Читать книгу Im Bereich des Unmöglichen - Cees. A. Vandersahr - Страница 9

Baruch de Spinoza,
Niederländischer Philosoph (1632 - 1677)

Оглавление

Die Weckmusik am nächsten Morgen war aus Nikolay Rimsky-Korsakovs „Scheherezade“, wie Markus später von Anatoli erfuhr. Er selbst war in klassischer Musik nicht sonderlich bewandert. Es gab zwar durchaus einige Komponisten, die er mochte, aber irgendwie fehlten ihm immer Ruhe und Geduld, sich in das Wesen eines Werkes einzufühlen. Während das Thema „„Der junge Prinz und die junge Prinzessin“ dahinplätscherte, bereitete sich Markus auf den neuen Tag vor. Schon bei seiner ersten Mission war ihm aufgefallen, dass die Musikauswahl nicht nur hinsichtlich der Stile breit gefächert war. Auch die Herkunft der Crewbesatzungen wurde bei der Auswahl ausgewogen berücksichtigt. Alles an der Station bis hin zum Namen war international - letztlich eine logische Konsequenz der Tatsache, dass die ISS aus verschiedenen nationalen Projekten zur Entwicklung bewohnbarer Weltraumstationen hervorgegangen war. Ende der 70er Jahre waren viele ambitionierte nationale Programme zum Bau von Raumstationen in eine Krise geraten:

Das amerikanische „„Freedom““-Projekt, das russische „MIR-2“-Projekt und das japanische „„KIBO““-Projekt drohten allesamt steigenden Kosten und knapper werdenden Budgets zum Opfer zu fallen. Es war erst das drohende Scheitern dieser nationalen Vorhaben gewesen, das zu einer Suche nach Alternativen und schließlich zu einer Zusammenführung zu einer einzigen, multinationalen Initiative geführt hatte. 1984 hatte der damalige US-Präsident Ronald W. Reagan eine formelle Einladung an alle Nationen ausgesprochen, sich am Bau einer Weltraumstation zu beteiligen, und innerhalb kurzer Zeit hatten sich Japan, Canada, und neun Mitgliedstaaten der ESA dieser Initiative angeschlossen. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und der Entspannung des amerikanisch-russischen Verhältnisses infolge der Perestroika legten der russische Präsident Tschernomyrdin und der damalige amerikanische Vizepräsident Al Gore 1993 schließlich das Fundament für eines der größten Projekte in der Geschichte der Menschheit. In ihrer finalen Ausbaustufe war die ISS nun zu einem Symbol für die Überwindung nationaler Grenzen zur Erreichung gemeinsamer Ziele geworden. Ein Symbol, welches - größer als ein Fußballfeld - von der Erde aus mit bloßem Auge zu beobachten war und heller als jeder Stern leuchtete.

Die legalen und finanziellen Aspekte dieser Zusammenarbeit waren freilich hochkomplex und ebenso wie die Nutzungsrechte in mehreren umfangreichen Vertragswerken geregelt. Darin war festgelegt, dass der russische Teil der Station allein durch die damalige „Russian Space Agency“ (RSA) kontrolliert wurde und damit auch das Recht einherging, nahezu die Hälfte der zur Verfügung stehenden Nutzungszeit zu stellen. Die Nutzung des internationalen Teils der Station war dagegen nach einem genau festgelegten Schlüssel anteilig auf die restlichen Vertragsstaaten aufgeteilt worden.

Für Markus gehörte internationale Zusammenarbeit seit seinem Studium zum Alltag. Sie machte auch einen erheblichen Teil des Reizes seines Berufes aus. Mission 60/61 sah Vertreter aus immerhin vier verschiedenen Nationen, die sich den spärlichen Platz an Bord teilten. Markus empfand das als große Bereicherung, auch wenn es anfangs trotz entsprechender Fortbildungs-Maßnahmen noch hier und da zu kleineren interkulturellen Missverständnissen gekommen war. Neben verschiedenen Nationen repräsentierte die Crew der Mission 60/61 aber auch diverse berufliche Hintergründe, die sich immer wieder in verschiedenen Denkansätzen und Herangehensweisen an Aufgaben äußerten: So versuchten die Ingenieure komplexere Probleme meist zunächst in kleinere, beherrschbarere Einheiten zu zerlegen. Markus selbst war dagegen als Biologe gewohnt, mit komplexen Systemen umzugehen und hatte sich daher eine holistische Herangehensweise zugelegt, die, wie er sich eingestehen musste, häufig auch durch Intuition bereichert wurde. Während für die Naturwissenschaftler und Ingenieure unvorhergesehene Ereignisse normal und teilweise sogar reizvoll waren, stellten sie für Crewmitglieder mit vorwiegend militärisch geprägter Ausbildung eher lästige Abweichungen vom vorgegebenen Plan dar. Markus hatte sich mitunter gefragt, ob Ausbildung und Beruf diese Eigenheiten erst hervorbrachten, oder diese bereits latent angelegt waren und selbst die Berufswahl beeinflussten. Mit den Jahren hatte er immer mehr zu Letzterem geneigt, und mittlerweile betrachtete er die Frage für sich als beantwortet. Wie auch immer, es war nützlich, Eigenheiten und unterschiedliche Fähigkeiten zu kennen, da sie sich - richtig eingesetzt - perfekt ergänzen konnten.

Markus beendete seine Vorbereitungen und machte sich zum Swesda-Modul auf. Er freute sich auf das bevorstehende Frühstück und war auf das morgendliche Planungsmeeting gespannt. Heute würde sicher über die weiteren notwendigen EVAs gesprochen werden. Aber vielleicht würde auch das wissenschaftliche Programm wieder aufgenommen und damit ein Stück weit Normalität einkehren. Als er in der Swesda eintraf, war bereits eine lebhafte Unterhaltung im Gange. Anatoli, Kathy und Josh hatten sich um den ausklappbaren Tisch versammelt und waren über etwas gebeugt, was sie mit einem der allgegenwärtigen Klettverschlüsse auf der Oberfläche befestigt hatten. Als Markus näher kam, hörte er Josh sagen:

»„Das wird unser kleiner Hauptdarsteller in der Pressekonferenz heute Abend“.«

»„Ich hasse Pressekonferenzen«“, sagte Kathy mit verächtlichem Ton und einem leicht angewiderten Gesichtsausdruck. »„Ich würde die Zeit viel lieber nutzen, um mir das Ding mal näher im Labor anzuschauen“.«

Anatoli fügte mit leiser Stimme hinzu: „»Und ich würde es gerne aus dem Fenster werfen, das Ding hat uns wirklich eine Menge Ärger bereitet - oh Markus, guten Morgen, wir haben Dich gar nicht kommen sehen!“«

Markus gesellte sich zu ihnen und sah, dass sich die Unterhaltung um das Objekt drehte, welches Josh während ihres Außeneinsatzes aus den Trümmern des S0-Segmentes geborgen hatte. Josh hatte es in die Swesda mitgebracht, und Markus nutzte die Gelegenheit, es sich näher anzuschauen:

Ein Objekt von zylindrischer Form, von vielleicht vierzig Zentimeter Länge und fünf Zentimeter Höhe und Breite lag da auf dem Tisch. Die Kanten waren umlaufend abgerundet. Er löste den Klettverschluss, nahm es vorsichtig in die Hand, drehte und wendete es. An einem Ende war es nahezu unversehrt, und aus dem Körper erstreckte sich mittig ein etwa vier Zentimeter langer und vielleicht drei Zentimeter breiter Fortsatz, der aussah, als würde er eine Art Verbindungsstutzen darstellen, über den das Objekt vielleicht einst als Teil einer größeren Struktur mit einem anderen Bauteil verbunden gewesen war. Auf der anderen Seite hingegen war das Fragment versehrt, die Bruchkante war sicher während des Aufpralls entstanden. Auch eine der beiden Längsseiten zeigte einige tiefe Einkerbungen und Schrammen, die vermutlich von der Kollision herrührten.

Er drehte das Objekt ins Licht und schaute genauer hin. Seine Augen hatten ihn draußen nicht getäuscht: Auf der dunklen Oberfläche fanden sich Spuren einer rotbraunen Farbe, allerdings verblasst und kaum mehr erkennbar. Er hielt das Objekt nahe vor die Augen und dann weiter weg, was Kathy zu einer Bemerkung über verleugnete Sehschwäche bei Astronauten verleitete.

»Hm, die Oberfläche sieht merkwürdig aus, wie gesprenkelt“«, sagte Markus. Aber als er einen Finger darüber gleiten ließ, merkte er, dass es gar keine Erhebungen waren, sondern winzige Vertiefungen. Anatoli, der ihn beobachtet hatte, sagte:

»„Merkwürdig, nicht? Sieht aus, als sei das Ding von einer Unzahl von Mikrometeoriten getroffen worden“.«

»„Was ist Besonderes daran?«, fragte Josh. »Im erdnahen Orbit gibt es nun mal eine ganze Menge Staub und winzige Bruchstücke von Weltraumschrott“.«

»„Es sind enorm viele, lässt darauf schließen, dass das Fragment schon lange im All war“.«

Markus´ Blick fiel auf die Bruchkante und den offenliegenden Querschnitt. Zu seiner Überraschung war innen keineswegs kompaktes, blankes Metall zu sehen, sondern eine poröse graue Masse, die aussah, als wäre sie wie erkaltende Lava aus einem halbflüssigen Zustand erstarrt. Er wog das Fragment in seinen Händen.

»„Mich würde das Gewicht interessieren, es fühlt sich sehr - leicht - an“.«

»„Das kann täuschen, es muss immerhin sehr stabil sein, ansonsten wäre nichts davon übrig geblieben. Ich werde es mal mitnehmen und mir genauer ansehen“«, erwiderte Kathy. »„Dann werde ich auch das Gewicht bestimmen, wir haben eine Trägheitswaage an Bord. Da kommen übrigens Grigorij und Aleksei, wir sollten jetzt frühstücken, in etwa dreißig Minuten beginnt das Planungsmeeting“.«

Kathy nahm das Objekt an sich und verstaute es in einer Schublade. Dann machten sie sich daran, den Tag mit einem ordentlichen Frühstück zu beginnen.

Als Markus an der Reihe war, öffnete er ein Staufach, welches eine Vielzahl von Tüten und Dosen enthielt. Um die Identifizierung zu erleichtern, waren sie mit einer Farbcodierung und mit Aufklebern versehen. Markus suchte sich aus den gelb markierten Packungen die Bestandteile seines Frühstücks zusammen. Wie in jedem Umfeld mit hoher körperlicher und psychischer Belastung kam dem Essen an Bord der ISS eine besondere Bedeutung zu. Bei frühen MIR-Missionen, sowie bei Langzeit-Simulationen für eine zukünftige Marsmission, wie dem „„Mars 500“-Projekt“, hatten sich vereinzelt Konflikte unter der Besatzung gezeigt, die sich stets um die Verpflegung herum manifestiert hatten. Die Verpflegung wurde nach diesen Erfahrungen daher inzwischen durchgehend unter Berücksichtigung der persönlichen Vorlieben der Crewmitglieder zusammengestellt. Diverse Forschungs- und Entwicklungsprojekte hatten zudem dazu geführt, dass die Verpflegung an Bord mittlerweile nicht mehr ausschließlich lebenserhaltende Funktion hatte. Auch Qualität und Geschmack konnten inzwischen leidlich gut konserviert werden, was bei Langzeiteinsätzen einen nicht unerheblichen Beitrag zur Lebensqualität an Bord ausmachte.

Wie die anderen Crewmitglieder auch war Markus einige Wochen vor dem Start zu einer ausführlichen Besprechung mit einem Ernährungsberater gebeten worden. Die Ernährungsberater hatten die Aufgabe, die individuellen Wünsche aufzunehmen und das Paket so abzurunden, dass es insgesamt ausgewogen und vitaminreich war. Es war deshalb auf den mehrere Monate dauernden ISS-Missionen noch nie zu Mangelerscheinungen gekommen.

Markus hatte während seiner Aufenthalte in den russischen Missions- und Ausbildungszentren eine intensive Zuneigung zu einigen russischen Gerichten entwickelt. Insbesondere die deftigen russischen Suppen hatten es ihm angetan. Daher hatte er sich zum Beispiel einen gehörigen Vorrat an „Borschtsch“ bestellt, einer Gemüsesuppe aus Roter Bete, Karotten, Weißkohl, etwas Rindfleisch und diversen Kräutern. Daneben hatte er „Tscheburek“, Teigtaschen, die mit gehacktem Lammfleisch und Pilzen gefüllt waren im Programm, sowie einige der delikaten russischen Süßspeisen. Das hatte ihm als angenehmen Nebeneffekt einige zusätzliche Sympathiepunkte bei den russischen Kollegen eingebracht.

An diesem Tag bestand Markus´ Frühstück aus einem Müsli, gefriergetrocknetem Rührei, einer Heidelbeer-Fruchtpaste sowie russischem Honigkuchen. Dazu gab es Fruchtsaft und Kaffee. Neben dem Tisch befand sich die „Küche“ des Service-Moduls mit Wasserspendern und kleinen Öfen, in dem die Speisen angewärmt wurden. Die Packungen für Rührei, Kaffee und Milchpulver für das Müsli musste Markus zunächst mit einem kleinen Dorn öffnen, dann mit etwas Wasser versetzen und mischen. Der Kaffee und das Rührei wanderten für einige Minuten zum Aufwärmen in den Ofen, bis alles vorbereitet war und auf seinem Tablett mit Klettverschlüssen und Magneten befestigt vor ihm stand. Er zwängte seine Füße in Halteschlaufen unter dem Tisch und begann mit seinem Frühstück.

Die Mission 60/61 hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, die Mahlzeiten gemeinsam im russischen Service-Segment einzunehmen. Dadurch war das Swesda-Modul ohne Zweifel zum sozialen Zentrum der Station geworden. Hier kam man zum Frühstück zusammen, plante den Tag und berichtete sich während des Abendessens von neuen Erkenntnissen oder Schwierigkeiten. Hier tauschte man aber auch private Neuigkeiten aus, redete über das Weltgeschehen, stritt über Politik oder teilte seine Sorgen. Für Markus war diese gemeinsam verbrachte Zeit auch deshalb wertvoll, da sie Gelegenheit bot, mehr über die Menschen hinter den Profis zu erfahren. So hatte Grigorij während eines Abendessens eher in einem Nebensatz erwähnt, dass er an einem Gedichtband arbeiten würde. Von Markus dazu befragt hatte er lachend erklärt, dass er die ersten Gedichte bereits in seiner Jugend verfasst hatte, aber der Band noch immer den Status „„unvollendet“ trug. Dann hatte er noch hinzugefügt, dass ihm das Schreiben an Bord der ISS viel leichter fallen würde als am Boden und, mit einem Augenzwinkern, dass er eigentlich nur deshalb Kosmonaut geworden sei. Über Aleksei hatte er erfahren, dass er schon von Kindesbeinen an von seinen Eltern systematisch auf seine Laufbahn vorbereitet worden war. Seine Eltern waren beide Ingenieure gewesen und hatten begeistert am Sowjet-Weltraumprogramm mitgearbeitet. Sie hatten seinen Vornamen zu Ehren von Aleksei Leonov ausgewählt, des ersten Menschen, der seine Raumkapsel im Jahre 1965 für einen zwölfminütigen Weltraumspaziergang verlassen hatte. Anatoli hatte preisgegeben, dass er in seiner Freizeit ein ambitionierter Alpinist war und gern in den südamerikanischen Anden unterwegs war. Er hatte bereits zwei Erstbesteigungen von Bergen in Feuerland im Alleingang vorzuweisen.

Kathy kannte er ja bereits sehr gut, und Josh hatte ihm schon in den ersten Tagen freimütig von seiner gescheiterten Ehe berichtet, die, wie er ausführte, letztlich an seiner Leidenschaft für seinen Beruf zerbrochen sei. Markus musste lächeln, als er daran dachte wie Josh lebhaft seine kleine Tochter beschrieben hatte, die er offenbar viel zu selten sah und nun ganz augenscheinlich besonders vermisste.

Markus schaute zu Josh hinüber. Der war mit dem Öffnen seines Beutels mit Orangensaft unvorsichtig gewesen, und bemühte sich jetzt unter Verrenkungen einzelne Tropfen mit weit aufgesperrtem Mund einzufangen. Das war ihm nicht zum ersten Mal passiert.

»Josh, Du tätest gut daran einfach mal kleinere Löcher zu bohren«,“ stichelte Kathy.

»„Ach komm, Dir täte etwas Gymnastik auch gut«,“ erwiderte Josh.

»Aber nicht auf leerem Magen«,“ gab Kathy zurück.

»„Also, wir werden heute alle wieder aufs Laufband gehen«, sagte Aleksei mit gewohnt lauter Stimme. »Es wird höchste Zeit, dass wir wieder Sport treiben. Ich zumindest möchte auf eigenen Beinen stehen können, wenn wir zur Erde zurückkehren.“«

„»Nach dem, was wir hier erlebt haben, hätten wir es eher verdient, nach unserer Rückkehr auf Sänften getragen zu werden«,“ murmelte Grigorij mit vollem Mund.

Während Markus genüsslich seinen Kaffee schlürfte, fiel sein Blick auf Anatoli: Der introvertierte Kosmonaut kaute schweigend und mit gerunzelter Stirn vor sich hin. Aleksei bemerkte es ebenfalls, klopfte Anatoli sanft auf die Schulter und sagte: »„Brüderchen Anatoli, was ist los, hast Du etwa verkehrt herum geschlafen?“«

Anatoli fühlte sich ertappt, lächelte und sagte dann zögernd: „

»Also, ich habe darüber nachgedacht, was für Konsequenzen unser kleiner Zwischenfall haben könnte. Ich wette, sie überlegen derzeit am Boden nicht nur fieberhaft, was zur Stabilisierung der ISS getan werden muss, sondern auch, was langfristig mit der beschädigten Station geschehen soll“.«

Aleksei nickte, und Anatoli fuhr fort:

„»Der Zwischenfall wird neben NASA und GK Roskosmos wohl auch die Politik, insbesondere die Finanzminister beschäftigen“.«

Allen war gewärtig, dass ursprünglich geplant war, die ISS lediglich bis 2015 in Betrieb zu halten. Die Bush Jr. Administration hatte zwar noch eine Reihe ambitionierter Vorhaben, inklusive der Rückkehr der Vereinigten Staaten zum Mond angekündigt. Der nachfolgenden Obama-Regierung war aber angesichts einer sich rapide zuspitzenden Finanzkrise nichts anderes übrig geblieben, als viele dieser Vorhaben wieder auf Eis zu legen und den NASA-Haushalt in engen Grenzen zu halten. Immerhin aber war dann auf US-Seite doch das Budget für einen Weiterbetrieb der Station zunächst bis 2020 gesichert worden. Anfang 2014 schließlich waren nochmals vier weitere Jahre hinzugekommen und das Ende der Station auf 2024 verschoben worden. Das Shuttle-Programm war dagegen nach dem letzten Flug der Raumfähre „Discovery“ im Jahre 2011 eingestellt worden und die verbliebenen, anfälligen und altersschwachen Raumfähren „„Atlantis““, „„Endeavour““ und „„Discovery““ hatten ihren Weg in die Museen angetreten. Der Transport von US-Astronauten musste nun mit Sojus-Raumschiffen erfolgen und jeder Flug teuer bei der russischen Weltraum-Agentur eingekauft werden, die 2015 umstrukturiert und in „„GK Roskosmos“ umbenannt worden war.

»„Es könnte sein, dass das Programm nun doch früher beendet wird“«, sagte Grigorij. „»Die vollständige Wiederherstellung der Station wird Milliarden Dollar erfordern, allein das ASM hat eineinhalb Milliarden gekostet. Und ich vermute, dass es ohne einen Shuttle-Nachfolger schwierig werden wird, eine vollständige Reparatur zu bewerkstelligen“.«

»Na ja, ich weiß nicht, ob man das ASM unbedingt erneuern muss«“, sagte Josh, »das Ding hat glaube ich bislang noch keine Antimaterie gefunden, und die Menschheit weiß immer noch nicht, warum sie eigentlich aus Materie und nicht aus Antimaterie besteht“.«

»Oh, bei Dir bin ich mir gar nicht so sicher«“, kam es prompt von Kathy.

»„Es gibt einen einfachen Weg das herauszufinden«“, grinste Josh, „»komm doch mal rüber“!«

»„Ihr haltet Euch zurück«“, ging Aleksei dazwischen, »eine Kollision reicht mir für diese Mission«. Dann fügte er hinzu: „»Grigo hat recht, das wird Wasser auf den Mühlen der Kritiker-Lobby sein“.«

Markus war klar, dass diese Befürchtung nur allzu gerechtfertigt war: Projekte der bemannten Raumfahrt, deren prominentestes Prestigeprojekt die Internationale Raumstation nun einmal war, mussten sich seit Jahrzehnten immer wieder mit teils massiver Kritik auseinandersetzen. Die Argumente auf beiden Seiten hatten sich seit dem Apollo-Programm nicht wesentlich verändert. Von den Kritikern wurde auf die enormen Kosten verwiesen, auf die Möglichkeiten die man hätte, mit diesem Geld sinnvollere irdische Projekte gewinnbringender zu unterstützen. In den letzten Jahren hatten sich in einigen Ländern einflussreiche Wissenschaftler und Institutionen zusammengeschlossen, um stärkere Mitsprache bei der Verteilung öffentlicher Forschungsgelder einzufordern. Ihrer Auffassung nach lieferte die Forschung an Bord der Internationalen Raumstation zu wenig greifbare Resultate für das Investment. Sie waren der Meinung, dass mit den gleichen Investitionen am Boden ein deutlicher Fortschritt auf Forschungsfeldern machbar wäre, die für die Allgemeinheit unmittelbarer von Interesse waren, wie etwa die Bekämpfung von Krankheiten wie Malaria, AIDS, Krebs oder die Förderung alternativer Energien. Markus musste sich eingestehen, dass diese Kritik nicht von der Hand zu weisen war.

War das Apollo-Programm noch ein Brutkasten für Innovation gewesen, der die Vormachtstellung der USA im Bereich neuer Technologien für Jahrzehnte begründet hatte, konnte man Gleiches für das ISS-Programm nicht mehr unbedingt behaupten. Sicher, die Forschungsthemen waren interessant und einige Erkenntnisse durchaus vielversprechend, aber wenige hatten es bislang bis in die Praxis geschafft. Dazu gehörte sicher das noch junge Feld der Plasmamedizin. Die Entwicklung von Geräten zur Anwendung von kalten, ionisierten Plasmen zur Behandlung schlecht heilender Wunden war von Forschungsergebnissen auf der ISS vorangetrieben worden. Ein Grund dafür war, dass sich komplexe Plasmen, die aus Elektronen und Ionen und weiteren elektrisch geladenen, makroskopischen Partikeln bestanden, unter Bedingungen der Schwerelosigkeit einfacher und ungestörter erforschen ließen als am Boden. Ein anderer Grund bestand aber auch darin, dass die maßgeblichen Wissenschaftler vom Max-Planck-Institut für extraterrestrische Physik ihre Forschungsgelder aus dem Raumfahrtetat der ESA bekamen, und sie damit zweckgebunden für die Forschung auf der ISS eingesetzt werden mussten. In der letzten Zeit war die Anzahl an Anfragen für Forschungsprojekte deutlich zurückgegangen. Parallel dazu war die Bewilligungsquote gestiegen und lag bei den Anträgen an die ESA mittlerweile bei fast fünfzig Prozent. Demgegenüber verzeichnete das altgediente Hubble-Teleskop noch immer anhaltend großes Interesse in der Forschergemeinde, sodass sich nur etwa zehn Prozent der Forschungsanträge Hoffnung auf eine Genehmigung machen konnten.

Neben wenigen Forschungsansätzen mit unmittelbarem praktischen Bezug handelte es sich bei den Forschungsfeldern auf der ISS vorwiegend um Grundlagenforschung. Und wie bei jeder Art von Grundlagenforschung waren die einzelnen Resultate für die beteiligten Wissenschaftler hochinteressant, für neutrale Betrachter aber zunächst meist weder bahnbrechend noch spektakulär. Sie lieferten - jedes für sich genommen - aber Puzzle-Steine, die zusammen mit vielen anderen kombiniert irgendwann einmal sinnvolle Bilder ergaben. So funktionierte Grundlagenforschung, so funktionierte Wissenschaft eben. Zwar war bemannte Raumfahrt für viele Menschen noch immer extrem faszinierend, aber dabei ging es in der Regel nicht um die Forschung, sondern mehr um das Abenteuer. Markus war zum Thema auch eine Erklärung der Chefs der beteiligten Raumfahrt-Agenturen in Erinnerung geblieben, die sie 2011 gemeinsam aus Anlass der Fertigstellung der Station abgegeben hatten. Darin hatten sie „die historische Ingenieursleistung, die einmalige internationale Partnerschaft und den wissenschaftlichen Nutzen“ - in eben dieser Reihenfolge - gewürdigt. Der praktische Nutzen einiger Forschungsprogramme, etwa der immer wieder in den Medien zitierten Untersuchungen zur Veränderung menschlicher Physiologie unter den Bedingungen der Schwerelosigkeit, war der Öffentlichkeit zunehmend schwerer zu vermitteln.

»Könnte in der Tat sein, dass das hier für uns alle bereits die letzte Mission ist«“, sinnierte Aleksei. »Russland plant zwar für 2024 eine neue Station unter Wiederverwertung einiger ISS-Module, aber ob sie realisiert werden kann ist noch unsicher. Und bemannte Missionen etwa zum Mond oder zum Mars rücken in immer fernere Zukunft. Die erste bemannte Marsmission zum Beispiel war in den letzten vierzig Jahren glaube ich stets etwa zwanzig Jahre entfernt“.«

»Das wäre sehr schade«, sagte Kathy mit vollem Mund, »ich glaube, wir alle können uns keinen Bürojob vorstellen. Vielleicht schaffen es ja die Chinesen mit ihrem Programm für ihre Raumstation und wir können mal als Gäste mitfliegen“.«

Grigorij runzelte die Stirn.

»„Ich bin überzeugt davon, dass China erfolgreich sein wird. Die Chinesen sind ambitioniert und haben bereits mehrere Stufen ihres Programmes erfolgreich abgeschlossen. Sie verfügen über geeignete Trägerraketen und haben bereits Prototyp-Module im All gehabt, mit denen sie ausgiebig Kopplungs- und Andockmanöver geübt haben. Wenn sie ihr Wirtschaftswachstum einigermaßen konservieren können, verfügen sie auch über die notwendigen finanziellen Mittel. Die weiteren Ausbaustufen des Programmes sind jedenfalls fest in ihren Fünfjahresplänen verankert. 2024, wenn die ISS nach jetzigen Plänen spätestens außer Betrieb genommen wird, wird China seine Raumstation bereits in Dienst gestellt haben. Und wenn wir bis dahin keine Nachfolge für die ISS haben, wird uns China in der bemannten Raumfahrt den Rang ablaufen, daran besteht kein Zweifel. Für China es eine Prestigefrage: Das Politbüro will den Status eines Schwellenlandes mit aller Macht hinter sich lassen und hat realisiert, dass die bemannte Weltraumfahrt die Fähigkeiten und das Potenzial einer Nation wie kaum eine andere Errungenschaft symbolisiert. Bis 2025 wollen die Chinesen auf den Mond. Und wenn die Chinesen es nicht schaffen, dann schaffen es die Inder“.«

»Wenn alle Stricke reißen, steigen wir eben bei SpaceX oder Virgin Galactic ein und fliegen mit Dragon- oder SpaceShipThree-Raumschiffen, wie wär's?“«, ließ sich Kathy vernehmen.

»Hm, nach dem Ende des Shuttle-Programmes sind einige meiner Kollegen bereits in die freie Raumfahrtindustrie gewechselt«“, sagte Josh, »„ich habe auch schon entsprechende Angebote von Personalagenturen erhalten“.«

»„Ich glaube wirklich, dass die Zeit öffentlich finanzierter Großprogramme dem Ende entgegen geht“«, pflichtete ihm Markus bei. »„Falls es jemals wieder bemannte Missionen durch die etablierten Nationen zum Mond oder gar zum Mars geben sollte, werden wohl finanzkräftige Konsortien aus der Privatwirtschaft als Träger auftreten. Die enormen Entwicklungskosten können wahrscheinlich nur mit dem Verkauf von Senderechten, Werbespots und Artikeln gegenfinanziert werden. Das ultimative Medienereignis eben, mit Kameras in jedem Winkel, Big Brother im All! Ich glaube jedenfalls nicht, dass die internationale Gemeinschaft aus öffentlichen Mitteln nochmals ein dem Apollo- oder dem ISS-Programm vergleichbares Vorhaben finanzieren kann und wird“.«

»„Ja, ganz offensichtlich geht es in diese Richtung«, bestätigte Kathy. »Der Auftrag den Shuttle-Nachfolger zu entwickeln ging zum Beispiel nicht mehr allein an die NASA, sondern auch Boeing, SpaceX und weitere Firmen haben Entwicklungsaufträge mit einem Volumen von insgesamt 270 Millionen Dollar erhalten“.«

»Ich würde es auch aus einem anderem Grund sehr bedauern, wenn das Programm vorzeitig ein Ende finden sollte«“, sagte Anatoli, und fügte hinzu: »„Ohne die beispielhafte internationale Zusammenarbeit wäre die ISS niemals möglich gewesen. Keine Nation allein hätte es fertiggebracht, diese Station zu errichten. Wir arbeiten hier oben gemeinsam, und unsere nationale Herkunft spielt dabei eine untergeordnete Rolle, und das ist für uns ebenso selbstverständlich wie für unsere Crews am Boden“.«

»Gut gesagt, klingt aber etwas pathetisch«,“ erwiderte Josh, »„ich bin mir nicht sicher, welcher Wert dem bei einer Entscheidung tatsächlich beigemessen werden wird“.«

»„Ich wäre da nicht so pessimistisch“«, erwiderte Kathy, „»die bemannte Raumfahrt hat schon in den siebziger Jahren dazu beigetragen, das Eis in den internationalen Beziehungen zu brechen. Denk doch mal an das Rendezvous zwischen Apollo und Sojus 1975 zurück, das war doch ein wirklich symbolträchtiges Ereignis“!«

»Ja, aber wie Du Dich sicher erinnerst, ging es unmittelbar danach erst einmal wieder in eine Phase der ausgeprägten Konfrontation zwischen den damaligen Weltmächten, mit Pershings auf der einen, und mit SS20-Raketen auf der anderen Seite«“, gab Josh mit leichtem Sarkasmus im Ton zurück.

»Na, ich finde das ist zu schwere Kost für ein Frühstück«“, beendete Aleksei die Diskussion. „»Wir sollten uns erst einmal auf diese Mission konzentrieren und sie gut zu Ende bringen. Wir werden sehen, wie sich die Situation in den nächsten Monaten entwickelt. Vielleicht liegen wir alle falsch und jeder von Euch hat noch ein paar Einsätze vor sich. In fünf Minuten beginnt übrigens unser Briefing für den heutigen Tag“.«

Sie beendeten ihr Frühstück und räumten die Reste in einen Container. Leider konnte man nicht einfach den Müll runterbringen und vor die Tür stellen. Die teuerste Müllabfuhr der Welt bestand in Progress-Transportern, die mit dem zu entsorgenden Abfall beim Wiedereintritt in die Erdatmosphäre verglühten.

Kurz darauf meldete sich ein gut aufgelegter Richard Wellesley von der Bodenstation: »Houston an ISS, hallo und guten Morgen. Aah, ich hoffe Ihr hattet eine gute Nacht, am heutigen Tag wird nämlich mal wieder gearbeitet“!«

Josh und Markus wechselten einen Blick.

»„Ihr habt heute zwei Trainingseinheiten vor Euch, eine am Vormittag, eine am Nachmittag. Dazwischen arbeiten wir am wissenschaftlichen Programm weiter und gegen 17:30 Uhr haben wir die Pressekonferenz in der Swesda. Ich denke es wird Euch interessieren, dass alle wesentlichen Nachrichten-Stationen zwischen Washington und Tokio live zugeschaltet sein werden, aah, das wird ganz großes Kino für Euch da oben!«“

»Wir sind begeistert, habt Ihr wenigstens einen Text für uns vorbereitet?“« fragte Aleksei.

»„Ich hasse Pressekonferenzen“«, schob Kathy ein.

»„Aah, negativ, kein vorbereiteter Text. FLIGHT meint ihr schafft das schon, einfach nur vor der Kamera schweben, lächeln und ein paar Fragen beantworten. Wir werden das Spektakel auch nach spätestens dreißig Minuten beenden. Die Konferenz wird übrigens gemeinsam von Craford und Baranow moderiert werden.«

»„Die Chefs persönlich?“« Aleksei war sichtlich beeindruckt.

»Wir schicken Euch gleich noch ein Briefing für den Ablauf, das ihr alle studieren solltet. Um 17:00 Uhr treffen wir uns für einen technischen Check. Noch Fragen?“«

»Habt Ihr den Einsatzplan für die Stabilisierung des Canadarm2 fertiggestellt?«,“ wechselte Grigorij das Thema.

»Ah, leider negativ, wir sind noch nicht so weit, das Team braucht länger als erwartet, um anhand der Aufnahmen die Details auszuarbeiten und den Prozess am Modell zu simulieren. Die Einsatzleitung hat daher beschlossen, in zwei Phasen vorzugehen. Für die Phase 1, das heißt einen ersten Außeneinsatz, sehen wir eine notdürftige Stabilisierung des Arms vor, die Phase 2 ist noch nicht durchgeplant, wir möchten dazu auch zunächst noch weitere Erkenntnisse über den Zustand des Arms aus der Phase 1 einfließen lassen. Den Einsatzplan für die Phase 1 schicken wir Euch voraussichtlich morgen früh, sodass Ihr den morgigen Tag habt, um Euch auf die nächste EVA vorzubereiten“.«

Nach dem Briefing absolvierten Markus und Josh zunächst die erste der beiden einstündigen Übungseinheiten im Tranquility-Modul, während der Rest der Crew sich der Durchführung der anstehenden wissenschaftlichen Experimente sowie der Überprüfung und Wartung der Systeme der Station widmete. Jeder Monat unter Schwerelosigkeit führt bei Menschen zu einem Verlust von etwa zwei Prozent der Knochenmasse. Die täglichen Übungen waren daher unerlässlich, um einem übermäßigen Muskel- und Knochenabbau entgegenzuwirken. Als Übungsgeräte waren ein Laufband, ein Fahrrad sowie eine Vorrichtung zur Simulation von Gewichtheben verfügbar. Markus und Josh wechselten sich bei den Übungen ab, während einer sich auf den Geräten abmühte, überwachte und protokollierte der andere Blutdruck und Puls.

Nach Abschluss der Übungseinheit ging Markus daran, sich um seine Experimente zu kümmern. Sein Labor befand sich im europäischen Columbus-Forschungsmodul. Das 1,4 Milliarden Euro teure, zylindrische Hightech-Labor war nach Abschluss der von Italien und Deutschland angeführten Entwicklungsarbeiten im Jahre 2008 zur ISS hinzugekommen. Das voll beladen fast dreizehn Tonnen schwere Modul war mit sieben Metern Länge und vier Metern Breite etwas kleiner als die beiden anderen Forschungsmodule des internationalen Teils, Destiny und Kibo. Das für das Columbus-Labor zuständige Kontrollzentrum befand sich im bayrischen Oberpfaffenhofen auf dem Gelände des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt. Dort arbeitete, wie in den großen ISS Kontrollzentren in Houston und Koroljow, ein „Flight Control Team“ (FCT) in drei Schichten an sieben Tagen in der Woche an diversen Systemoperationen, und unterstützte die Wissenschafts-Astronauten bei der Durchführung von Experimenten.

Als Biologe hatte Markus vorwiegend Experimente aus dem Bereich „Life Science“ zu betreuen. Darunter gab es auch einige humanphysiologische Experimente, an denen er während dieser Mission zu arbeiten hatte. Im Unterschied zu vielen Labors am Boden, in denen oft nur an einer Fragestellung intensiv gearbeitet wurde, gab es an Bord der ISS eine Vielzahl von parallel laufenden Experimenten und Forschungsaktivitäten. Der Zeitplan war ungeheuer dicht gepackt und perfekt durchorganisiert. Alle Experimente waren bis ins Detail vorbereitet worden, und vor der Mission hatte Markus für jedes Programm eine intensive Trainingsphase durchlaufen, um sich Fragestellungen, Hintergründe und Versuchsabläufe zu verinnerlichen. Mit diesem Wissen diente er nun auf der ISS quasi als verlängerter Arm und Kopf jener Wissenschaftler-Teams, die die entsprechenden Experimente - meist im Rahmen multinationaler Verbundprojekte - konzipiert hatten. Seine Aufgabe bestand in einer sachgerechten Durchführung der Versuche und einer genauen Protokollierung aller Beobachtungen und Ergebnisse. Während der akuten Phase der Versuchsreihen stand er in häufigem Kontakt mit dem FCT in Oberpfaffenhofen sowie über Internetkonferenz, Skype oder Telefon mit den jeweiligen beteiligten Forschungsgruppen rund um die Welt. Dabei wurden neue Resultate ausgetauscht oder über die weitere Vorgehensweise beraten, insbesondere dann, wenn unerwartete Beobachtungen gemacht wurden.

Markus legte sich seinen Plan zurecht und machte sich an die Arbeit. Eines seiner Haupt-Experimente bestand darin, Mikroorganismen unmittelbar den lebensfeindlichen Bedingungen des Weltalls auszusetzen, um ihre Überlebensfähigkeit unter extremen Bedingungen zu testen. Mikroorganismen hatten nahezu alle Regionen des Planeten besiedelt und waren sie vermeintlich noch so lebensfeindlich. Mikroben fanden sich in kochend heißen Quellen, im Eis der Polkappen, kilometertief im Felsgestein oder an den tiefsten Stellen der Ozeane. Wurden die Bedingungen gar zu schlecht, konnten viele Mikroorganismen zudem noch widerstandsfähigere Dauerformen, Sporen genannt, ausbilden. Diese Erkenntnisse hatten dazu geführt, dass einige durchaus namhafte Wissenschaftler die sogenannte „Panspermie“-Hypothese“ vertraten, nach der das Leben nicht auf der Erde entstanden, sondern in Form derartiger widerstandsfähiger Mikroben-Dauerformen aus dem All auf die Erde gelangt war. Die Hypothese hatte weiteren Aufschwung erhalten, nachdem man keimfähige Bakteriensporen in den obersten Schichten der Atmosphäre, an der unmittelbaren Grenze zum All, nachweisen konnte. Und 2013 hatten Kosmonauten bei einem Außeneinsatz an der ISS bei der Reinigung der Fenster Hinweise auf Meeresplankton gefunden, für dessen Herkunft verschiedene Hypothesen diskutiert worden waren. Überdies war es Forschern gelungen, Mikroorganismen zu identifizieren, die sich unter Bedingungen einer 400.000-fachen Erdbeschleunigung munter vermehrten, und wiederum andere, die gegenüber der harten kurzwelligen kosmischen Strahlung extrem unempfindlich waren. Einer dieser Überlebenskünstler, Deinococcus radiodurans, konnte sogar intensive radioaktive Bestrahlung überstehen. Dabei führte die Strahlung zwar wie in anderen Mikroorganismen zu massiven Schädigungen der Erbsubstanz DNS und zu einer Fragmentierung des Genoms. Dieses Bakterium verfügte aber über ausgefeilte Reparatursysteme, mit deren Hilfe es zu außergewöhnlichen Regenerationsleistungen imstande war, in deren Verlaufe die Fragmente wieder in der richtigen Reihenfolge zusammengesetzt wurden.

In ihrer Gesamtheit ließen diese Erkenntnisse vermuten, dass besonders widerstandsfähige Mikroben in der Lage sein könnten, auch den extrem lebensfeindlichen Bedingungen des Weltraumes zu trotzen. Markus hatte als Teil seiner Versuchsreihe Bakterienkolonien und Sporen verschiedener Arten den Bedingungen des Alls ausgesetzt. Das Experiment war am Boden vorbereitet worden und mit der Vorgänger-Crew zur ISS gekommen. Es war auf der Außenseite des Columbus-Moduls angebracht worden, und drei Monate später waren die Proben von Aleksei und Grigorij während ihres Außeneinsatzes geborgen und zur Analyse mitgebracht worden. Auf vordefinierten Nährmedien untersuchte er nun die prozentuale Überlebensrate der unterschiedlichen Spezies sowie die Häufigkeit von Veränderungen im Erbgut. Neben Bakterienarten, die auch schon im Fokus ähnlicher Experimente bei vorhergehenden Missionen gewesen waren, hatte Markus auch Pilze und Flechten im Programm, von denen sich ebenfalls einige als Überlebenskünstler geoutet hatten.

Die zweite Versuchsreihe seiner Mission hatte Markus bereits erfolgreich abgeschlossen. Sie hatte sich mit der Untersuchung des Verhaltens embryonaler Stammzellen unter Mikrogravitation befasst. Dabei wurden embryonale Stammzellen aus Mäusen und Schafen unter Schwerelosigkeit kultiviert und bezüglich diverser physiologischer Parameter mit denen verglichen, die in Inkubatoren am Boden wuchsen. Eine dritte Versuchsreihe schließlich lief über die gesamte Dauer der Mission: Es handelte sich um Versuche zur Kristallisation von Proteinen, die auf der Erde nicht in Kristallform zu gewinnen waren. Das Herstellen von Kristallen war notwendige Voraussetzung, um die dreidimensionale Struktur von Proteinen aufzuklären, deren Kenntnis wiederum Aussagen über die Wirkungsweise erlaubte. Die Versuchsreihen konzentrierten sich dabei vor allem auf therapeutisch einsetzbare Proteine. Alle Experimente waren in International Standard Payload Racks auf die ISS gebracht worden, wissenschaftlichen Fertiggerichten gleich, die alle Zutaten enthielten, und quasi nur noch „„aufgewärmt““ werden mussten. Das Columbus-Modul verfügte über zehn dieser Einheiten. Vier befanden sich an der Vorderseite, vier an der Rückseite, und zwei waren in die Decke integriert. Einige wenige waren Lebenserhaltungs- und Kühlsystemen vorbehalten, der Rest aber war für die wissenschaftlichen Experimente reserviert.

Markus beschäftigte sich an diesem Tag vor allem mit der Auswertung der Experimente zur Mikrobenexposition, und er verbrachte einige Stunden am Mikroskop, um Veränderungen in der Morphologie der Mikroorganismen aufzunehmen, unterbrochen nur durch ein schnelles Mittagessen und seine zweite Übungseinheit.

Gegen UTC 16:00 hatte er noch eine Konferenz mit einem der zuständigen Wissenschaftlerteams am Boden, bevor er sich um 17:00 Uhr zurück ins Swesda-Modul begab, in dem bereits die Vorbereitungen für die anstehende Pressekonferenz liefen.


Die Crew hatte im Laufe ihrer Mission schon einige Pressekonferenzen, Interviews und Konferenzschaltungen mit Schulklassen, Universitäten und Politikern absolviert, und somit bereits einige Routine entwickelt. Sie lasen den Ablaufplan und stimmten sich kurz über ihre Positionen vor der Kamera ab. Aleksei kam als Stationskommandant die Aufgabe zu, die Crew und die Mission vorzustellen. Die restlichen Crewmitglieder würden sich im Hintergrund halten, und erst im Verlaufe der Pressekonferenz die Beantwortung der einen oder anderen Frage übernehmen. Meist erledigte sich die Reihenfolge von selbst, da die Journalisten gerne ihre Fragen direkt an die jeweiligen Vertreter ihres Landes richteten. Kathy hatte das Fragment mitgebracht, das sie vor dem Frühstück an sich genommen und anschließend mit ins Destiny-Labor genommen hatte.

»„Wann soll ich es vor die Kamera halten?«,“ fragte sie.

»Wieso Du?«, erwiderte Josh, »Markus und ich haben es unter Einsatz unseres Lebens geborgen!“«

»„Wenn ich nicht so darauf bestanden hätte, hätten wir es jetzt gar nicht an Bord, schon vergessen?«“, gab Kathy leicht gereizt zurück, „»aber gut, wenn es Dir so wichtig ist, halt Du es halt vor die Kamera“!«

Sie ließ das Fragment zu Josh herüberschweben, der es aufnahm und zu Markus herüberschaute. Markus nickte ihm kurz zu. Aleksei stellte die Verbindung zu den Bodenstationen her und die letzten Minuten vor dem Start der Pressekonferenz nutzten sie für die Ausleuchtung und einen technischen Check sowie für ein finales Briefing mit dem NASA-Chef Craford und dem RSA-Chef Baranow, die sich die Moderation teilen sollten.

Die Konferenz selbst verlief störungsfrei und ohne größere Überraschungen. Die Crew hatte sich in einer kamerafreundlichen Formation gruppiert, im Vordergrund mit Kathy, deren Pferdeschwanz fotogen nach oben stand, seitlich eingerahmt durch Aleksei und Anatoli. Josh, Grigorij und Markus bildeten den Hintergrund. Als die Übertragung startete, sah Markus etwa fünfzig Journalisten, die in einer Videokonferenz über vier verschiedene Monitore zugeschaltet waren. Für einige war es mitten in der Nacht und manche sahen recht müde aus.

Craford und Baranow übernahmen zu Beginn die grundlegende Schilderung der Ereignisse, wobei sie zwar nicht verharmlosten, aber deutlich machten, dass alle Sicherheits-Vorkehrungen und Notfall-Maßnahmen vorbildmäßig funktioniert hätten und somit Schlimmeres hatte verhindert werden können. Anschließend wurde das Wort an Aleksei übergeben, der die anwesenden Journalisten ebenfalls begrüßte, die Crew vorstellte und grob die Aufgaben der Mission 60/61 skizzierte. Die letzten fünfzehn Minuten waren dann freigegeben für die Fragen einzelner Journalisten an die Crew. Die meisten Fragen hatten keinerlei Überraschungspotenzial. Sie drehten sich überwiegend darum, wie man den Zwischenfall erlebt hatte, was in der unmittelbaren Krisensituation gedacht und gefühlt worden war. Craford und Baranow moderierten souverän mit gekonnten Übergaben, achteten auf eine ausgewogene Wortzuteilung, und wiesen einige redselige Journalisten höflich, aber bestimmt darauf hin, dass die Zeit kostbar sei, und sie nun zu ihrer eigentlichen Frage kommen sollten.

Eine BBC-Reporterin fragte Kathy, ob sie nach diesem Erlebnis jemals wieder ins All fliegen würde.

»Unbedingt, ich würde keine Sekunde zögern!«“, antwortete Kathy bestimmt.

Die Journalistin hakte nach: »„Aber wie steht Ihre Familie dazu, die Gefahren sind ja offensichtlich nur allzu real“?«

»„Natürlich sind wir uns der Risiken bewusst, mit der eine Mission wie die unsere verbunden ist«, führte Kathy aus. »Aber sehen Sie es mal so: Von einem Objekt dieser Größe getroffen zu werden ist so unwahrscheinlich, dass es wohl in der restlichen Lebensdauer der ISS nicht mehr vorkommen wird“.«

Dabei lächelte sie so überzeugend in die Kamera, dass sich die Journalistin eine weitere wohl schon zurechtgelegte Anschlussfrage verkniff.

Aleksei beantwortete die Fragen zweier russischer Journalisten des staatlichen Senders Rossija 1, die wissen wollten, welche Schäden die Station genau davongetragen hatte und welche Maßnahmen zur Behebung notwendig würden. Ein CNN Reporter fragte, ob man tatsächlich ein Bruchstück des Objektes, welches die ISS getroffen hatte, geborgen hätte, und ob man dessen Herkunft schon geklärt habe. Josh schwebte dazu nach vorne, hielt das Fragment vor die Kamera, zeigte es von allen Seiten und berichtete ausführlich über dessen Auffindung und Bergung. Er beantwortete einige Anschlussfragen und endete damit, dass wohl erst umfassende wissenschaftliche Untersuchungen am Boden Aufschluss bringen könnten, von welchem Satelliten oder welcher Raketenstufe dieses Objekt stammte. Danach räumte er das Feld und reihte sich wieder hinten ein.

Ein Vertreter der FAZ wollte wissen, wie man mit der zunehmenden Bedrohung durch Weltraumschrott in Zukunft umzugehen gedenke und wie viele neue gefährliche Bruchstücke durch die Kollision erzeugt worden wären. Markus dachte bei sich: Warum habe immer ich das Pech, die schwierigsten Fragen zu bekommen. Er überlegte einen Moment und antwortete dann, dass es mehrere Ansätze gäbe, dem Problem zu Leibe zu rücken. Er zählte einige Pläne auf, die große Netze, starke Magneten oder bodengestützte Laser einsetzen wollten, um Partikel einzufangen oder aus der erdnahen Umlaufbahn zu schießen. Eine weitere Methode sei in der Diskussion, nach der Wolfram-Partikel in die Umlaufbahn geschossen werden sollten, die sich an leichtere Partikel anheften und diese rascher auf niedrigere Umlaufbahnen und zum Verglühen in der Atmosphäre bringen sollten. Er erklärte, dass diese Ansätze aber alle noch nicht so ausgereift seien, als dass in absehbarer Zeit eine Erprobung anstehen könnte. Bis das der Fall sei, müsse man also weiterhin in die radargestützte Erfassung der Trümmerteile investieren. Diese würde in den nächsten Tagen sicher auch aufzeigen können, welche neue Trümmerlast durch die Kollision hinzugekommen sei.

Markus hatte das Gefühl, seine Antwort sei nicht sehr überzeugend gewesen, aber der Journalist war offensichtlich schon zufrieden, seine Frage gestellt zu haben.

Anatoli beantwortete die Frage einer Reporterin des größten japanischen Fernsehsenders NHK, die wissen wollte, ob die Gefahr weiterer Einschläge gebannt sei. Die letzte, die von einem weiteren russischen Journalisten kam, übernahm Grigorij. Auf die Frage, ob er das Ende der Mission und die Rückkehr zur Erde noch erwarten könne, lächelte er und erklärte, dass er sich natürlich sehr auf das Wiedersehen mit seiner Familie freuen würde und er sicher sei, dass es seinen Kollegen ähnlich gehe. Die Mission sei aber noch nicht zu Ende, und man könne ja nicht einfach den nächsten Bus nach Haus nehmen. Er habe wie die gesamte Crew hart gearbeitet, um an dieser Mission teilnehmen zu können, und für ihn und seine Kollegen gehe es in der verbleibenden Zeit darum, die Mission erfolgreich abzuschließen.

Pünktlich nach dreißig Minuten beendete NASA Chef Craford die Fragerunde, bedankte sich bei den anwesenden Journalisten und der Crew. Baranow verlas dann noch ein kurzes Grußwort an die Crew, das gemeinsam von den Regierungs-Chefs der ISS-Partnerstaaten verfasst worden war.

Zum Abschluss bedankte sich auch Aleksei, verabschiedete sich im Namen der Crew und schaltete die Kamera aus.

»„Ich hasse Pressekonferenzen“«, seufzte Kathy beim Abendessen.

»Was ist eigentlich Dein Problem?«“, fragte Josh. »Du hast das doch eben routiniert über die Bühne gebracht“.«

»„Ich weiß auch nicht, irgendwie habe ich immer das Gefühl einer Horde Geier gegenüberzutreten, die nur auf Tod, Sex, Sensationen und Katastrophen aus sind. Schau Dir doch mal die Berichterstattung der großen Nachrichtensender bei Katastrophen an, bei Flugzeugabstürzen, Erdbeben, Tsunamis oder Ähnlichem. Da wird rund um die Uhr direkt aus dem Katastrophengebiet berichtet, geschockte Menschen werden vor die Kamera gezerrt und interviewt, und manchmal dabei auch noch die Rettungsarbeiten behindert“.«

»„Mag sein, aber alle sitzen vorm Fernseher und schauen sich das an. Das ist halt Angebot und Nachfrage. Die Einschaltquoten bestimmen das Programm“«, gab Josh zurück.

Kathy fuhr fort: »„Die Moderatoren sitzen mit mitfühlender Mine vor der Kamera, aber ich kann nicht umhin zu unterstellen, dass sie sich innerlich riesig darüber freuen mal wieder eine Prime Story zu haben.“«

»Komm, sieh es mal so, ohne diese Berichterstattung würde von vielen humanitären Katastrophen kaum jemand erfahren«“, wandte Josh ein, »„dann gäbe es auch keine Spendengelder!“«

»„Die Information möchte ja auch jeder haben, aber es wird dann bis zur Erschöpfung darüber berichtet. So lange, bis wirklich niemand mehr etwas darüber hören oder sehen mag. Und dann wird das Thema einfach wie eine heiße Kartoffel fallen gelassen und man hört nie mehr etwas davon - obgleich das Elend dann oftmals erst beginnt“.«

Josh öffnete den Mund um etwas zu erwidern, aber Kathy ließ sich nicht bremsen:

»„Und wenn gerade keine Katastrophen zur Hand sind, macht man sich welche: Waldsterben, Vogelgrippe, Klimawandel, oftmals aufgebauscht durch sensationshungrige Medien unter dem Deckmantel eines seriösen Journalismus, und nach einigen Wochen oder Monaten exzessiver Berichterstattung stillschweigend unter den Teppich gekehrt“.«

»Du verallgemeinerst unzulässig, es gibt durchaus seriöse Berichterstattung, das Angebot ist umfassend, Du kannst Dir aussuchen, woher Du Deine Informationen beziehst. Du bist selbst dafür verantwortlich, was Du konsumierst“!«

»Du kannst Dich dem doch in Zeiten des globalen Dorfes kaum noch entziehen. Überall wirst Du doch damit zugeschüttet, Fernsehen, Printmedien, Radio, Internet ...«

»„Willst Du etwa zurück zu Buschtrommeln und Signalfeuer?“«

Die Diskussion entwickelte sich zusehends zu einem Streitgespräch und der Ton wurde gereizter. Markus suchte, nachdem er gegessen hatte, rasch das Weite. Er hatte wegen der Pressekonferenz einen Bericht zu seinen Experimenten nicht mehr fertigstellen können, und verließ unter diesem Vorwand das Swesda-Modul. Als er sich aufmachte, erhoben sich auch Aleksei und Anatoli, die erklärten, noch eine Partie Schach spielen zu wollen, und auch Grigorij machte nicht den Eindruck, noch lange bleiben zu wollen. Markus begab sich ins Columbus-Modul und komplettierte seinen Bericht. Als er fertig war, erwog er einen Moment die verbleibende Zeit mit Aleksei und Anatoli beim Schach zu verbringen. Der Sieger der Partie würde aber ohnehin schon feststehen, und das einzige Spannungsmoment, das sich daraus nährte, wie lange Anatoli sich behaupten konnte, war begrenzt. Markus beschloss, zur Entspannung lieber noch etwas Musik zu hören, einen Facebook-Eintrag zu machen und einige Gedanken seinem Tagebuch anzuvertrauen. Später sollte Markus sich an diesen Tag als einen der letzten erinnern, an dem es noch so schien, als könne alles wieder in Ordnung kommen.

Im Bereich des Unmöglichen

Подняться наверх