Читать книгу Fünf Minuten vor Mitternacht - Celina Weithaas - Страница 6
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Angeblich geschehen ungebetene Überraschungen immer dann, wenn man es am wenigsten erwartet. Ich weiß nicht ganz, wem dieser schwachsinnige Gedanke gekommen ist. Egal wie sehr ich damit gerechnet habe, überraschte es mich trotzdem. Zu dem unpassendsten Zeitpunkt. Mein Kindermädchen half mir soeben die Tonnen an sündhaft teurem Kleid in den Wagen zu hieven, als der Butler auf uns zueilte, strammen Schrittes, niemals versucht zu rennen. Eine leichte Röte war ihm dennoch in die Wangen gestiegen, als er mir den blütenweißen Brief übergab.
„Er ist an Euch adressiert.“ Eine unnötige Information in Anbetracht dessen, dass er jede Mühe auf sich nahm, um mich vor der Abfahrt zu erreichen. Anstatt einer Antwort, mit der er ohnehin nicht gerechnet hat, bedeutete ich dem Chauffeur, die Tür zu schließen. Überbringer rätselhafter Nachrichten sind nicht willkommen. „Von wem ist er?“ Neugierig sieht mein Kindermädchen mich an. Ich werfe ihr einen abschätzigen Blick zu. Sie ist neu und blutjung. Irgendetwas zwischen einem hoffnungsfrohen Kind und einer restlos naiven Figur. Würde sie mich kennen, hätte diese junge Frau sich eher auf die Zunge gebissen, als eine unangebrachte Frage wie diese zu stellen. Ich bin versucht, sie hier und jetzt aus dem Wagen werfen zu lassen. Pikiert presse ich die Lippen aufeinander. Nur würde mir dann jemand fehlen, der mir den Champagner eingießt. Meine Schleppe hält. Mir die gierenden Diplomaten vom Hals hält. Ich zupfe an einer schimmernden, blonden Locke, die mein Gesicht vorteilhaft umschmeichelt. „Du darfst den Lichtschalter betätigen. Es fällt mir äußerst schwer, im Dunklen zu lesen.“ Vorne schlagen die Türen zu, leise summt der Motor. Je eher es vorüber ist, umso besser. Ich betrachte das Couvert mit aller Abscheu, die ich seinem Verfasser entgegenbringe. Meine Finger reißen den Umschlag auf. Wie die letzten fünf Male steht auch dieses Mal ausschließlich mein Name in salopper Schrift darauf. Keine Adresse, kein Absender. Genau wie die letzten fünf Male ist das Briefpapier vergilbt und riecht alt und staubig und bildet damit das krasse Gegenteil zu dem schneeweißen Umschlag.
„Hat Euer Vater Euch eine Besitzurkunde ausgestellt?“ Skeptisch sehe ich in die aufgeregten Augen des Kindermädchens. Es wäre um einiges naheliegender, dass er mir diese heute persönlich übergibt. Nicht zu vernachlässigen ist die Tatsache, dass mein Vater selbst aus der Hand der angesehensten Antiquare niemals ein rissiges Dokument akzeptieren würde. Es gehört kopiert, beglaubigt und das Original wohltemperiert aufbewahrt. Nie im Leben würde mein Vater, der wahrscheinlich mächtigste Mann der Welt, es nur in Betracht ziehen, etwas so Wertvolles wie ein Originaldokument in einem einfachen Umschlag zu verstauen und dem Butler anzuvertrauen. Nicht einmal für wenige Schritte. Angestellte sind lediglich solange vertrauenswürdig, wie man sie sehen kann. „Es ist der Brief eines Freundes“, erwidere ich kühl. So viel konnte ich dem Geschreibsel der letzten fünf Male bereits entnehmen. Das einzige Problem dabei? Besagtem Freund bin ich nie begegnet, habe nie von ihm gehört. Meine Berater haben Nachforschungen angestellt, um einen Stalker auszuschließen. Die geschwollenen Formulierungen wurden durch Datenbanken gejagt, die Schrift verglichen. Niemand scheint das Äquivalent zu dem geheimnisvollen Briefautor zu sein, auf den ich liebend gern verzichten würde. Das gelbliche Licht der kleinen Lampe über mir malt einen schimmernden Kreis auf das vergilbte Papier. Abschätzig betrachte ich die einzelnen Worte und Sätze. Kein Wunder. Für mich ist diese Handschrift nicht individuell, sondern desaströs. Man muss sie beinahe als gänzlich unleserlich einstufen. Mein selbsternannter, guter Freund besitzt weder den Anstand mit einem existenten Namen, noch mit einem Pseudonym zu unterzeichnen. Alles was er hervorbringt ist ein lächerliches A. A wie der Anfang des Alphabets? Wie ein Vorname? Der Nachname? Es wird meinen Beratern und der Security überlassen, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Für mich gibt es weit bedeutendere Fakten zu durchdenken. Wie gelingt es mir, die nächste, gute Schlagzeile zu erhaschen? Wenn die russischen Oligarchen meiner Einladung gefolgt sind, werden sie ausreichend Alkohol zu sich nehmen, um meine Entwürfe prompt zu unterschreiben? „Welcher Freund, wenn es mir erlaubt ist zu fragen?“ Mit den Kuppen streichle ich über die Oberfläche des Briefs. Am linken Rand ist ein kleiner Wachstropfen zu finden, eingebrannt und rissig auf dem staubigen Dokument. Ich habe das Alter bestimmen lassen. Fünfhundert Jahre. Man machte mich darauf aufmerksam, dass die Existenz dieser Briefe unmöglich sei. Zum einen wurde vor einem halben Millennium eine andere Schriftart verwendet, zum anderen weicht der damalige Wortschatz doch sehr von dem heutigen ab. In diesen Briefen bleibt jeder Satz gut verständlich und nachvollziehbar. Eine Sprachbarriere ist nicht vorhanden. Meines Erachtens nach eine passionierte Fälschung.
„Ich will nicht darüber reden.“ Damit ist das Gespräch beendet. Mein Kindermädchen neigt leicht den Kopf. Das Getratsche, das sie in wenigen Stunden anstoßen wird, glaube ich bereits hören zu können. Die junge Clark-Tochter verheimlicht einen mysteriösen Liebhaber. Er schreibt ihr Briefe. Wie außerordentlich romantisch. Sie verbrennt sie, sobald sich die Möglichkeit ergibt und befiehlt sowohl den Beratern als auch der Security zu schweigen, wenn ihnen ihre Anstellung lieb ist. Damit ihre Eltern die Zeilen nicht finden? Ob sich die beiden unglücklich Verliebten wohl treffen? Und wo? Ist er ebenso gutaussehend wie Mademoiselle selbst? Kommt er aus gutem Hause?
Ich sehe bereits die zusammengesteckten Köpfe und die aufgeregt funkelnden Augen vor mir, während sich das lächerliche Gerücht zwischen all jenen verbreitet, die für mich die niedersten Arbeiten verrichten. Dabei findet sich nichts Romantisches an diesen Briefen. An Vieles aus ihnen kann ich mich kaum erinnern – es ist faszinierend, wie belanglos und zusammenhangslos man einen Inhalt gestalten kann – der erste Satz des ersten Briefes aber, den ich erhielt, hat sich mit Leichtigkeit in mein Gedächtnis gebrannt. „Wenn du das liest, so mag der Tod mich längst geholt haben.“ Ich bin versucht das zu glauben. Die Tinte auf dem Papier wurde als ebenso alt wie der Brief selbst bestimmt. Der Ausdruck ist zu tragend, zu gehoben, zu überholt. Die Rechtschreibung des mysteriösen Freundes eine kleine Katastrophe. Der selbsternannte Historiker unter meinen Beratern amüsiert sich über dieses Detail göttlich. Als versuche jemand die heutige Sprache mit der damaligen zu verbinden. Mir ist gleichgültig, aus welchem Grund der Verfasser schreibt, wie er es tut. Interessieren werden mich diese Briefe erst, wenn die simpelsten Regeln der Orthographie befolgt wurden. Ein Projekt für die nächsten fünfhundert Jahre.
Der Wagen biegt von der Ausfahrt auf die Straße, verzerrte Lichter der Nacht zeichnen sich vor den getönten Scheiben ab. Hinter uns verschwimmt das helle Herrenhaus im Unwetter. Ich beuge mich näher über den Brief, um ihn entziffern zu können. Die Anrede fehlt, so wie jedes Mal, ebenso die Unterschrift. Es sind hastig auf Papier geschmierte Worte. Tagebucheinträge würde ich behaupten, wären die Ränder eingerissen, als hätte man den Bogen aus einem Heft herausgetrennt. Unglücklich, dass der unversehrt ist.
„Der Mond treibt mich zur Turmuhr. Oh schlüge sie die Stund, oh kämest du, mein Engel, hinab vom Himmel dort, zu sehen meine Leiden. Mit Inbrunst erwarte ich nur dich, mein Liebstes, deine Wiederkehr im schummrigen Klang des blütenweißen Schnees, der deine Schultern küsst und mich verzehrt. Die Uhr schlägt zwölf, doch Leid und Angst, nicht dein Antlitz mir entgegenstrahlt. Kanonendonner von nah und fern, erinnert an des Todes Stern. Vergaßt du mich, der Zeiten Wunder, so fällt mein Herz in Trümmern nieder. Ach, schon Knallen die Musketen. Weh, bald sterben sie dahin. Mein Engel dort, wo bliebest du? Fern von der Turmuhr, das bist du.“
„Es wirkt sehr alt“, stellt das Zimmermädchen fest, als ich den Brief zusammenfalte, in dem Umschlag verschwinden lasse und in meinem Dekolleté verstaue. Ich werfe ihr einen vernichtenden Blick zu. Ich habe ihr nicht die Erlaubnis erteilt, meine Post mitverfolgen zu dürfen. Wäre der Abend weniger prestigelastig, ließe ich sie längst auf offener Straße zurück. Diese Angestellte ist eine himmelschreiende Beleidigung. Mein altes Kindermädchen sollte ich verklagen, dafür, dass sie mir diese Katastrophe aufgehalst hat. „Vielleicht”, sinniert das Kindermädchen, „ist es das Werk von jemandem, der seinen Verstand nicht mehr beisammen hat.“ Die Ampel schaltet auf grün und das Licht fängt sich in meinem Collier, dessen Wert ich nicht zu schätzen wage. Meine liebe Mutter schenkte es mir zu meinem heutigen Geburtstag, stolz darauf, dass ich nun endlich Seite an Seite mit ihr über den einzigen Ort regieren werde, an dem sie und Vater sich zu Hause fühlen: die Börse. Sie sind König und Königin über die Kurse, scheinen sie im Voraus zu kennen, und wissen genau, in was es sich zu investieren lohnt. Selbst wenn das weißgoldene Collier mit den perfekt geschliffenen, strahlenden Diamanten ebenso unbezahlbar ist, wie ich es erwarte, wäre es dennoch nichts weiter als eine neue, nette Aufmerksamkeit. Was ist schon unbezahlbar, wenn man über nahezu jeden Cent auf diesem Planeten verfügt? Menschen, die meinen Eltern das erste Mal begegnen, sind davon überzeugt, dass sie die mächtigsten, reichsten und feinsten Persönlichkeiten sind, die existieren. Mir bleibt nichts anderes übrig, als das zu belächeln. Mächtig, durchaus, reich, ohne Frage. Aber wären sie fein, wären sie ebenso arm wie die Bettler, die des Nachts aus ihren Löchern hervorkriechen und versuchen, den tatkräftigen Menschen das letzte Geld aus den Taschen zu stehlen. Wären meine Eltern fein, würden sie sich in Bescheidenheit üben. Aber wer will schon bescheiden sein, wenn er mächtig sein kann? Sie lassen ihre ungeteilte Macht jeden einzelnen Investor spüren, jeden Handelspartner, der sie nicht gänzlich überzeugt. Letzten Endes speisen sie jedermann ab, der sich zu lange mit ihnen umgab, beuten aus, wer tatsächlich glaubte, er könnte sich mit ihnen messen. Das ist der Grundstein des ungeteilten Reichtums: Skrupellosigkeit. Ich beherrsche es ebenso, dieses Fundament zu legen wie meine geliebten Eltern. Sie haben mir früh beigebracht, wie man Geschäfte gewinnt. Wie man sie definiert und wie sie wachsen. Beherrschte ich diese Kunst nicht, wäre ich nicht die Tochter meiner Eltern und hätte nicht die Ehre, ein Collier zu tragen, von dem all die Mädchen, die geistlos in ihren Kinderzimmern sitzen und sich die Haare kämmen, nicht einmal träumen können. „Denkt Ihr, es handelt sich um einen Stalker?“ Die Angestellte klingt ernsthaft besorgt. Ich rolle die Augen und versuche durch die verschwommenen Lichter und den prasselnden Regen auszumachen, wo wir uns befinden. Das Wasser nimmt mir die Sicht. Es schwimmt die Scheiben hinab und vermischt sich in einem überdrehten Farbenregen mit den Werbetafeln und Ampeln. Das Mädchen wird mir einen Regenschirm halten müssen, sobald wir den Wagen verlassen. Ich möchte nicht aussehen wie eine nasse Katze, wenn ich meinen künftigen Geschäftspartnern gegenübertrete.
„Unwahrscheinlich.“ Um die nächste Biegung müsste der Wagen halten. „Bitte kümmere dich um meine Schleppe und die Frisur. Soweit ich informiert bin, dürfte ein Regenschirm im Kofferraum aufbewahrt sein.“ Sie nickt eifrig, sich sehr wohl bewusst, dass sie ebenso ersetzbar ist wie alle Mädchen vor ihr. „Darf ich Eure Schuhe tragen?“, fragt sie aufgeregt. Lächerlich. Wie ein kleines Kind, dem nie Respekt beigebracht wurde. „Wenn du dich um den verdreckten Saum meines Kleides sorgst, gerne. Und mir nach dem Marsch nach drinnen die Füße wieder säuberst.“ Sie verzieht leicht das Gesicht. „Ich kümmere mich um den Regenschirm.“ Der Chauffeur hält und öffnet die Tür. Auf ihrer Seite. Der Regen weht hinein und perlt von den hellen Lederpolstern ab. Vorwurfsvoll rutsche ich so weit wie möglich fort, raffe den Saum zusammen und verschränke die Arme schützend vor der Brust. Eine Ecke des Umschlages rutscht nach oben. Ich falte ihn noch einmal in der Mitte, ehe ich ihn etwas tiefer verstaue und meine Frisur und das Make-Up in der Scheibe ein letztes Mal überprüfe. Meine Lippen haben den weichen Roséton beibehalten, meine Augen funkeln strahlend grün unter dem dezent schimmernden Lidschatten. Wenige blonde Locken fallen in mein Dekolleté und lassen das zart roséfarbene Kleid weit weniger gewagt wirken, als es tatsächlich ist. Perfekt. Das Zimmermädchen verschwindet gemeinsam mit dem Chauffeur im strömenden Regen, die Tür bleibt sperrangelweit geöffnet. Resigniert beobachte ich, wie kleine Bäche in den Fußraum fließen. Meine Eltern werden außer sich sein.
Der Schirm wird gespannt, bevor sich die Tür auf meiner Seite öffnet. Das Mädchen greift sofort nach meiner Schleppe. Zu übereifrig. Ich spüre einen leichten Zug an der Schnürung. „Wehe du zerreißt es.“ Sie zuckt zusammen. „Entschuldigt meine Ungeschicklichkeit.“ Sollte ich im Gebäude so aussehen wie sie jetzt, wird das äußerst schwierig werden bis hin zu nicht möglich. Bitten schützt vor Strafen nicht. „Sorge dich um mein Äußeres, danach können wir dieses Gespräch fortsetzen.“ Das Mädchen nickt eifrig. Abschätzig verziehe ich den Mund. Ihr Enthusiasmus ist zu bewundern. Der Stoff des durchweichten Kleides klebt an der Angestellten wie eine zweite Haut, das aufwendig gemachte Haar tropft in Strömen. Dennoch strahlt sie, als wäre dies ihr Hochzeitstag. „Das wird so aufregend“, ruft sie, meine Schleppe lieblos über den Arm geworfen. Ich verbiete mir, das jämmerliche Bild, das meine Angestellte gibt, näher zu betrachten. Ihr Glück ist es, dass ich ein Gastzimmer in der obersten Etage besitze und dort einige ausgewählte Stücke meiner schon einmal benutzten Abendgarderoben aufbewahrt werden. Selbstverständlich, um die Brust herum wird ihr jedes meiner Kleider zu groß sein und um die Hüfte etwas zu schmal. Wenn ich mich recht entsinne, hängt in diesem Schrank ein Ballkleid, das man schnüren kann. Damit sollte es möglich sein, ihre mittelmäßigen Maße zu kaschieren. Die Schuhe meiner Angestellten scheinen mir hoch genug zu sein, um den Saum davon abzuhalten, auf dem Boden zu schleifen. „Werden auch Königsfamilien da sein?”, fragt sie aufgeregt. „Das wäre so romantisch!“ Scheiche werden mit Sicherheit auf sie warten. Aber die Monarchen aus Europa? Die haben lange nicht mehr die Bedeutung, um an einem derart fulminanten Fest teilnehmen zu dürfen.
Eine Veranstaltung, die dazu dienen wird, neue Geschäftsbeziehungen einzugehen. Mir zu Ehren. „Deinen Prinzen wirst du heute nicht finden.“ Ich werfe ihr nun doch einen abfälligen Blick zu. Monarchen haben selten Interesse an klitschnassen Zimmermädchen, die dem Star des Abends Schleppe und Schirm halten. Der rote Teppich quietscht leise unter meinen Absätzen, als das Wasser blubbernd hinaustritt. Ein Blitz zuckt über den Himmel und erhellt die ohnehin taghell beleuchtete Stadt. Endlich fängt das gläserne Vordach den Regen ab und der Chauffeur nimmt meiner Angestellten den Schirm aus der Hand, um ihn weit von mir entfernt zu schließen. Ein Topfen berührt dennoch meinen Unterarm und perlt kitzelnd hinab. „Darf ich Eure Schleppe hinter Euch drapieren?“, fragt mich das Mädchen mit leuchtenden Augen. „Sollte es hier trocken sein”, erwidere ich, „gern.“ Sie zögert für einen kleinen Moment, dann hockt sie sich hin und berührt den Teppich. Zufrieden legt sie den Stoff darauf ab, breitet ihn aus. Das beinahe weiße Rosa meines Kleides schimmert wie ein Meer aus perfekten Perlen. Makellos. „Darf ich die Schleppe noch festhalten?“ Es ist höchstens ein Meter Stoff, den ich hinter mir herziehe. Diese Mühe könnte nicht nutzloser sein. Ich zucke die Achseln und gehe festen Schrittes voran.
Die junge Dame, vor der sich der Türsteher mit angemessenem Respekt verneigt, ist weit mehr als eine einfache Prinzessin. Sie ist eine strahlende Göttin, getaucht in das bunte Licht der größten und pompösesten Stadt der Welt, die Hände locker an den Seiten hängend, über und über geschmückt mit den wertvollsten Stoffen und Metallen, die diese Welt bereithält. Ich bin der Mittelpunkt einer jeden Welt, ihre Königin, ihr Ideal – und wer sollte es den Menschen verübeln? Schönheit fesselt mehr als das skurrilste Kunstwerk, bewegt bestimmter als jeder Befehl. Es wäre eine Beleidigung, würde nicht jedes noch so winzige Kind bewundernd zu mir aufsehen. Der Fahrstuhl ist geräumig genug, damit mein Zimmermädchen und ich gemeinsam hineinpassen, ohne dass sie meine Robe ruiniert. „Es steht dir frei, in das oberste Stockwerk zu fahren”, sage ich. Konzentriert beuge ich mich nah zu meinem Spiegelbild. Meine Haut? Feinster Alabaster. „Links gibt es ein Zimmer, in dem meine alten Kleider aufbewahrt werden. Du darfst einen der Angestellten darum bitten, dich in das Violette einzuschnüren. Die anderen werden dir vermutlich zu eng sein.“
Mein Kindermädchen öffnet leicht den Mund, völlig fassungslos. Zumindest ist sie sich der unendlichen Ehre bewusst, die ihr hier zu Teil wird. Ihre Lippen öffnen sich. „Ich darf eines Eurer Kleider tragen?“
Ich zupfe das Collier zurecht und stecke eine der Locken zurück in die aufwendige Frisur, für die ich stundenlang vor dem Spiegel saß, fremde Hände an meine Haare gelassen habe, und zusah wie aus einem bewundernswert schönen Mädchen ein atemberaubendes wurde. Eine schlanke, durchaus ansehnliche Lady hat sich um mein Gesicht gekümmert, die Lippen noch etwas voller gezaubert, meine Augen unglaublich groß und glänzend grün. Kein Detail dieser Mühe ist verschwunden. Wenn überhaupt haben die Stunden, die niemand mich angerührt hat, mich weiter erstrahlen lassen. Ich bin das Kunstwerk dieser Lady. Hätte sie mich auf eine Leinwand gebannt, wäre ich viele Hundertmillionen Dollar wert. Und genau so behandelt mich die wartende Gesellschaft. Meine Eltern stehen mit einem Glas voll Champagner in der Hand vor dem sich öffnenden Fahrstuhl und nehmen mich mit einem angemessenen Lächeln in Empfang. Es spricht weder Freude noch Stolz daraus. Keine der Empfindungen habe ich tatsächlich erwartet. Am heutigen Abend tat ich noch nichts, das Überschwang rechtfertigen würde. Ich bin lediglich erschienen.
Der Beginn eines erfolgreichen Festes. „Chrona.“ Das erste Mal in meinem Leben knickst meine Mutter leicht vor mir und bietet mir ihren Champagner an. Es ist ein unglaubliches Gefühl, ihr das Glas aus der Hand zu nehmen und leicht daran zu nippen, ehe ich der wartenden Gesellschaft zuproste. Als hätte sie das Zepter an mich übergeben. Diese winzige Geste hat mich von der Prinzessin der Börse zu ihrer neuen Königin erhoben. Die wenigsten Namen der Umstehenden sind mir geläufig. Mein Vater hat mir eine digitale Gästeliste zur Verfügung gestellt, ergänzt um Bilder der einzelnen Personen. Nach den ersten zwei Seiten habe ich sie fortgelegt. Meine Geburtstagsfeier. Es gibt nur einen einzigen Namen, der tatsächlich zählt, und das ist mein eigener. „Es ist mir eine Freude.“ Ich ahme Mutters feine Geste nach und stelle mich den versammelten Anwesenden. Ich muss nicht auf sie zugehen, sie umschmeicheln mich wie die Motten das Licht. Weil Schönheit gepaart mit Macht anziehender ist als alles andere auf dieser Welt.
Nach hundertfachem Händeschütteln, einigen Gläsern voll Champagner und Namen, die ich mir nur partiell merke, ist es ein durchaus attraktiver junger Mann offensichtlich mit italienischen Wurzeln, der mir ein Glas Wasser anbietet. „Alkohol bekommen Sie vermutlich von jedem.“ Sein Lächeln ist ebenso eingeübt wie mein Augenaufschlag. Mit einem verbindlichen Kopfnicken nehme ich es entgegen. Er ist mir nicht bekannt. Warum lässt er sich mir nicht vorstellen? Der Alkohol stimmt mich milde. „Darf ich erfahren, mit wem ich spreche?“ Eine pikierte Frage. Er zieht die Augenbrauen nach oben. „Sollten Sie das nicht wissen?“ Eine lächerliche Frage, die nur ein unerfahrener Tölpel stellen kann. Ich deute in den überfüllten Raum hinein. „Mir zu Ehren haben sich zweihundert Menschen versammelt. Sie sind nicht gekommen, damit ich ihren Namen ausspreche.“ „Vielleicht doch. Es gibt keine größere Ehre.” Befremdet beobachte ich, wie der junge Mann meine Hand ergreift und einen zarten Kuss darauf haucht. „Sollten Ihre letzten Wochen nicht dem Lernen von Gästelisten zum Opfer gefallen sein?“ Offensichtlich sind sie das nicht. „Es wirkt auf mich, als würden Sie lediglich versuchen, es zu vermeiden, mich bei meinem Namen zu nennen,” erwidere ich und suche nach einem bekannten Gesicht in der Menge. „Eine wahre Peinlichkeit, wenn man die Gastgeberin nicht begrüßen kann.“ Der junge Mann mit dem sonnengeküssten Hautton lacht leise auf, während ich einen Schluck aus meinem Glas nehme. Wasser tut gut. Nach dem Alkohol klärt es meinen Kopf und hilft mir, aufnahmefähiger zu werden. „Sie haben Recht.” Erneut küsst er meine Hand. „Es war schon eine Herausforderung. Chrona Elizabeth Josephine Hel Clark. Interessante Namen. Und viele. Ich hoffe inständig, dass ich sie in der richtigen Reihenfolge vorgetragen habe.“ Anerkennend lächle ich ihn an und proste ihm mit dem Wasser zu. „Darf ich erfahren, wie Sie heißen? Oder verschweigen Sie mir Ihren Namen, damit ich das nächste Mal meine wertvolle Zeit in Gästelisten investiere?“ Der junge Mann schüttelt leicht den Kopf. „Das wäre eine reizvolle Vorstellung.“ Grinsend schwenkt er den Champagner in seinem Glas herum. „Gioseppe Riva.“ Ich pfeife leise durch die Zähne. „Sie sind Italiener?“ „Assolutamente.“ Absolut. „Ihr Englisch ist erstaunlich gut. Nahezu akzentfrei gesprochen.“ Er zupft an seinen Anzugärmeln, sichtlich zufrieden mit sich selbst. Der Stoff scheint edel, aber seine Diamantohrringe? Es sind Splitter, eingelassen in Silber. Jedes Schulkind könnte sich ein Schmuckstück dieser Verarbeitung leisten. Abfall der Industrie. „Ihr Familienname”, sage ich glatt, „ist mir nie zuvor zu Ohren gekommen.“ Gioseppe fährt sich durch die akkurat geschnittenen, gut gegelten Haare. „Wir sind eher neu in diesen Geschäften. Mein Vater hat aber ein Händchen dafür.“ Eine selbstgefällige Behauptung. „Wirklich?” Lächelnd gebe ich vor, dass er mein Interesse geweckt hat. „Wohinein investiert er?“ „Gold“, antwortet Gioseppe wie aus der Pistole geschossen. Ich verziehe den Mund. Das tun sie alle. „Wie steht es mit Cannopy Growth C? Meine Eltern haben damit ein kleines Vermögen erringen können.“ Gioseppe schüttelt den Kopf und nippt an seinem Glas. Eine weißgoldene Krone am linken, vorderen Schneidezahn? Oder ist das eine einfache Füllung? Für Weißgold wirkt es zu blass und trist. „Silber, Holz, das Übliche halt.“ „Schon einmal etwas von Supra Pharmaceuticals gehört?“ Eine leichte Röte steigt ihm in die Wangen. Das ist Antwort genug. „Du weißt, wo es Geld gibt, oder?“ Ich präsentiere ihm meinen rechten Ringfinger. „Ebenso wie mein Verlobter.“ Gioseppes Augen werden kugelrund, als er den blauen Diamanten begutachtet. „Der ist ein Vermögen wert“, stellt Gioseppe fest. Ich beginne mich zu fragen, wie er und seine Familie auf diese Feier eingeladen werden konnten. Es muss ein Versehen gewesen sein. Ein Schmuckstück raubt ihm den Atem? Erbärmlich. „Wieviel verdienen deine Eltern monatlich?”, frage ich sacht. „Oder sollte ich lieber nach der Wochenentlohnung fragen? Dem Tageslohn? Stundenlohn?“ Gioseppe lacht zittrig. Seine Ohren glühen. „Im Monat um die 200.000 US-Dollar.“ Das ist erbärmlich. Abschätzig verziehe ich den Mund. „Manchmal auch 210.000“, ergänzt er hastig. „Es kommt immer darauf an.“ Peanuts. „Ich bin davon überzeugt, Sie finden noch viele interessante Gesprächspartner heute Abend. Womöglich ziehen einige von ihnen Sie als Geschäftspartner in Betracht.“ Ich reiche Gioseppe die Hand. Dieser Junge ist meine Zeit nicht wert. „Genießen Sie den Abend und das Essen. Es ist vorzüglich.“ Bei ihm gibt es nichts zu holen. „Chrona“, setzt Gioseppe an. „Ich bevorzuge es”, falle ich ihm lächelnd ins Wort, „wenn man mich mit meinem Nachnamen anspricht, es sei denn ich habe das Gegenteil angeboten.“ Gioseppe reckt das Kinn in die Höhe und verschränkt die Arme mit steinerner Miene vor seiner Brust. Zumindest hat er diesen Wink verstanden. „Miss Clark, es war mir eine Ehre.“ Mein Kindermädchen verlässt den Fahrstuhl und sieht nahezu ansehnlich aus in meiner alten Ballrobe. Das Violett harmoniert hervorragend mit den mausbraunen Haaren. Man könnte sie fast für jemanden aus dem Mittelstand halten. Einsam wirkt sie zwischen all den Namen und Größen. „Gioseppe”, sage ich, „wenn Sie Interesse haben, mit diesem Mädchen kann man sich sehr gut unterhalten.“ Sie ist wohl eher seine Kragenweite. Es ist nicht schwer zu erkennen, dass ich Gioseppe gedemütigt habe, als er wortlos und mit hoch erhobenem Haupt in der Menge verschwindet. Ich schüttle kaum merklich den Kopf. Glaubte er für nur eine Sekunde, ich sei an der Gesellschaft eines Dilettanten interessiert? Er muss zu viel getrunken haben. Festen Schrittes bahne ich mir meinen Weg durch diskutierende und händeschüttelnde Menschen, von denen sich nicht wenige vor mir verneigen.
Meine Eltern warten vor dem Buffet auf mich, ebenso strahlend wie ich selbst. Vater hat einen Arm um Mutters Taille gelegt. Sie hat ihre Absatzhöhe perfekt auf Vaters Körpergröße abgestimmt. Wäre Mutter nur einen Zentimeter größer als Vater an dem heutigen Abend, wären die Spekulationen der Presse unerträglich gewesen. Der Anblick des gepflegten Mannes neben ihnen lässt mein Herz höherschlagen. Meine Mundwinkel kräuseln sich von allein. Das I-Tüpfelchen meines perfekten Lebens. Der Verlobte, der nicht nur reich und gutaussehend ist, sondern mindestens genauso treu. Mit einem anerkennenden Lächeln entdeckt er mich, streckt mir die Hand entgegen und in diesem Moment bin ich weniger die erhabene Göttin als die verliebte Prinzessin, die auf ihren Prinzen zueilt, der es kaum erwarten kann, sie endlich in die Arme zu schließen.