Читать книгу Fünf Minuten vor Mitternacht - Celina Weithaas - Страница 11
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Man erwartet uns an gedeckten Tafeln. Die weißen Tischtücher flattern in einem sanften Luftzug, als wir den Raum betreten. Uns werden die Mäntel abgenommen und an die Garderobe gehangen. Jeder scheint mich anzustarren. Als wüssten sie alle, unter welchen Umständen ich die Nacht verbracht habe. Was ich durchstehen musste. Die italienische Familie Riva mit ihrem äußerst verdächtigen Sohn Gioseppe sitzt am Tisch und betreibt leichte Konversation mit meinen Eltern. Der spanische Monarch, die schwarzen Haare glatt gegelt, schweigt angelegentlich und nippt an seinem Sektglas, während die ungarischen Oligarchen uns mit einem zu herzlichen Lächeln empfangen.
Achim steuert geradewegs auf unsere Gäste zu und ich folge ihm stumm, momentan nicht fähig eine Entscheidung zu treffen. Ich stehe unsicher auf den Beinen, obwohl der Absatz meiner Schuhe nicht höher als gewohnt ist. Die Knopfleiste des Kleides reibt an der Brandwunde über meiner Wirbelsäule und die Haut an meinem Unterschenkel dehnt sich schmerzhaft bei jedem Schritt. „Úr Gabarscek.“ Achim verneigt sich nicht vor dem dicklichen Ungarn. Achim gibt ihm die Chance, zuerst die Hand zu reichen. Unser Gast nimmt die Ehre an. „Mr. Jameson, es ist mir eine Freude“, sagt Mister Gabarscek mit schwerem Akzent. Der ungarische Oligarch sollte sich erheben, stattdessen nippt er an seinem Glas und lehnt sich entspannt zurück. Achims Nachname klingt seltsam aus seinem Mund, zu gerollt und kantig zugleich. Mein Verlobter zuckt bei Mr. Gabarsceks Verfehlung nicht mit der Wimper.
Ich lasse mich von Achim zu den Plätzen gegenüber von meinen Eltern führen. Mutter schenkt mir ein warmes Lächeln, Vater ist vertieft in das Gespräch mit einem mir unbekannten Mann, der die Ärmel seines Hemdes nach oben gerollt hat, anstatt sie ordnungsgemäß mit Manschettenknöpfen zu schließen. Gioseppe Riva grinst mich an, als hätte ich ihm nie verdeutlicht, dass seine Anwesenheit unerwünscht ist. Ich widme Gioseppe nicht einmal ein Nicken. Sollte er derjenige sein, der für die gestrige Nacht verantwortlich war, werde ich nie wieder ein Wort mit ihm wechseln müssen. Vorwurfsvoll drehe ich mich um. Ein Kellner zieht meinen Stuhl hervor und ich lasse mich darauf sinken. Die Knöpfe seiner Jacke glänzen, das Stofftuch über seinem Arm ist blütenweiß. „Wünscht die Dame Sekt oder Saft?“, fragt er mich. Kein Alkohol und Säfte sind schlecht für meine Figur. „Ein Wasser, bitte.“ Der junge Mann, dessen Uniform ein wenig an der zu schmalen Gestalt schlackert, verneigt sich vor mir und eilt davon, um meinem Wunsch nachzukommen. Derweil wird Achim sein Sekt eingeschenkt. Anstatt einen Schluck zu nehmen und zu probieren, lässt er ihn unberührt und wendet sich dem ungarischen Oligarchen zu.
„Es war eine angenehme Überraschung zu erfahren, dass Sie Zeit fanden, zu diesem Essen zu erscheinen, Úr Gabarscek“, sagt Achim glatt und schenkt dem reichen Ungarn das einstudierte Lächeln, das Achims Augen charmant zur Geltung bringt. Der Ungar prostet ihm zu. „Hier geht es um Geschäfte und Essen. Ich liebe beides.“ Das sieht man. Konzentriert halte ich mein Gesicht unbewegt. Noch einen Zentimeter mehr und das Jackett lässt sich nicht mehr schließen. Die Knöpfe spannen bereits besorgniserregend. Sein Kollege lacht gekünstelt. „Es ist uns eine große Freude, die junge Hölgy Clark kennenzulernen.“ Ich straffe leicht die Schultern. Hölgy bedeutet Dame. Ich sollte mich wie eine zu benehmen wissen und nicht weiter den Illusionen einer vergangenen Nacht hinterherhinken.
„Èn is.“ Die Ehre ist ganz meinerseits. Mehr gibt mein winziger ungarischer Wortschatz nicht her. „Von Ihnen darf man üblicherweise nur in den Nachrichten hören, Ùr Garbarscek.“ Der andere Bruder, der dickliche, lacht heiser und so herzlich, dass der Sekt in seinem Glas schwappt. „Meistens Schlechtes“, keucht er. Kleine Schweißperlen stehen ihm auf der Stirn. Er sollte sie sich abtupfen lassen. Kokett lächelnd schüttle ich den Kopf. „Sie haben einen ausgezeichneten Ruf in den wichtigen Kreisen.“ Vor allem als jemand, der schnell und dubios Geld zusammenscheffelt, das ihm jeder kluge Mensch wieder abluchst. Meine Eltern treiben nur aus einem einzigen Grund Geschäfte mit den Brüdern: Weil sie eine zuverlässige Geldquelle sind.
„Sie müssen mir wirklich nicht schmeicheln, Chrona“, keucht der dickliche Ungar. Ich würde mich an den Kräftigeren der Brüder halten. Er scheint weder Verstand, noch eine hohe Toleranzschwelle gegenüber Alkohol zu besitzen. „Bei ihrer Kompetenz handelt es sich um einen Fakt“, korrigiere ich Mister Garbarscek charmant und lehne mich zurück. Der Kellner schenkt mir das Wasser ein und ich führe das Glas zum Mund, lächle den Oligarchen darüber hinweg augenzwinkernd an. „Wäre es anders, säßen Sie kaum mit uns beim Brunch”, sage ich. „Haben Sie von den Austern probiert? Hier werden die vorzüglichsten serviert, die ich jemals zu mir nehmen durfte.“ Der Mann lacht grölend auf, so laut, dass ich leicht zusammenzucke. Achim legt mir unter dem Tisch eine Hand auf das Bein und drückt beruhigend meinen Oberschenkel. Ich sehe auf zu ihm. Achim ist so aufmerksam, so offen und mir zugeneigt. Weil er spürt, dass ich ihn so dringend brauche wie die Luft zum Atmen?
Unwillkürlich verschränke ich meine Finger mit Achims. Nur noch wenige Wochen, dann können wir über dem Tischtuch Händchen halten. Ich träume mich dem Tag entgegen.
„Sie sind die gefährlichste Hölgy, die ich je gesehen habe“, gluckst der dickliche Oligarch. Sein dünnerer Bruder lächelt schmal und zupft sich an dem Schnurrbart. „Sie ist und bleibt der Clark-Spross“, sagt er. Eine sanfte Warnung schwingt in seiner Stimme mit. Meine Mundwinkel verziehen sich zu einem winzigen Lächeln. Unstrittig.
„Und wunderschön dazu.“ Der spanische Monarch betrachtet mich intensiv über sein Glas hinweg. „Sagen Sie, Chrona, ist das Gerücht wahr, dass Sie bereits vergeben sind, oder würde es sich für mich lohnen, Ihnen meinen Sohn vorzustellen.“ Seinen Sohn? Ich habe das vage Bild eines brünetten, jungen Mannes vor mir, der stolz die Orden auf der Brust trägt. Ein durchaus attraktiver Mann, der die Macht hortet und vermehrt. Würde ich Achim nicht seit vier Jahren kennen, sein Zusammenzucken würde ich nicht bemerken. Doch so ist der Schimmer von Unsicherheit derart offensichtlich, dass seine kleine Regung beinahe einer gänzlichen Entgleisung gleicht.
Langsam legt Achim unsere verschränkten Hände auf den Tisch, so, dass man meinen glänzenden Verlobungsring erkennen kann. „Die Hochzeit ist auf den einundzwanzigsten Juni datiert“, sagt Achim glatt.
Die Mundwinkel des Spaniers zucken leicht. „Dem entnehme ich, dass Sie der künftige Bräutigam sind.“ „So ist es.“ Achim drückt meine Hand noch einmal fest, ehe er sie loslässt und sich dem Kellner hinter sich zuwendet.
„Er scheint erstaunlich eifersüchtig zu sein.“ Der Monarch schmunzelt. Mit ruhigen Händen zerlegt er seinen Fisch. „Sie scheinen eine Frau zu sein, für sie es sich zu kämpfen lohnt.“ Ich lächle schwach. „Haben Sie Gegenteiliges erwartet?“ Der König schweigt, bleibt mir eine Antwort schuldig und lädt sich stattdessen Kaviar auf den Teller. Innerlich zucke ich die Achseln und wende mich wieder den ungarischen Oligarchen zu. „Da haben Sie den Herrn aber gekränkt“, stellt der Schlankere von beiden fest. „Mit Sicherheit hat er Sie bereits neben seinem Sohn thronen sehen. Sein neues, glänzendes Kronjuwel.“ Ich verziehe leicht den Mund. Das ist nichts, was ich anstrebe. Lediglich schmückendes Beiwerk? Das vermag jedes Kind. Allerdings eine Frau zu sein, die hinter den Kulissen die Geschäfte lenkt, dafür braucht es Raffinesse, eine gute Erziehung und die gnadenlose Rücksichtslosigkeit, die man mir in die Wiege legte. „Dort, wo ich jetzt stehe, bin ich doch am glücklichsten“, antworte ich dem schlanken Oligarchen und nehme einen weiteren Schluck aus dem Wasserglas.
Frische Obstplatten werden aufgetragen und der erste Wein entkorkt. Das fruchtige Aroma verbreitet sich langsam im Raum. Die kleinen Augen des kräftigeren Ungarn richten sich auf die kunstvoll geschnitzten, exotischen Früchte. „Eine sehr schöne Zusammenstellung haben Sie hier“, sagt er und grinst mich an. Der Kellner schenkt ihm nach. „Beinahe so atemberaubend wie die junge Gastgeberin.“ Mir wird keine Gelegenheit gegeben, etwas zu erwidern.
Achim bedeutet dem Angestellten, den Stuhl hervorzuziehen und erhebt sich. Bietet mir seine Hand an. Sacht hebe ich eine Braue. „Dürfte ich dich für ein paar Minuten entführen?“, fragt Achim mich sanft. Ich kämpfe meine Überraschung nieder und setze das gleiche, charmante Lächeln auf wie immer. Tue so, als wäre es nichts Ungewöhnliches, dass mein Verlobter mich bei einem offiziellen Essen darum bittet, mit ihm gemeinsam den Raum zu verlassen, scheinbar ohne sich darum zu scheren, was die Anwesenden über unser Verschwinden denken könnten. Wenn die Öffentlichkeit hiervon erfährt, wird das Tuscheln kein Ende nehmen. Wir verstoßen gegen jede Etikette. Achim tut das. Weil er sich um mich sorgt? „Natürlich.“ Meine Antwort ist dem Kellner Befehl. Fast lautlos wird mein Stuhl zurückgezogen. Ich stehe auf und lege meine Hand in Achims. Mutter nickt uns knapp zu, während Achim und ich den Saal verlassen, unzählige Blicke im Rücken.
Schweigend gehen wir ein paar Meter bis zu der verglasten Rückwand des Korridors. Dort angekommen, blickt Achim sinnierend auf die Straßen unter uns. Menschen wuseln wild umher, eine graue Mischung aus bedeutungsleerem Leben. Ampeln schalten um, Läden werden betreten und verlassen, oft beladen mit Tüten.
„Du standest heute Nacht völlig neben dir“, stellt Achim nach einigen schweigsamen Minuten fest. Er lässt meine Hand nicht für eine Sekunde los. Seine Berührung schenkt mir mehr Kraft, als ich mir eingestehen möchte. „Ich habe mich ernsthaft um dich gesorgt.“ Ich schlucke. Diese intime Form der Gefühle hat er nicht einmal zu unserer Verlobung geäußert. Ein kurzer Kuss, der die Presse erfreut und zeitweiliges Händchenhalten, aber mehr nicht. Überschwängliche Nähe würde sich nicht gehören. Umso mehr schockiert mich Achims Wortwahl, die an den zweiten Gefühlsausbruch binnen von Minuten grenzt. Sorge?
„Mir ist selbst nicht ganz begreiflich, was letzte Nacht geschehen ist.“ Achim nickt und streicht mir schweigend eine der Locken aus dem Nacken. „Den Eindruck hast du auf mich gemacht, ja.“ Kurz zögert er. „Mich beschäftigt in erster Linie: Hat man dir mutwillig wehgetan?“
Männerhände scheinen für einen Moment an meinem Kleid zu reißen und den Mantel von meinen Schultern zu ziehen. Sie stoßen mich vor sich her, heben mich hoch und tragen mich wie Vieh über den Schultern, behandeln mich wie Abschaum. Der Mann, der das Stroh vor meinen Füßen anzündete, lächelte. Die Erinnerungen haben sich fest in meinen Kopf gebrannt, dabei ist nichts davon je geschehen. Darf nicht geschehen sein. Wäre es anders, würde es bedeuten, dass ich den Verstand verlöre und obendrein auch noch mit einem triftigen Grund. Dem Grund, dass ich durch Zeit und Raum gereist bin. Ich muss die Person finden, die mir das angetan hat, bevor sie ein weiteres Mal zuschlagen kann und mich in eine verschleierte, mittelalterliche Welt schickt, die schon lange nicht mehr so existiert.
„Ich weiß nicht, ob man handgreiflich wurde“, wispere ich und klammere mich fester an Achim. Meine Hände wirken winzig auf dem schwarzen Stoff seines Jacketts. Winzig und blass. „Alles, woran ich mich erinnere, ist nicht wahr.“ Flehend sehe ich zu ihm auf, suche Bestätigung. „Es ist nur eine kranke Einbildung. Jemand muss mich unter Drogen gesetzt haben und…“ Ich halte inne, höre selbst wie erbärmlich ich klinge. „Bitte sage ihnen nichts davon. Meine Eltern würden umkommen vor Sorge.“ Was geschieht mit den Anlagen in meine eigene Modekette? Wenn die Gründerin instabil wirkt, wäre das ein gefundenes Fressen für sinkende Kurse. Wie ernst kann man die Gesellschaft meiner Familie noch nehmen, wenn die Tochter auf psychiatrische Behandlung angewiesen ist? Verhandlungspartner würden wegfallen und Investitionsriesen nicht länger auf unsere Unterstützung pochen. Ich kann es mir schlichtweg nicht leisten, dass Details meiner Zweifel an die Öffentlichkeit geraten.
Achim schüttelt leicht den Kopf und schlingt beide Arme um mich. Jede Angst, jede Sorge rückt in den Hintergrund. Er umarmt mich in einem frei zugänglichen Korridor. Vergräbt das Gesicht in meinen Haaren. Das Herz springt mir aus der Brust, klopft so laut, dass er es hören muss. Jeden Moment könnte jemand um die Ecke biegen und uns sehen. Ganz genau so, wie wir hier eng umschlungen stehen.
Diese Möglichkeit scheint Achim gleichgültig zu sein. Er hält mich fest, gleichzeitig behutsam und bestimmt, als wäre ich das Kostbarste, was er besitzt. „Ich wünschte, ich hätte dich begleitet“, flüstert Achim in mein Haar. „Dann hätte ich Hilfe holen können.“ Die Erinnerungen daran, wie sehr ich seine Nähe vermisste in diesem Trubel aus Chaos und Kälte, sind noch frisch und unbeschreiblich intensiv. Allein, dass Achim jetzt hier ist, mich hält, als würde er mich nie wieder loslassen wollen, schmälert diese Angst und die Schmerzen in meinem Herzen.
Er drückt mir einen Kuss auf die Stirn. „Das nächste Mal werde ich für dich da sein“, verspricht er mir. Ein kurzes Zögern, das für ihn ebenso untypisch ist wie diese vielen Berührungen. „Wenn du mich jetzt brauchst, kann ich das Meeting absagen.“
Pardon? Ruckartig löse ich mich von Achim und sehe ihm in die Augen. Ist er von Sinnen? Es könnte sich um einen gigantischen Deal handeln, der ihm entgeht. Ich taste sein ernstes Gesicht mit Blicken ab. Achim wirkt nicht, als würde er scherzen. Ich muss einige Male blinzeln, um nicht in Tränen auszubrechen und mir das sorgfältig aufgetragene Make-Up zu ruinieren. Das täte er? Für mich? Meine Eltern blieben nie Daheim, wenn ich krank war und irgendwo ein vielversprechender Dialog angesetzt war. Es gibt Kindermädchen, Angestellte. Jeder ist fähig, eine heiße Schokolade zu kochen und mich zuzudecken oder im schlimmsten Fall den Arzt zu rufen. Achims Angebot ist so viel mehr, als ich erwartet hätte. Für einen Moment spielt mein selbstsüchtiger Teil mit dem Gedanken, es anzunehmen. Dann erinnere ich mich daran, was auf dem Spiel steht.
Worum es hier geht. Egoismus mag eine gute Eigenschaft sein, aber nicht in diesen Situationen.
Es erfordert all meinen Willen, den Kopf zu schütteln. Das Gesicht vergrabe ich an Achims Brust. Sein Atem rauscht leise an meinem Ohr vorbei, begleitet von seinem beschleunigten Puls. Ich liebe den Geruch seines Aftershaves. Wüsste ich doch nur, wie es heißt, dann könnte ich mir etwas davon aufs Handgelenk sprühen, wenn ich nicht schlafen kann.
Dass Achim diese Angewohnheit mit meinem Parfum hat, weiß ich seit beinahe einem ganzen Jahr. Er trug meinen Geruch bei einem wichtigen Meeting. Als ich Achim darauf ansprach, bekundete er achselzucke, dass ihn mein Duft beruhige. Das war der erste nahbare Wesenszug an ihm gewesen, den ich kennenlernte.
Diese Bereitschaft aber für mich alles stehen und liegen zu lassen, berührt mich viel tiefer und intensiver.
Achims Angebot zu bleiben, ist mehr wert als jeder Ring, den er mir zu unserer Hochzeit an den Finger stecken kann. Es schwört mir, dass ich nach unserem Eheversprechen niemals wieder allein sein werde. „Bist du dir sicher?“ Achim wirkt enttäuscht. „Es gibt weitaus wichtigere Dialoge, die ich suchen kann. So hätten wir eine Woche nur für uns.“
Eine Woche? Das klingt wie Musik in meinen Ohren. Urlaub, wohlverdient und wunderschön. Wir könnten ausschlafen, gemeinsam in den Park gehen, uns auf das Gespräch mit Monsieur Depót vorbereiten, Seite an Seite. Mit Achim gemeinsam könnte ich die Einschreibungen für das College erledigen.
„Du weißt, dass ich es am liebsten habe, wenn du bei mir bist.“ Unverwandt sehe ich Achim an. Die seichte Erschöpfung im Blick, lässt seine Augen heller strahlen denn je. „Wenn unsere Zweisamkeit allerdings einen Nachteil für dich birgt, dann…“ „Ich storniere den Flug“, unterbricht Achim mich. Er schüttelt den Kopf. „Ganz gleich, was letzte Nacht geschehen ist, du brauchst mich momentan dringender als ein europäischer Investmentmakler.“
Mit Sicherheit handelt es sich nicht um irgendwen, sondern um jemanden mit Rang und Namen, aber ich schweige. Wie könnte ich Achim von unserem jetzigen Standpunkt aus dazu überreden, zu gehen? Wenn ich doch nichts dringender will, als dass er bleibt. Achim hat Recht. Ich brauche ihn tatsächlich. Seine Liebe, seine Nähe. Mehr als alles andere. Ich seufze leise auf und nicke. „Das wäre schön.“
Eine kleine Ewigkeit stehen wir nah beieinander, beobachten das Treiben unter uns auf der Straße. Menschen, Autos, Lichter. Wie alles problemlos nach ein paar Signalen funktioniert, hunderte wie ferngesteuert verharren, nur um mit dem nächsten Klick los zu hasten, das Handy an das Ohr gepresst und aufgeregt gestikulierend. Ein erbärmliches Leben, weit unter dem Standard, den sie sich hätten erarbeiten können. Wir sind die Herrscher über die wuselnden Gestalten Meter unter uns. Ihr König und ihre Königin.
„Wann bist du gestern Nacht losgegangen?“, fragt Achim mich schließlich leise und kreist mit den Daumen über meinen Oberarm. Ein leichtes Drücken zieht sich durch meine gut überdeckten Blutergüsse. „Kurz nachdem du eingeschlafen bist“, gestehe ich ihm leise. „Es kam mir so vor, als würde ich verrückt, wenn ich nicht sofort dieses Apartment verlasse.“ Achim nickt gedankenverloren. „Hat dich jemand gesehen?“ Ja und nein. Gesehen mit Sicherheit, erkannt unter keinen Umständen.
„Ich bezweifle, dass man mit mir mitten in der Nacht auf offener Straße in einem eher bescheidenen Aufzug rechnet, während es in Strömen regnet.“ Ein Fetzen Sorge bleibt dennoch. „Hast du gesehen, was die Presse schreibt?“ Achim schüttelt knapp den Kopf und zieht mich näher an sich. Seine Körperwärme sickert langsam in mein Blut und entspannt die Muskeln. „Wir können das nachher gemeinsam überprüfen.“ Ich glaube, diesen Satz habe ich noch nie aus seinem Mund gehört. Auf eine seltsame Art und Weise macht er mich glücklich. Diese Aussicht mit ihm gemeinsam zu arbeiten, klingt wie das Versprechen an uns, ein Team zu bilden. Es wirkt fast, als sollte ich demjenigen, der mir die fraglichen Rauschmittel in den Champagner mischte, dankbar sein. Allein er hat zu verantworten, dass Achim nicht vorhat, mir die nächsten Tage von der Seite zu weichen. Wer auch immer die Schuld an meinem Aussetzer trägt, hat mir Achims Nähe geschenkt. „Das wäre wundervoll“, wispere ich. Wieder dieses ratlose Schweigen. Achim und ich unterhalten uns selten, wenn, dann über steigende und fallende Kurse, die anstehende Gesellschaft oder die mögliche Kleiderordnung. Vielleicht noch über unsere Bildungswege und die neuesten Meldungen. Aber persönliche Dinge? Die sind uns fremd. Wir haben beide gelernt, dass es am besten ist, wenn wir wenig miteinander zu tun haben. Geheimnisse halten eine Beziehung aufrecht und gerade eine Liebe vor der Weltpresse, hat distanziert und geheimnisvoll zu wirken. Es geht niemals um unsere eigene, kleine Romanze, sondern die, die die Redakteure und Papparazzi daraus machen. Wir haben ein weißes Blatt Papier zu sein, das von Fremden beschrieben wird.
Diese Aktion, das Absagen des Meetings, verstößt gegen alles, was man uns eintrichterte. Diese Gewissheit lässt mich gleichzeitig schwindelig und überglücklich sein.
„Wie fühlst du dich?“ Achim schaut mich mit einem verbindlichen Lächeln an. Es ist die Frage, die er immer stellt, wenn ein Gespräch ins Stocken gerät. „Hervorragend. Es ginge kaum besser.“ Das ist die gleiche Antwort, die ich jedes Mal gebe, wenn man sich nach meinem Wohlbefinden erkundigt.
Achim nickt und sieht wieder hinaus auf die Straße. Der nächtliche Regen ist abgezogen und hat düsteren Wolken Platz gemacht, durch die sich hin und wieder ein weicher Sonnenstrahl stiehlt. Sie erinnern mich vage an die fernen Blitze aus meinem Fiebertraum.
„Könntest du dir eine Zusammenarbeit mit einem der Anwesenden vorstellen?“, leite ich das Gespräch auf für uns bekanntes Terrain. Sofort entspannt sich Achim und sucht den Blickkontakt. „Die ungarischen Oligarchen sind beide gleichermaßen dumm und fahrig. Es sollte genügen, wenn deine Eltern sich mit ihnen befassen. Irgendwann endet deren Glückssträhne.” Achim räuspert sich. „Der spanische Monarch ist in erster Linie auf sein Prestige aus und die italienischen Neureichen scheinen mir weder erfahren noch allzu clever zu sein.“ Achim macht eine kleine, wegwerfende Bewegung mit dem Kinn. „Wir sollten uns auf Monsieur Depót und seine Kreise konzentrieren. Sie mögen riskanter, aber auch um ein Vielfaches erfolgsversprechender sein. Außerdem“, Achim schenkt mir ein kleines Grinsen, das selten zu seinem Repertoire gehört, „Französisch spreche ich, mit Ungarisch tue ich mich noch immer schwer.“ Dem kann ich nur zustimmen.
Grinsend zupft Achim an dem türkisfarbenen Rock meines Kleides. Es ist gewagt für einen formellen Anlass, endet kurz über den Knien und dabei sei es dahingestellt, dass es sich um eine Haute Couture Kreation handelt. Für diesen Brunch ist das Kleid zu kurz und gerade deswegen von mir geliebt. Die Länge und das Design meiner Garderobe sind die einzige Form, in der ich es wage, zu rebellieren. Und selbst diese feinste Rebellion zettle ich nur an, um mit Sicherheit in das Programm eines jeden privaten Senders eingebunden zu werden.
„Warum trägst du keine der Roben, die ich dir in Mailand gekauft habe?“, fragt Achim mich mit einem sanften Lächeln. Weil mir sowohl das Weiße als auch das Burgunderrote zu majestätisch für diesen Anlass erschienen. „Ich habe mich wohl einfach in dieses hier verliebt“, antworte ich glatt und lege Achim die Arme um den Hals. „Heute bietet sich eine der seltenen Gelegenheiten, es auszuführen.“
Achim zieht eine Braue hoch. Wir wissen beide, dass mein Vorwand nicht der Wahrheit entspricht. Achims Kuss fühlt sich jedoch so ruhig und weich an, dass mein Kleid in den Hintergrund rückt. Nichts zählt mehr außer seiner Berührung und dem Wissen, dass ich sie noch eine Woche werde genießen dürfen. Eine Woche lang an Achims Seite, ihn küssen, seine Stimme hören, mich in seinen Berührungen verlieren. Ein unbezahlbarer Luxus.
Das Blitzen einer Kamera reißt mich aus meinem Traum. Achim und ich setzen beide ein strahlendes Lächeln auf, nahezu gleichzeitig, ehe wir uns voneinander lösen und uns den Fotografen stellen. Es sind lediglich zwei. Mein Verlobter nimmt den gebührenden Abstand ein, während Auslöser klacken und Lichter durch den Korridor tanzen.
Die Fotografen rufen uns zu, bitten um ein Gespräch oder eine bestimmte Pose. Sie haben bereits mehr als genug von uns bekommen. Bestimmt greift Achim nach meiner Hand und führt mich zurück in den Speisesaal. Noch heute Abend wird unser Kuss weltweit zu sehen sein. Ein mahnender, wenn nicht gar enttäuschter Blick meiner Eltern ist mir gewiss.