte das AMS jedenfalls Unmengen von Daten geliefert, genug um Heerscharen von Elementarphysikern auf der Erde auf Jahre hinaus beschäftigen zu können. Markus konnte nur hoffen, dass die gesammelten Daten bereits ausreichten, denn den sichtbaren Schäden zufolge sah es nicht so aus, als würde der Detektor weiterhin einsatzfähig sein. Anschließend nahmen sie die großen Solarpaneele unter die Lupe, die an den außen gelegenen Segmenten S5 und S6 ansetzten. Jedes dieser riesigen Paneele, die die Station wie eine gigantische Libelle wirken ließen, bestand aus zwei Flügeln mit 32.800 Solarzellen. Um eine Anpassung an die jahreszeitlichen Änderungen des Sonnenstandes zu ermöglichen, war die zentrale Achse der Flügel verstellbar. Ebenso konnten die Flügel als Ganzes so verstellt werden, dass sie stets einen optimalen Winkel zum Sonnenstand einnahmen. Die erzeugte Primärenergie wurde in Nickel-Wasserstoff Batterien geleitet, die in der Mitte zwischen den beiden Flügeln angeordnet waren. Diese Batterien übernahmen die Energieversorgung für die Phasen ohne Sonnenlicht. Ein weiterer seitlich abstehender Radiator leitete überschüssige Wärme ab, um die Batterietemperatur konstant zu halten. Die erzeugte elektrische Energie wurde zunächst in Form von 160 Volt Gleichstrom über Leitungen in den Stützsegmenten zu den Verteilern an der Unterseite des S0-Moduls geleitet, von wo aus sie - auf 124 Volt herunter transformiert - auf die verschiedenen Module der Station verteilt wurde. Markus und Josh konnten nur unbedeutende Schäden an den beiden Solarpaneelen feststellen.

Josh sah auf seine Uhr. Seit Beginn ihrer Eva waren bereits neunzig Minuten vergangen. Markus wagte einen Rundumblick und konnte nicht verhindern, dass ihm etwas flau im Magen wurde. Durch die Gitterstruktur hindurch nach unten sah er direkt auf die 360 Kilometer tiefer kreisende Erde, zu einer Seite sah er den Mond über der Erde aufgehen, nach oben sah er in die Unendlichkeit. Während er auf der Erde in lauen Sommernächten stundenlang in den Sternenhimmel starren konnte, verursachte es ihm hier leichten Schwindel und er konzentrierte sich wieder auf seinen Job. Vorsichtig drehten sie um und bewegten sich aus ihrer exponierten Lage wieder zur Stationsmitte zurück, um anschließend die Backbordseite der Stützstruktur zu inspizieren.

Hier fanden sie eine Reihe weiterer Schäden: Der Radiator am P1-Modul war offensichtlich von einem Bruchstück getroffen worden, aber nur einige wenige kleine Tropfen gefrorenen Ammoniaks, der Kühlflüssigkeit des Systems, schwebten um die getroffenen Stellen herum. Sie würden ihn auf einer der nächsten EVAs nochmals genauer inspizieren müssen, zunächst aber bot das Bild keinen Anlass zu unmittelbarer Besorgnis, was auch von den Bodencrews bestätigt wurde.

Dagegen waren an den außen am P5- und am P6-Segment angebrachten Solarpaneelen größere Flächen zerstört worden, an einem war auch die Zentralachse betroffen, sowie eine der Batterien. Hier würden aufwendige Reparaturarbeiten notwendig werden, um die Energieversorgung der Station wieder vollständig abzusichern. Markus und Josh bewegten sich wieder zur Mitte der Station, wo sie eine kurze Pause einlegten, in der sie von ihren Power-Riegeln abbissen und über den in den Helm hineinreichenden Trinkhalm Flüssigkeit zu sich nahmen. EVAs waren nicht nur psychisch, sondern auch physisch extrem anstrengend, da die Anzüge jeder Bewegung einen Widerstand entgegensetzten, der mit Kraft überwunden werden musste. Sie nutzten die Zeit, um mit Lynn und der restlichen Crew den weiteren Verlauf des Außeneinsatzes zu besprechen. Nach zehn Minuten setzten sie Ihre Inspektion fort und konzentrierten sich nun wieder auf den internationalen Teil der Station. Auf der Backbordseite des Destiny-Moduls fanden sich mehrere Kollisionsspuren, aber insbesondere an den Modulen Tranquility und Leonardo sowie an der Rückseite von Kibo waren tiefe Kratzer und Beulen, die sie vermaßen und filmten. An einigen Stellen sah die Außenhaut dieser Module wie eine eingedrückte Blechdose aus. Risse oder gar Leckagen waren jedoch nirgends zu beobachten. Als sie an der Experimental-Plattform angekommen waren, die an das japanische Kibo-Labor angrenzte, sahen sie weitere schwere Schäden. Ein Bruchstück hatte die Plattform getroffen und einen kleinen Teil glatt abgesprengt, sowie den an der Plattform angebrachten Roboterarm beschädigt. Eine Untersuchung ergab, dass sich der Schaden weitgehend auf die Verkleidung beschränkte, er würde repariert werden können. Dagegen hatte eine Satellitenschüssel, Teil des japanischen Kommunikations-Systems, einen direkten Treffer kassiert und war zerstört worden. Von der Plattform aus hatten sie einen fantastischen Blick hinunter zur Erde, und sowohl Josh als auch Markus gaben sich einige Zeit dem überwältigenden Szenario hin, welches der Blaue Planet vor den tiefschwarzen Hintergrund zauberte. Niemand sprach, und auch Houston ließ ihnen diesen einen Moment, der wohl für jeden Astro- oder Kosmonauten einen absoluten Höhepunkt in der Laufbahn dargestellt hätte. Sie umkreisten ihren Heimatplaneten mit nahezu 28.000 Kilometern pro Stunde, und kein anderer Mensch war weiter von der Erde entfernt. Erst nach einigen Minuten meldete sich Lynn mit leiser Stimme: »Es tut mir leid Euch stören zu müssen, aber es wartet noch eine Menge Arbeit auf Euch und der Zeitplan ist eng gesetzt. Ihr solltet jetzt besser mit dem Programm weitermachen, vielleicht haben wir am Schluss noch mal Zeit für eine Sternstunde dieser Art.“« Sie bewegten sich auf der Steuerbordseite der Module zurück, an der sie keine weiteren Schäden feststellen konnten, und legten eine weitere kurze Pause ein. Mittlerweile waren nahezu dreieinhalb Stunden vergangen, seit sie die Schleuse verlassen hatten, und Markus fühlte zum ersten Mal die Anstrengung in den Knochen. Er wusste, dass nun die gefährlichere Phase ihres Einsatzes bevorstand, denn Müdigkeit und Erschöpfung reduzierten die Aufmerksamkeit und es schlichen sich leicht Fehler ein. In der lebensfeindlichen Umgebung, in der sie sich befanden, konnte aber jeder Fehler fatale Folgen haben. Lynn drängte erneut auf Einhaltung des Zeitplanes und so gingen sie an den letzten Teil ihrer Aufgabe, der Inspektion des russischen Teils der Station. Sie hangelten sich zunächst an der Steuerbordseite der Module Zarya und Swesda entlang, ohne weitere Schäden festzustellen. Als sie die beiden Sojus-Kapseln unter die Lupe nahmen, fanden sie mehrere Dellen und tiefe Kratzer, die sie sorgfältig dokumentierten. Eines der Sonnensegel an einem der Sojus-Raumschiffe war beschädigt worden. Auch der Progress-Transporter am Heck der Station war getroffen worden. Auf der Backbordseite hatten sowohl Swesda als auch Zarya einige Sekundär-Treffer erhalten, die aber offensichtlich in flachem Winkel auf die Module getroffen und abgeprallt waren, ohne tiefere Spuren zu hinterlassen. Auch an der Vorderseite der Module Poisk und Nauka fanden sich deutliche Kollisionsspuren. Dennoch konnten sie abschließend das beruhigende Fazit ziehen, dass in diesem Teil der Station keine gravierenden Schäden entstanden waren. Erleichtert machten sich auf den Rückweg zur „Joint Airlock“, dem Quest-Modul. »„Houston, wir beenden jetzt unseren Einsatz, es sei denn Ihr habt noch irgendwelche Wünsche«“, gab Josh bekannt. Noch bevor Lynn zu einer Antwort kam, meldete sich Kathy: »Könntet Ihr bitte das auffällige Fragment vom S0-Segment bergen, ich würde mir das gerne mal ansehen“.« Josh hielt in der Bewegung inne. »Muss das sein, Ihr könnt das Ding doch mit der nächsten EVA reinbringen!“« Aber Kathy ließ nicht locker: »„Komm, Ihr seid doch schon mal draußen und Ihr habt noch Zeit“.« Tatsächlich waren sie seit viereinhalb Stunden außerhalb der Station und es würde keine dreißig weitere Minuten erfordern. Lynns Stimme kam aus den Helmlautsprechern: »„Wir überlassen Euch die Entscheidung, FLIGHT gibt grünes Licht, sofern Ihr Euch noch hinreichend fit fühlt.« Josh und Markus berieten sich kurz und stimmten dann zu, den Einsatz noch um die Bergung des Fragmentes zu erweitern. »„Ihr werdet sicher Werkzeug benötigen, denn auf den Bildern sieht es so aus, als ob sich das Fragment verkeilt hat«“, ließ sich Aleksei vernehmen. An der Außenseite des Quest-Moduls hatten intelligente Planer zwei äußerst praktische Werkzeug-Staufächer vorgesehen, damit man Werkzeug nicht stets mühsam aus der Station heraus und wieder hinein transportieren musste. Sie besorgten sich einige leichte Werkzeuge aus einem der beiden Behälter und kehrten damit zum S0-Modul zurück. Markus langte vorsichtig in die Öffnung, musste aber sofort feststellen, dass er nicht tief genug hinunterreichen konnte. Er schob sich zur Seite und ließ es Josh versuchen, der deutlich längere Arme hatte. Josh langte hinab. »„Ich komme dran, aber es hat sich verkantet!“« Er bat Markus, ihm einen Schraubenschlüssel zu geben. »Sei vorsichtig, achte darauf, Dir nicht den Anzug zu beschädigen!«, warnte Lynn“. Aber Josh war schon wieder abgetaucht und versuchte Halt zu finden, um nicht abzutreiben, während er Kraft einsetzte, um das Fragment zu lösen. Kurze Zeit später zog er seinen Arm zurück und schwenkte das Bruchstück triumphierend in seinem rechten Handschuh. Er betrachtete es kurz und hielt es dann vor Markus´ Helmkamera. »„Dieses Ding hat uns ganz schönen Ärger gemacht!“« Lynn sagte: »„Das hat sicher zu einem noch größeren Bauteil gehört. Auf der Radarüberwachung war ein mindestens doppelt so großes Objekt beobachtet worden, wir werden uns die Aufzeichnungen des Radargerätes noch mal genau ansehen“.« »„Ganz eindeutig ein Artefakt, vielleicht können wir identifizieren zu welchem Satelliten oder zu welcher Rakete das Ding mal gehört hat“«, hörten sie Grigorij sagen. Zum ersten Mal seit Beginn der EVA meldete sich auch Anatoli zu Wort: »„Überaus erstaunlich, dass überhaupt etwas davon übrig geblieben ist, noch dazu ein so großes Bruchstück“.« Markus wollte ihm antworten, aber Lynn beschied: »„Jungs, Eure Zeit ist nahezu um, bitte begebt Euch jetzt umgehend in die Station zurück“.« Als Josh sich einige Minuten später durch die Schleuse schob und Markus folgte schaute er auf die Uhr. Exakt fünf Stunden und vier Minuten hatte ihre EVA gedauert, fünf Stunden, die sich für beide bereits unauslöschlich im Gedächtnis eingeprägt hatten.

Nach einem kurzen Abendessen begann gegen UTC 19:00 das planmäßige Abschluss-Briefing mit den Bodenstationen. Lynn überbrachte Josh und Markus Glückwünsche der Mitarbeiter am Boden zum erfolgreichen Außeneinsatz:

»„Ihr habt heute sehr gute Arbeit geleistet, wir haben jetzt einen umfassenden Überblick über den Zustand der Station und können Pläne für das weitere Vorgehen ausarbeiten!“«

Sie sahen sich gemeinsam einen Teil der Video-Aufzeichnungen an, die während des Einsatzes entstanden waren. Die letzten zeigten noch einmal das geborgene Fragment, bereits einige Zeit nach ihrer Rückkehr in die Quest-Schleuse, was daran zu erkennen war, dass im Hintergrund Markus in seiner Funktions-Unterwäsche zu sehen war.

»Als Erstes müssen wir den Canadarm2-Aufbau sichern, das ist jetzt unsere dringendste Aufgabe, wir werden das übermorgen mit einer weiteren EVA in Angriff nehmen. Wir haben schon ein Expertenteam gebildet, das zusammen mit der Herstellerfirma die beste Vorgehensweise definieren soll. Wir planen noch mindestens zwei bis drei weitere EVA´s während Eurer Mission, bitte stimmt Euch ab und bildet die Teams für die nächsten Außeneinsätze. Wir möchten Euch zudem darüber informieren, dass wir den Starttermin für das ATV um einige Tage nach hinten schieben werden, um vielleicht noch benötigte Ersatzteile mitschicken zu können. Bis auf Weiteres bleiben wir bei den geplanten Rückkehrterminen für die Mission. Ich denke das ist alles für den Moment, wie vereinbart habt Ihr jetzt Zeit, um mit Euren Familien zu sprechen und Ihr solltet Euch auch bald zur Ruhe begeben. Für den morgigen Tag wird Richard wieder Eurer CAPCOM sein. Die gesamte Bodencrew und natürlich auch ich wünschen Euch eine gute Nacht, Houston meldet sich ab, CAPCOM Ende“.«

Im Anschluss an das Briefing diskutierte die Crew bei einem Kaffee noch einmal die Ergebnisse der Schadenserhebung. Daraus ergab sich die Frage, wer die nächsten EVA´s übernehmen sollte. Nach kurzer Diskussion einigten sie sich darauf, dass Anatoli und Grigorij das erste Team bilden sollten, während Aleksei und Kathy den zweiten Einsatz leisten würden. Dann löste Aleksei die Runde mit den Worten auf: »„Das waren für uns alle harte 24 Stunden, wir brauchen dringend Ruhe, wir treffen uns morgen zum Briefing zur üblichen Zeit, gute Nacht!“«

Markus, Josh und Kathy begaben sich ins Tranquility-Modul. Markus benutzte die dortige „Space Toilet“ und putzte sich die Zähne mit essbarer Zahnpasta, die einfach geschluckt wurde, um Wasser zu sparen. Er wünschte den anderen eine gute Nacht und begab sich in sein Schlafabteil, einem kleinen privaten Refugium, in dem sein Schlafsack hing, sowie einige persönliche Gegenstände, wie seinen Laptop und sein tablet-PC samt gespeicherten e-Books und Musikbibliothek. Gegen 21:00 Uhr startete er seinen Laptop und stellte die Verbindung her.

Marjorie, Isa und Linus hatten sich um die Webcam herum versammelt und Isa und Linus bestürmten ihn sogleich mit Fragen: „»Hattest Du große Angst? Kommst Du jetzt eher nach Hause? Wie war die EVA? Was ist kaputt gegangen und könnt Ihr das überhaupt reparieren? Wie sah das Fragment aus, welches Ihr gefunden habt und was habt Ihr damit gemacht“?«

Er beschrieb die Ereignisse der letzten 24 Stunden an Bord der ISS und bemühte sich dabei sachlich zu bleiben und seiner Familie nicht zu vermitteln, wie gefährlich die Situation wirklich gewesen war. Er sah, dass ihm das bei Isa und Linus halbwegs gelang, während er Marjorie nichts vormachen konnte. Anschließend beantwortete Markus geduldig alle Fragen, bis Marjorie befand, dass es genug war und sagte: „»Euer Vater wird geschafft sein und braucht seinen Schlaf, bitte geht jetzt auch zu Bett“«. Isa und Linus verabschiedeten sich und als Marjorie allein war sagte sie: »Wir haben mächtig Angst um Dich gehabt, Du siehst erschöpft aus, wie schlimm sieht es wirklich bei Euch da oben aus?“«

Markus sagte zögernd: „»Nun, dieser Zwischenfall war in der Tat gefährlich, die Station hat schwere Schäden.« Dann fügte er in bestimmten Ton hinzu: „»Aber nichts davon ist so gravierend, dass wir die Mission abbrechen müssten, die Lage ist stabil, Ihr braucht Euch keine Sorgen mehr zu machen!«“ Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen überzeugte sie das Gesagte nicht wirklich, er sah, dass ihre Stirn immer noch in Falten lag.

»Versprich mir, dass Du auf Dich aufpasst, besonders, wenn Du noch mal raus musst!«

Markus versprach es, sie sagte: „»Schlaf Dich aus!«“ Dann drückte sie einen Kuss auf die Webcam und beendete die Verbindung.

Markus dachte daran, wie fragil das gewohnte Leben doch war: Von einem Moment auf den anderen konnte es aus den Fugen geraten. Ihm kam eine Zeile des Sting-Songs “„Fragile“” in den Sinn. Sie spukte eine Zeit lang in seinem Kopf herum, bevor er die Gedanken aktiv verdrängte. Er schrieb noch ein paar Zeilen im Schein der installierten Leselampe in sein Tagebuch, wurde dann aber endgültig von Müdigkeit übermannt. Er legte das Büchlein in seine Schublade, löschte das Licht und lauschte noch einige Minuten dem leisen Geräusch des Ventilators über ihm, der ständig lief, um das ausgeatmete Kohlendioxid zu verteilen, bevor er in einen tiefen Schlaf fiel.

Im Bereich des Unmöglichen

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