Читать книгу Fünf Minuten vor Mitternacht - Celina Weithaas - Страница 10

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Der harte Aufprall entlockt mir ein Wimmern. Das Brennen eines ungekannten Schmerzes zieht sich über meinen Rücken und mein Fußgelenk. Ich rieche Qualm, stickigen, grausamen Qualm, versetzt mit dem Geruch von schreiendem, flehendem Fleisch, das in Flammen aufgeht. Der beißende Gestank hat sich in meinen Kopf gefressen und verharrt dort, die Finger unnachgiebig in meine Erinnerungen gegraben.

„Himmel, Chrona!“ Achim? Ich reiße die Augen auf und suche verzweifelt sein Gesicht, brauche diese Nähe und Sicherheit, die er mir gibt mehr denn je. Diese Gewissheit, dass das alles nur ein böser Traum war, ich nie aus dem Bett geklettert bin und mir nie fremde Männer die Kleidung vom Leib gerissen haben. Dass man mich nie an einen Baumstumpf kettete und anzündete. Neben mir, um mich herum, sind nie Frauen verbrannt, die nichts getan haben. Die nur dort saßen und denen die Haut vom Körper floss wie Wachs. Das fassungslose Japsen des ungepflegten Mannes. Eyne Hex. Die deutsche Sprache, so entstellt, dass ich sie ansatzweise verstanden habe. Allerdings lediglich der vielen Stunden mit einem guten Lehrer wegen. Nur ein Traum? Nur Einbildung? Nie habe ich mir etwas mehr gewünscht.

Achim klettert aus dem Bett und hockt sich neben mich. Seine Hände fahren meine nackten Arme rauf und runter, bringen wieder Wärme in meinen Körper, während ich versuche mich in seinen erschöpften, blauen Augen zu verlieren. Der Schatten verzweifelter, schmerzerfüllter Schreie kettet mich an die Schmerzen, die kribbelnd und beißend durch meinen Körper rasen. „Wo ist dein Schlafanzug?“, flüstert Achim und streicht mir die Haare aus dem Gesicht. Ich will ihm sagen, dass ich mein Nachtzeug trage, so dringend. Diese Behauptung wäre eine offensichtliche Lüge. Der Pyjama liegt, ordentlich gefaltet, auf einem Stuhl. Der Schrank steht ein Stück offen, einen leeren Kleidersack neben sich. Mein Mantel wurde vom Erdboden verschluckt. Die Zehen tun mir weh. Ich trage Schuhe. Sie stinken bestialisch. Dreck, halb verkrustet, haftet an den schimmernden Riemen, zieht sich über meine Waden und meine Hände. Das Herz springt mir aus der Brust, als ich mein Bein eine Winzigkeit drehe. Brandblasen. Weiß, groß, frisch. Mir wurden nie zuvor welche zugefügt. Ich könnte diese Male keinem Geschehen zuordnen, hätte ich nicht den Gestank von brennendem Fleisch in der Nase und wüsste ich nicht zu gut, dass es nur ein paar Minuten mehr gekostet hätte, damit auch meine Haut wie Wachs vom Fleisch hinabtropft.

Achim schüttelt leicht den Kopf und berührt die dünne Kruste aus Schmutz. „Was ist das?“ Langsam klärt sich sein Blick, die Finger schnippen die dünnen Schuppen aus Erde und Fäkalien von meinem Körper. Ich bringe kein Wort hervor. Das kann nur ein schrecklicher Traum sein. Und er will einfach nicht enden. Ich liege in meinem Bett und schlafe. Das alles spielt sich innerhalb meines Kopfes ab. Das hier geschieht nicht wirklich. Achims Mund öffnet sich nicht in Fassungslosigkeit und ich hocke nicht nur mit Unterwäsche und Schuhen bekleidet vor ihm, Brandblasen an den Knöcheln und am Rücken. Eigentlich drücke ich gerade jetzt den Kopf auf seine Brust, während er einen Arm um mich schlingt. In Wirklichkeit liege ich friedlich schlummernd unter Decken und rätsle, wie dieser Traum entstehen konnte. Wer ihn in meinen dösenden Geist gepflanzt hat. Ich stinke nicht nach Dreck, sondern nach Champagner und gutem Parfum.

„Chrona, was ist das auf deinen Schuhen?“ Alles nur ein Traum. Ich vergrabe das Gesicht in den Händen und atme gegen mein rasendes Herz an. Gleich schreckt der Wecker mich auf oder mein Kindermädchen. Vielleicht auch eine der Visagistinnen oder Achim selbst. Vermutlich steht er gerade jetzt im Badezimmer und rasiert sich, schenkt mir noch ein paar letzte Minuten Ruhe, bevor ich mich dem Ankleiden und der Gesellschaft widme.

„Chrona“, wiederholt er meinen Namen und zieht sanft aber bestimmt die Hände von meinem Gesicht. „Was ist passiert? Wo warst du?“ Zögernd vergräbt Achim die Nase in meinem Haar. „Du riechst nach flambiertem Fleisch.“ Die Frauen haben geschrien, so laut. So laut! Bis meine Ohren klingelten. Bis ich ihr Leid in meinen Knochen gespürt habe. Es war nur Einbildung. Keine Wirklichkeit. Wir schlafen. Achim schüttelt mich leicht. „Liebste, hörst du mich?“ Ich nicke fahrig und drücke das Gesicht an seine Halsbeuge. Gleich wache ich auf. „Wo warst du?“ Er zeichnet ein Muster an meinen Oberarmen nach. Träge drehe ich den Kopf. Blutergüsse in der Form von Fingern, die sich um meinen Körper geklammert haben. Ich wimmere leise auf. Das ist alles nicht real. Gleich weckt Achim mich. Nichts von dieser Nacht fühlt sich wirklich an. Also ist es nie geschehen. Ich weigere mich das Leiden bei Finsternis als Realität zu begreifen.

„Kannst du mich bitte wecken?“, flüstere ich. Flehend klammere ich mich an Achims Schultern. „Von mir aus kneif mich oder betätige den Wecker, aber ich muss aufwachen.“ Achim runzelt die Stirn. „Hast du Rauschmittel zu dir genommen?“ Ich verstehe nicht, was er meint. „Chrona, eine ganz einfache Frage.” Sein Daumen drückt gegen die weiche Stelle über meiner Kehle. „Wo warst du? Woher kommt das alles?“ Ich kichere auf, klinge wie eine Wahnsinnige, die nicht an Achims Seite lehnen sollte. Es muss endlich vorbeigehen! Vielleicht indem ich das ausspreche, was geschehen ist? Das Unmögliche in Worte fasse. Dann wird der Albtraum offensichtlich. Ich würde in Wirklichkeit niemals den Mut aufbringen, so etwas Absurdes von mir zu geben. Niemals würde mir etwas in dieser Art geschehen. Die Welt liebt mich. Nicht einer würde mich in Flammen stehend sehen wollen.

„Ich war draußen.“ Meine Stimme klingt heiser, als hätte ich Männer mit schmutzigen Händen und grausamen Absichten aus Leibeskräften angebrüllt. „Es hat geregnet.” Die Nässe ist mir vom Leib getrocknet. Qualm übertüncht den Gestank von Abgasen. „Als ich gestolpert bin, war ich in Deutschland, irgendwann vor dieser Zeit.“ Ein hysterisches Wimmern. Es kann nicht von mir stammen. Ich verliere nie die Beherrschung. „Sie wollten mich als Hexe verbrennen.“ Und ich spreche nie von Unmöglichkeiten.

Achim rückt eine Winzigkeit von mir ab. Fahrig halte ich ihn fester. Die Hitze seiner Haut ist alles, was zwischen mir und einer unbegründeten Panikattacke steht. „Du bist ja völlig durch den Wind.“ Sanfte Worte. Behutsam streicht er mir durch das Haar, schweigt, rätselt. Mühsam versuche ich mich zu beruhigen. Das Herz donnert mir gegen die Zungenspitze. Zittrig atme ich ein. Ich liebe diesen Gesichtsausdruck an ihm. Er verspricht mir, dass Achim nach einer Lösung sucht und sie finden wird. Dieser Mann wird mich in Sicherheit bringen und all diese grausigen Momente in das Reich der Träume verbannen. Mehr sind sie nicht. Illusionen, Einbildungen, dem Alkohol oder Drogen geschuldet.

„Komm, ich bringe dich ins Badezimmer.“ Ich nicke nur, schaffe es nicht, einen Finger zu rühren. Eigentlich schlafe ich noch immer. Achim gibt keinen Laut von sich, während er mich hochhebt, den einen Arm unter meinen Beinen hindurchschiebt, den anderen unter meinem Rücken, und mich auf diese Weise Schritte später in der Badewanne absetzt. Etwas ungeschickt öffnet er die Riemchen meiner Schuhe und zieht sie mir aus. Ein Strohhalm fällt auf die weiße Keramik der Wanne. Nichts weiter als Einbildung. Was hat man mir in das Getränk gemischt und wer ist schuldig? Der ärmliche Italiener, mit Sicherheit. Er kann kaum geladen gewesen sein. Unerlaubt hat er sich in diesen Saal gestohlen, um mir meinen guten Ruf zu nehmen. Ein Vorhaben, das ihm nicht gelingen wird.

„Warst du in einem Stall?“ Achim rümpft leicht die Nase, während er das Wasser einlässt. Es ist zu warm, heiß, fast unerträglich, sticht in meine Haut wie gierige Flammen, die nichts anderes im Sinn haben, als zu fressen, was ihnen vor das Maul kommt. Ich schüttle den Kopf und verschränke schützend die Arme vor meiner Brust. Dieses gierige Feuer, es war nicht mehr als eine grausame Bestie in meinen Träumen.

Ich reguliere die Wassertemperatur und lehne mich gegen das kühle Material der Wanne. Ein beißendes Brennen kriecht meine Wirbelsäule hinauf. Das Lecken der Flammen drängt sich zurück in meine Gedanken. Wie es sich nach oben kämpfte, um mir die Haut von den Knochen zu schmelzen, mich in Flammen aufgehen zu lassen. Als wäre ich nur ein weiteres wertloses Stück Holz. Achim hockt neben mir und träufelt ein wenig von dem Granatapfelextrakt in die Wanne. Gemeinsam beobachten wir, wie das Rot sich in Blüten ausbreitet, sich aufbauscht, zu einer großen Wolke wächst und schließlich die helle Keramik hinaufbrandet, als hätte es nie etwas anderes getan. Der Strohhalm treibt gegen meine Bauchdecke. Eine Erinnerung. Die Erinnerung an eine grausame Nacht. Nur Einbildung. „Weißt du, wie spät es ist?“, frage ich Achim irgendwann, als die Schmerzen erträglich werden und der säuerlich-fruchtige Duft den Gestank von verkohltem Fleisch aus meiner Nase getrieben hat.

Er zuckt die Achseln, eine seltene, ratlose Geste. Ist Achim bezüglich dieser absurden Situation bereits zu einem Ergebnis gelangt? „Komm doch mit rein.“ Ich brauche seine Nähe. Vielleicht weckt sie mich aus diesem elenden Traum. Ich habe nicht damit gerechnet, dass Achim meiner Bitte tatsächlich nachkommt. Er zieht sich das Oberteil des seidenen Pyjamas über den Kopf und dann die Hose aus. Eine unvergleichliche Verfehlung. Achim akzeptiert sie, ich auch, mitten in der Nacht, noch halb im Schlaf, nicht fähig dieser Versuchung zu widerstehen. Er steigt zu mir in das aufschäumende, blutig rote Wasser und setzt sich hinter mich, beide Arme um meine Hüften geschlungen. In einer fast zögernden Bewegung legt er das Kinn auf meiner Schulter ab. Sein langsames, gleichmäßiges Atmen erinnert mich an meine eigene Erschöpfung. Zäh drängt sich die Müdigkeit an dem schmerzhaften Brennen von Knöcheln und Rücken vorbei. In einer beruhigenden Stetigkeit fließt das Wasser in die Wanne, ein angenehmes Hintergrundrauschen, ähnlich wie das Fahren von Autos und das Plätschern von Regen. Achim tippt den kleinen Strohhalm vor meinem Bauch an. In einem tiefen Seufzen senkt sich seine Brust. „Du solltest die Augen schließen. Es ist spät.“ In wenigen Stunden muss ich am Tisch zum Brunchen erscheinen, bereit für leichte Konversation und erfolgversprechende Investitionen. Mein Kopf nickt von ganz allein. Wenn ich das nächste Mal aufwache, dann liege ich in meinem Bett, Achim neben mir. Ein Zimmermädchen wird mich wecken oder im schlimmsten Fall der Wecker, sollten die Angestellten ihre Pflicht versäumen. Achim küsst meinen Hals, während seine Finger meine Arme hinauf und hinunter fahren, den Schmutz fortwaschen, der ebenso irreal ist wie diese gemeinsamen Momente in der Badewanne. Mutter würde den Verstand verlieren, wüsste sie, dass mein Verlobter und ich gemeinsam ein Bad nehmen. Es widerspricht jedem Anstand. Sollte jemals jemand hiervon erfahren… Ich möchte mir darüber nicht den Kopf zerbrechen. Nicht jetzt, während ich seinen warmen Körper an meinem spüren darf, Schmerzen in den Venen, die mir den Atem rauben. Das leise Plätschern des Wassers, kaum dass wir uns bewegen, und das Rauschen des Wasserhahns lassen mich einnicken. Ich spüre das Gewicht von Achims Kopf auf meiner Schulter, während ich der Erschöpfung nachgebe.

„Um Himmels Willen!“ Ich reiße die Augen auf und fahre nach oben. Ein leises Schwappen von lauwarmem Wasser, das meine Haut restlos aufgeweicht hat. Hinter mir drückt Achim mich ein Stück von sich und macht Anstalten, sich zu erheben. „Es wäre freundlich, würden Sie mir ein Handtuch reichen und vor der geschlossenen Tür auf mich und die Dame warten“, sagt Achim glatt, während ich noch versuche, mich an das grelle Licht zu gewöhnen, das unbarmherzig auf uns hinabstrahlt. Das Zimmermädchen nickt hastig. Kramen wird laut, dann das Schließen der Tür. Achim atmet erleichtert auf und steigt aus der Wanne. Das Wasser spielt seine Melodie und lässt mich schaudern. Die Müdigkeit hängt in Wolken über mir.

„Kommst du raus?“ Bei Achims Frage hebe ich träge den Kopf. Der Schaum hat sich aufgelöst. Durch die rötlichen Wellen fällt es leicht, meine Knöchel zu erkennen. Brandblasen ziehen sich den linken hinauf wie ein grausiges Tattoo. Der Strohhalm piekt mich in den Bauch. Ich schlafe noch immer. Meine Oberarme haben inzwischen eine bläuliche Färbung angenommen. Mein rechtes Knie ist oberflächlich aufgeschürft, den Rücken will ich nicht näher betrachten. Mein Zustand bleibt unwirklich, so sehr, dass es mir nicht einmal gelingt, auf die Füße zu kommen. Wie skurril, obskur, krankhaft doch das Ganze hier ist. „Chrona? Komm bitte her.“ Achim hält mir ein Handtuch auf. Das eigene hat er sich bereits um die Hüften gebunden. Allein sein autoritärer Tonfall lässt mich gehorchen. Dieser kühle Unterton, der keinen Widerspruch duldet, zieht mich an Fäden auf die Beine, als wäre ich eine willenlose Marionette. „Natürlich.“ Meine Stimme klingt hölzern und so weit entfernt wie diese ganze, seltsame Situation.

Ganz der Gentleman, zu dem er erzogen wurde, hilft Achim mir aus dem Wasser und legt mir das Handtuch um die Schultern. „Ich schicke dir die Bedienstete herein.“ Nicke ich? Achim haucht mir einen sanften Kuss auf den Mund. „Wir sprechen später.“ Es zieht wie in einem Nebel an mir vorbei, wie er geht und sie kommt, irgendetwas zu mir sagt und auf eine Antwort wartet, die ich ihr nicht geben kann. Ein statisches Rauschen hat sich in meine Ohren geklammert und lässt mich dumpf geradeaus blicken.

Etwas unwirsch drückt sie mich auf den Stuhl vor dem Spiegel und beginnt damit, mich zurechtzumachen. Meine Unterlippe wurde aufgebissen. Während ich geschrien habe? Es braucht Unmengen von Make-Up, um die Male an meinen Armen zu überdecken und mit jedem Tupfen, jedem Pinselstrich, jeder Berührung, kehre ich ein Stück mehr in dieses Badezimmer zurück, in dem sie mich zurechtmacht für den Brunch. Ich kehre mit dem Kopf zurück in eine Welt, in der ich Blessuren trage, die nicht hierhergehören.

Ein weiteres Mädchen erscheint, sorgt sich um mein Haar, die nächste sich um die demolierten Fingernägel. Wann genau sind sie abgebrochen? Die Brandwunde an meinem Rücken bringt die Angestellten zum Tuscheln. Sie tragen eine Lotion auf. Für den heutigen Brunch war ein kurzes, rückenfreies Kleid angedacht. Es fühlt sich an, als müssten wir umdisponieren.

Mein Kindermädchen spricht mit mir. Das mausbraune Haar fällt ihr in die müden Augen. Wie lange sie letzte Nacht wohl wach war? Als ich bemerke, dass sie auf meine Antwort wartet, richte ich mich auf. „Entschuldige bitte, was hast du gefragt?“ Sie verzieht den Mund. Der Lippenstift wurde nicht sorgfältig entfernt. Dünne Farbspuren, unsichtbar auf die Entfernung, ziehen sich unsauber um ihren Mund. „Woher Ihr diese Brandwunden habt.“ Aus dem deutschen Mittelalter. Der Gedanke lässt mich um ein Haar kichern. „Ich weiß es nicht.“ Oder habe zumindest keine taugliche Erklärung dafür. „Es könnte schwierig werden Euch in dem geplanten Kleid makellos wirken zu lassen“, wirft eine mir unbekannte Angestellte ein. Verbindlich lächle ich sie an. „Ich bin zuversichtlich, dass die Besten dazu fähig sein werden, einige Wunden verschwinden zu lassen. Andererseits sind sie kaum die Besten und sollten ihr Handwerk nicht an mir erlernen.” Meine Aussage ist unmissverständlich. Die Bedienstete presst die Lippen fest aufeinander. Blicke werden getauscht, deren Bedeutungen mir momentan gleichgültiger nicht sein könnte. Es dauert Ewigkeiten, bis der Großteil der Angestellten das Badezimmer verlassen haben und mich mit einem Zimmermädchen alleinlassen.

„Ich habe einen Brief für Euch erhalten”, sagt es. „Er lag auf der Schwelle zu Ihrem Apartment.“ Stur betrachte ich mein Spiegelbild. Ich möchte die Zeilen nicht lesen. Nichts weiter als mein Name prangt auf dem blütenweißen Umschlag. Nummer sieben und allein bei dem Gedanken an den möglichen Inhalt dreht sich mir der Magen um. Die ersten Worte des gestrigen Briefes stehlen sich in meine Erinnerung.

Der Mond treibt mich zur Turmuhr. Oh schlüge sie die Stund, oh kämest du, mein Engel, hinab vom Himmel.

Haftet der Gestank von verbranntem Fleisch noch immer an mir? Das Wasser ist aus der Wanne gelaufen. Vereinzelte rote, duftende Striemen sind auf der hellen Oberfläche zurückgeblieben. Gemeinsam mit einem einsamen Strohhalm.

„Ich lasse Euch einen Moment allein“, sagt die Angestellte. Sie knickst vor mir. Meine verlängerten und neu modellierten Fingernägel kratzen an dem Papier und reißen es auf. Der Inhalt ist vergilbt. Die Handschrift lässt mich stutzen. Handelt es sich um meine eigene? Unmöglich. Ich zittere am gesamten Körper, als ich zu lesen beginne, atemlos und restlos aus dem Konzept gebracht. Nie habe ich einen Brief geschrieben und ihn an mich adressiert. Eine kranke Fälschung?

„Es wird für mich schwer werden, das Folgende nachzuvollziehen. Der Gedanke mir die Vorfälle selbst zu erklären, imponierte mir. Schlussendlich ist es simpel: Manche Flüche sind die größten Geschenke und ich wünsche mir nichts, als dieses Geschenk in das zu verwandeln, was es tatsächlich ist. Ich kann versichern, dass mir lediglich bei meinem ersten Sprung ernstzunehmende Verletzungen zugefügt wurden. Jede Zeit beinhaltet ihren eigenen Zauber und ihre eigenen Tücken. Die Kontinuität zu erkennen und die Sprünge zu lenken, ist das Ziel, bei dem ich tatkräftige Unterstützung finde. Ich bringe die Bitte an, dem zu vertrauen, der es bei dem nächsten Vorfall dieser Art anbietet. Was ohne diese Unterstützung geschieht, will ich nicht erfahren müssen. Es ist seine ganz eigene Qual zu wissen, dass jede neue Entscheidung alles bis hierher Erlebte in ein neues, kaum verständliches Licht rücken wird, weswegen Affekte dringend zu vermeiden sind. In keiner Zeit werde ich allein sein. Die Sprünge sind nichts, was gefürchtet werden muss. Man sollte über sie schweigen.“

Keine Unterschrift. Sie ist nicht notwendig. Das hier ist meine Schrift. Diesen Ausdruck erlernte ich mühsam durch meine Eltern und Achim. Dieser Brief ist der Beweis dafür, dass jemand ein grausiges Spiel mit mir treibt. Ich würde diesen Wortlaut wählen. Allerdings würde ich argumentieren. Wäre ich daran interessiert, mir selbst einen Sachverhalt zu erläutern, täte ich es verständlich und fundiert. Wer auch immer das hier verfasst hat, wünscht sich, mich in den Wahnsinn zu treiben. Diesen Gefallen werde ich ihm nicht tun. Ich straffe die Schultern. Meine Eltern müssen von diesem Brief erfahren.

Eine Strafanzeige muss erstattet, mein Blut auf Spuren von möglichen Rauschgiften untersucht werden. Ich weigere mich das momentane Geschehen tatenlos hinzunehmen. Die unumstößlichen Fakten liegen auf dem Tisch: Jemand muss mich betäubt und verbrannt haben, um mir genau die Verletzungen zuzufügen, die in meinem verworrenen Hirn Gestalt angenommen haben. Wer weiß, was diese Person als nächstes vorhat. Wurden Fotos geschossen? Wenn an die Öffentlichkeit gelangt, wie ich in Unterwäsche und Schuhen bekleidet dasitze, sind sinkende Kurse mein geringstes Problem.

Nichts könnte mein vorheriges Image wiederherstellen.

Sollten Bilder von mir existieren, wie ich zugedröhnt auf dem Boden kauere, wird meine künftige Hochzeit noch weiter in den Hintergrund rücken als ohnehin schon. Diese Form eines Rauschgiftskandals, dessen Gesicht ich wäre, dürfte man nicht an Achim binden. Nicht nur mein Ruf würde leiden. Auch seiner. Von der Person, die diese Fälschung verfasst hat, hängt vieles ab. Mein Wohl, mein Leid, die unbeantwortete Frage, ob ich erneut fantasieren werde und neue Wunden davontrage. Wie sehr muss man einen Menschen hassen, um ihm diese Form der Qualen zuzufügen? Vermutlich war ich gestern Nacht zu betrunken, bin deswegen auf die Straße gegangen. Dort wurde ich abgefangen, unter Drogen gesetzt, misshandelt und letzten Endes unbemerkt zurück in dieses Apartment getragen, in dem Achim mich fand. Was soll ich Achim erzählen? Wie ihm das Ganze erklären? Sollte er von meinen Vermutungen erfahren? Wenn es jemanden gibt, der den passenden Anwalt und den Täter finden kann, dann ist er es.

Wann immer ich Hilfe benötige, soll ich mich an ihn wenden. Achim bat mich selbst darum. Meine Eltern wiesen mich auf diese Möglichkeit hin. Der Mann an meiner Seite ist ein brillanter Jurist. Ich sollte das für meine Zwecke nutzen. Um noch einen Vorfall dieser Art zu vermeiden.

Aber wann in den nächsten Stunden soll ich diese Problematik mit Achim thematisieren? Zu bald müssen wir in den Wagen steigen, der uns zu dem Brunch fährt.

Das erste Mal in meinem Leben fühle ich mich nicht bereit dazu. Dieser Brief zerstört mich. Dieses Erlebnis, an das ich mich nicht einmal richtig erinnere, es zersetzt mich. Was von diesen Eindrücken zurückgeblieben ist, könnte mich ruinieren.

Ein leises Klopfen an der Badezimmertür. „Darf ich Euch bitten, zu uns zu stoßen?“ Das Holz verzerrt die Stimme des Zimmermädchens. Meine Finger zittern erbärmlich, während ich den Brief zusammenfalte. Wohin damit? Jetzt kann ich ihn niemandem vorzeigen. Wer weiß, ob die Presse davon Wind bekommt. Es bräuchte einen ruhigen Moment und diese sind rar. Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt für diesen Brief, auf keinen Fall. Das Risiko, dass das Geschriebene gefunden wird, bleibt unkalkulierbar, und die Gewissheit, dass mir in naher Zukunft ein weiteres Exemplar zugestellt werden wird, ist kaum in Worte zu fassen.

Von allein betätige ich den Wasserhahn und durchweiche den Briefbogen, beobachte, wie die Tinte in blauen Schlieren durch den Abguss wandert und das Papier flockig hinterherschwimmt.

„Einen Moment.“ Ich muss die Ruhe wiederfinden, die ich für gewöhnlich in mir trage, sonst wird der heutige Vormittag ein Fiasko. Der Rock des Kleides, das sie mir routiniert anzogen wie einer Schaufensterpuppe, bauscht sich um meine Beine. Die Blasen an meinen Knöcheln wurden geöffnet und überdeckt. Ich kann mich an diese mit Sicherheit schmerzhaften Handgriffe nicht mehr erinnern. Die für das Kleid angefertigten Schuhe werden draußen auf mich warten. Ebenso wie Achim.

Er schenkt mir ein schwaches Lächeln, als ich mich zu ihm und den Mädchen geselle. Sie haben das Bett bereits gemacht und das Fenster zum Lüften angekippt. Eine von ihnen – ich habe sie bisher zwei, drei Mal gesehen – beeilt sich, mir meine Schuhe zu bringen und anzuziehen. Sie sind vorne geschlossen. Niemand wird die aufgerissene Nagelhaut um meine Zehen herum sehen können.

Achims dargebotenen Arm nehme ich dankend an. Hilfesuchend lehne ich mich an ihn, während die Türen des Aufzugs aufgleiten. Mit diesem Fahrstuhl bin ich gestern nach unten gefahren. Er hat mich auf die Straße und damit in die Hölle verfrachtet. Ich kann unmöglich sagen, was schrecklicher wäre. Wenn sich jemand an mir vergangen hätte oder ich tatsächlich in dem mittelalterlichen, höchstens barocken Deutschland gelandet wäre.

Beides wäre unmöglich genug, um mir diese Male zuzufügen. Wunden, die die Mädchen mühsam und feinsäuberlich überdeckt haben. Nur einen Unterschied sehe ich zwischen den beiden grauenvollen Möglichkeiten der letzten Nacht: letzteres ist schlichtweg unmöglich. Eine Reise durch Zeit und Raum darf nicht Teil der Wirklichkeit sein. Ich lebe in einer aufgeklärten, hochwissenschaftlichen Welt und selbst wenn zahlreiche Meinungen rund um Mögliches und Unmögliches vertreten werden, sind sich Wissenschaftler doch einig bezüglich dieses Aspekts, dass Zeitreisen in einen Fantasyroman gehört. Nicht in das alltägliche Leben eines Mädchens, das im Fokus der Öffentlichkeit lebt.

Fünf Minuten vor Mitternacht

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