Читать книгу Zehn Sekunden vor Mitternacht - Celina Weithaas - Страница 11

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„Mehr“, murmle ich.

Casper rollt nur feixend die Augen und füllt das Glas bis zum Rand. „Wir wollen reden und uns nicht besaufen.“

Wenn es darum ginge, was ich will, säße Anton mit mir hier oder mein Ehevertrag wäre akzeptabler.

Ohne ein Wort nehme ich einen viel zu großen Schluck. Casper gluckst fröhlich. „Komm schon, kleine Diva. Ich dachte, du willst dich besaufen.“ Menschen wie ich betrinken sich nicht. Wenigstens dieses Prinzip sollte ich nicht über Bord werfen. Bestimmt stelle ich das Glas ab und lächle ihn professionell an.

„Erläutere den Sachverhalt detailliert.“

Casper lacht. Nachdem er die Flasche gebracht hat, fand er zu seiner alten, entspannten Haltung zurück. Jetzt wäre es mir lieber, würde er ebenso wie ich gegen den Drang ankämpfen müssen, in seinem Stuhl zusammenzusinken, darauf hoffend, dass niemand uns entdeckt, obwohl alle Flutlichter auf uns gerichtet sind.

„Bin ich jetzt zurück in der Schule?“, spottet er.

Ich verschränke die Arme entschieden vor der Brust. „Lass es mich anders ausdrücken. Du hast zehn Minuten, um mich davon zu überzeugen, keinen von euch anzuzeigen.“ „Charmant.“ Casper schenkt mir ein strahlendes Lächeln. Er selbst hält weder ein Glas in der Hand, noch hat er dem Champagner einen zweiten Blick geschenkt. Nicht hochprozentig genug? „Sagst du mir wenigstens, wo ich anfangen soll oder muss ich eine Weile Topfschlagen im Minenfeld spielen?“

Wie gerne würde ich den gesamten Inhalt der Flasche herunterstürzen in der Hoffnung, dass ich mich morsen an nichts mehr erinnern kann. Oder in der Vergangenheit landen und benebelt genug sein, damit mir die Unterschiede zwischen dem Anton, in den ich mich verliebt habe, und dem Anton, den ich vor mir habe, nicht auffallen. Meine Hände zittern noch immer kaum merklich und das alles nur, weil ein Mann mir gegenüber die Stimme erhoben hat.

Kein Mann, wenn man Casper Glauben schenkt. Ein Dämon. Diese Behauptung ist noch absurder als die Meinung des Rektors, ich sei lediglich eine Idee der Menschen. Wenn ich mich einweisen lassen will, sollte ich genau das tun: jedes Wort, das aus Caspers Mund kommt, für bare Münze nehmen. „Okay, dann sagst du jetzt halt gar nichts mehr. Stehst du einfach nur unter Schock oder bist du jetzt sauer?“

„Neun Minuten und zehn Sekunden“, sage ich kühl und verschränke die Arme vor der Brust. Meine Muskeln zucken leicht.

Casper rollt die Augen. „Dann lass uns beim Urknall anfangen, ja? Danach verstehst du wahrscheinlich, warum Ray so ausgekreist ist.“ Ich bezweifle, dass es ein Argument gibt, das diese Reaktion rechtfertigt. Mein Schweigen interpretiert Casper augenscheinlich als Zustimmung. Grinsend lehnt er sich in seinem Stuhl nach hinten und wippt vor und zurück. „Machen wir es dir ganz einfach, kleine Diva, okay? Um das zu verstehen, musst du mir nur deine Hand geben.“

„Pardon?“ Ich werde diesen Jungen mit Sicherheit nicht freiwillig berühren. Nicht nach dem, was ich gesehen habe, während die inkompetente Psychotherapeutin sich an meinem Tee gütig tat.

Herausfordernd grinst Casper mich an. „Komm schon. Du willst eine Erklärung, dann hol sie dir. Du tust so, als wäre meine Berührung irgendwie giftig.“ Das wäre wohl durchaus möglich. „Chrona“, sagt Casper leise und linst durch seine hellen Wimpern zu mir auf. „Tue einmal das, worum man dich bittet. Es tut auch nicht weh.“

„Acht Minuten.“

„Wenn du gleich anfängst tick, tack, tick, tack zu sagen, dann lache ich mich schlapp.“ Casper klingt nicht im Mindesten amüsiert. „Bei Gott, Chrona“, sagt er durch zusammengebissene Zähne, als ich mich noch immer nicht rühre. „Irgendwann bringt dich deine Arroganz noch einmal ins Grab.“

„Die Zeit läuft.“

Ein Achselzucken. „Gut, dann machen wir es halt ohne Höflichkeit. Die wird wahrscheinlich eh überbewertet.“ Blitzartig beugt sich Casper vor zu mir und umfasst mein Handgelenk. Erschrocken versuche ich, mich aus seinem Griff zu wenden. Er hält mich nur fester. Scharf ziehe ich die Luft durch die Zähne ein. Der dünne Kratzer der gestrigen Nacht dehnt sich schmerzhaft. Es fühlt sich an, als würde man mir noch einmal über den Unterarm fahren. Ich warte darauf, dass das Blut zu Boden regnet und Casper wie ein Wahnsinniger auflacht.

Stattdessen verschwimmt meine Sicht. Hektisch klammere ich mich an den Stuhl wie an einen Anker. Aber wenn er der Anker sein soll, dann ist das übrige Zimmer die tobende See, die meine Finger mehr und mehr von Sinn und Verstand löst.

„Geht es wieder halbwegs?“ Casper grinst mich an. Ich schreie auf und ziehe an meinem Arm.

„Wenn du mich nicht sofort loslässt, verständige ich die Polizei hier und jetzt.“ Himmel, das hätte ich längst tun sollen!

„Schrei bitte nicht so rum. Das erfordert mehr Konzentration, als du dir vorstellen kannst. Und jetzt hör auf mich anzustarren, als wäre ich der Mittelpunkt deines Universums.

Da vorne wird es wichtig.“ Er deutet in die schummrige Dunkelheit vor uns. Ich bin kurz davor zu hyperventilieren. Das. Ist. Nicht. Mein. Zimmer.

„Wo hast du mich …“

„Jetzt halt endlich mal die Klappe“, unterbricht mich Casper. Ich öffne den Mund, um die richtigen Worte zu finden. Ein leises Rascheln zieht meine Aufmerksamkeit auf sich. Der Geruch von verbrannter Vanille liegt in der Luft. Mir stellen sich die Nackenhaare auf. Er ist hier.

„Keine Sorge, das hier ist nur eine Erinnerung. Cayl, also ein mehr oder weniger guter Freund, hat sie uns beschaffen. Du kannst damit aufhören, mir das Blut abzudrücken.“ Das würde ich nur zu gern, wenn ich nicht das Gefühl hätte, dass meine Beine jeden Moment unter mir wegknicken. Diese Situation, mir steigen die Tränen in die Augen, überfordert mich. Sie macht mich fertig. Hierfür wurde ich nicht ausgebildet. Woran soll ich mich festhalten, wenn nicht an Casper?

Eine Erinnerung? Seit wann kann man Erinnerungen betreten?

„Klopf, klopf.“ Ein grausiges Amüsement schwingt in einer rauen Stimme mit. Keine Reaktion. Casper muss den Verstand verloren haben. Er zieht mich näher an die Szene heran, hinein in die matte Finsternis.

„Casper, ich versichere dir, wenn du mich nicht sofort zurück in das Zimmer bringst, dann organisiere ich eigenhändig dein baldiges Ableben.“ Vater kennt den ein oder anderen Auftragskiller, den man für unschön verlaufende Geschäfte stets in der Hinterhand haben sollte.

„Ruhig, Tiger. Sonst hörst du ja gar nichts.“ Casper schenkt mir ein Grinsen, das ich sogar in der Dunkelheit problemlos erkennen kann. „Du weißt doch, noch sieben Minuten, um dich davon zu überzeugen, dass wir nett sind und du ein bisschen zu viel MakeUp eingeatmet hast.“ Korrektur, es ist vollkommen irrelevant, was er vorzuweisen hat. Casper, der Rektor und seine Frau sind am besten weit weg von mir aufgehoben.

„Jetzt hör zu“, murmelt er.

„Klopf, klopf“, wiederholt Echnaton Ralowskowitsch. Seine Stimme ist wie Schmirgelpapier, das jedes angenehme Gefühl zerreibt, bis nichts als ein übelschmeckendes Pulver übrigbleibt.

„Gott verdammt, ich komme ja schon.“ Die Tür wird aufgerissen. Eine zierliche, junge Frau steht dort vor uns und stützt sich im Rahmen ab. Die, soweit ich es in dem schummrigen Licht erkennen kann, blonden Haare hat sie sich über die Schulter geflochten. Ihr Blick könnte töten. „Wenn das nicht der Kiffer ist, der mir meine Regenerationsfähigkeiten abgenommen hat. Ich wollte mich noch bedanken. Wegen dir hätte nicht nur ich um ein Haar ins Gras gebissen, sondern auch Silent. Jackpot!“ Sie reißt theatralisch die Hände in die Luft, ehe sie die Lippen spitzt. „Entschuldige, ich habe meine Manieren vergessen.“ Sie schließt die Tür hinter sich und schlägt dem Grauen Mann mit der flachen Hand leicht gegen die Stirn. „Klopf, klopf.“ Gereizt macht er einen Schritt zurück. Ich kann nur dastehen. „Ich komme nicht, um zu sprechen, Giftmädchen“, sagt Echnaton Ralowskowitsch.

„Sondern um mich zu bestehlen? Was ist als nächstes dran? Meine hellseherischen Fähigkeiten?“ Abwartend sieht sie ihn an. Keine Reaktion. Sie kichert und rollt die Augen. „Oh, nein, warte, damit würdest du mir ja einen Gefallen tun. Also, was ist der Grund für deinen Besuch?“ Glucksend schnalzt sie mit der Zunge. Die junge Frau mit dem schweren russischen Akzent muss den Verstand verloren haben. „Ist dir langweilig? Oder brauchtest du nur ein wenig Bewegung?“

Schweigen. Sie schnaubt abfällig. „Im Ernst, such dir jemand anderen, den du in den Wahnsinn treibst. Ich würde wirklich gern weiterschlafen.“ Selbst wenn ich es nie zugeben würde, im Stillen zolle ich ihr Beifall. Ob für ihren Mut oder ihre Torheit weiß ich noch nicht zu sagen.

„Der Schlaf wartet nicht auf dich.“

„Von mir aus. Mein Verlobter aber.“ Sie dreht sich auf dem Absatz um und betätigt die Klinke. Die Tür rührt sich nicht. Anstatt, wie ich vorhin, hektisch an der Tür zu rütteln, dreht sie sich lediglich um und stemmt die Arme in die Hüften.

„Ist das dein verdammter Ernst?“

Der Graue Mann schenkt ihr ein müdes Lächeln, zieht an seiner Zigarre, bevor er sie auf seinem eigenen Handrücken ausdrückt. Ich erinnere mich zu gut an das Zwicken und Beißen, als er das glühende Ende auf meine Hand drückte. Echnatons Gesicht bleibt regungslos.

„Ich bin gekommen, um die Schulden einzutreiben.“

Das Mädchen lacht auf und legt den Kopf schief. Es hat die Augen weit aufgerissen und den Mund leicht geöffnet. Ein höhnender Engel. „Und, weil der Tag nur dreizehn, vierzehn Stunden hat, muss man das dringend in der Nacht machen?

Wirklich?“

„Ich verlange den Lohn.“

„Den Lohn? Wofür? Dafür, dass ich noch öfter fast draufgegangen wäre, seitdem du mir eine grottenschlechte Tomatensuppe verkauft hast?“ Wieder keine Reaktion. Sie lacht leise. „Gut, wie du willst, Karten auf den Tisch. Du sagst, ich schulde dir etwas, ich bestreite es. Aussage gegen Aussage. Du wirst diese Sache nicht gewinnen.“

„Mir gehört die Welt.“

„Der letzte Typ, der das dachte, ist durch meine Hand gestorben.“ Sie zuckt die Achseln. „Es tut mir wirklich leid, aber mein Kalender ist voll. Mein Verlobter ist größenwahnsinnig genug, damit ich nicht auch noch einen älteren Herrn brauche, der mir sagt, dass er alles schaffen kann.“

Die Augen des Grauen Mannes werden schmal. Ich kann nicht nachvollziehen, warum Casper mir das zeigt. Echnaton Ralowskowitsch wird vorgeführt. Nie schien er mir weniger bedrohlich. Dieser Mann hat wenig mit dem zu tun, der mich zu einem Handel bewegen will.

„Das Tagebuch des Teufels liegt in meinen Händen“, zischt er.

Sie seufzt schwer und spielt mit ihrem Zopf. „Und dazu gratuliere ich dir. Kannst du dir nicht Freunde suchen, die sich mit dir darüber freuen? Ich habe echt besseres zu tun, als mir die Nacht vor der Tür meines Hauses um die Ohren zu schlagen.“

„Du bist Teil davon.“

„Deiner durchzechten Nächte?“ Sie gähnt demonstrativ. „Ja, ich merke es. Machst du jetzt die Tür wieder auf?“

„Erbebe vor mir.“ Seine Lippen bewegen sich nicht, als er das sagt. Eine Gänsehaut läuft mir über den Rücken.

„Jetzt geht es los“, murmelt Casper. „Versuch keinen Herzinfarkt zu bekommen oder so.“

Das Mädchen verschränkt die Arme vor der Brust. „Wir sind zurück beim guten, alten Drohen?“ Kopfschüttelnd geht sie auf ihn zu. Ich meine zu sehen, dass ihre Hände zittern. Sie lässt sich nichts anmerken, besitzt augenscheinlich eine noch größere Selbstbeherrschung als ich. „Was willst du von mir hören? Dass ich dir eine Kugel durch das Hirn jage, wenn du jetzt nicht verschwindest?“

Der Graue Mann lacht gurgelnd auf und greift unter seinen grauen Trenchcoat. Als er eine Waffe zieht, braucht es jedes Bisschen meiner zurückgebliebenen Selbstbeherrschung, um nicht nach Luft zu schnappen.

„Eine Waffe für das Gift.“ Das Mädchen nimmt die Pistole achselzuckend an sich. Routiniert entsichert sie die Waffe und richtet sie auf seinen Schädel.

„Was soll das hier werden? Hegst du einen geheimen, großen Todeswunsch?“, spottet sie. „Wird es dir langweilig, die Menschen des Nachts aus dem Schlaf zu klopfen?“ Ein beunruhigend ruhiges Lächeln erscheint auf den rissigen Lippen des Grauen Mannes. Das Mädchen schnalzt mit der Zunge. „Du weißt schon, dass der letzte Typ, der mich Giftmädchen genannt hat, in irgendeinem alten Industriegebäude von Maden gefressen wird und als Krähenbar dient?“

Der Graue Mann lacht erneut leise und lehnt die Stirn gegen den Lauf. Die junge Frau legt genervt den Kopf in den Nacken. „Was soll das?“

„Töte mich und der Sieg ist dein. Mein Leben bedeutet deinen Tod.“ Sie zieht die Unterlippe zwischen die Zähne. Für einen flüchtigen Moment scheint sie verunsichert. Ein ohrenbetäubender Knall zerreißt die Stille. Ich schreie leise auf. Blut spritzt gegen die Wände, auf ihr Gesicht und rinnt in dunklen Tränen die blassen Wangen hinab. Sie zuckt nicht einmal mit der Wimper.

Jemand hämmert gegen die Tür hinter ihr. „Cathrin?“, glaube ich eine männliche Stimme verschwommen sagen zu hören. „Cathrin, was ist da los?“ Sie lässt die Waffe sinken und dreht sich fort von dem Grauen Mann. Verzweifelt versuche ich, meine Atemfrequenz zu beruhigen. Das Blut ist bis vor meine Füße gespritzt. Und sie? Sie wischt es sich lieblos vom Gesicht als wäre es Wasser. Ist das eine weitere Bekannte von Casper? Ein weiterer Dämon?

„Nichts. Alles ist gut.“ Ihre Finger verharren an ihrem rötlich betupften Zopf. Hastig schüttelt sie die Hand, räuspert sich.

„Kannst du die Tür aufmachen? Ich habe sie hinter mir ins Schloss fallen lassen und den Schlüssel vergessen.“

Die Klinke wird von drinnen betätigt. Die Tür bleibt geschlossen. Ein metallisches Klacken. Nichts rührt sich. Das Mädchen atmet tief durch und dreht den Rücken zur Tür, hebt erneut die Waffe.

„Es ist abgeschlossen.“ Die Stimme auf der anderen Seite ist gefährlich ruhig.

„Ich kümmere mich darum“, sagt die junge Frau und fährt sich mit dem Unterarm über das blutige Gesicht, bis jeder Tropfen verschmiert wurde.

„Cathrin …“

„Ich kümmere mich darum!“

Ich kreische auf. Der Graue Mann bewegt sich. Seine Hände tasten über den Boden, die klaffende Wunde schließt sich in Sekundenschnelle.

„Wenn du dich übergeben musst, dann bitte in die andere Richtung“, sagt Casper, als ich mich nach Luft schnappend zu ihm neige. Zittrig gehorche ich und würge. Nichts. Der Graue Mann, das Mädchen, beide scheinen uns nicht zu hören. Eine Erinnerung. Und wir sind irgendwie eingedrungen.

Ich brauche eine Flasche Champagner.

Der Trenchcoat knistert, als er sich zurück auf die Beine drückt. Probehalber rollt er den Kopf. Die Hand des Mädchens zittert nicht, während es auf ihn zielt.

„Gut“, sagt die blonde Frau, als er wieder steht. Ihr Akzent ist, wenn möglich, deutlicher geworden. „Zugegeben, das ändert den Sachverhalt.“

Der Graue Mann kichert heiser. Blutiger Speichel tropft ihm über das Kinn. „Dein Leben liegt in meiner Hand“, höhnt er. „Glaube ich nicht.“ Sie klingt wenig überzeugt. Ich kann es ihr nicht verübeln. Der Graue Mann zieht eine neue Zigarre aus der Brusttasche seines Trenchcoats. Sie beginnt zu glühen, ohne dass er ein Feuerzeug daran gehalten hat.

„Ich bin nicht gekommen, um zu reden“, wiederholt er.

„Und ich schätze auch nicht, um zu sterben?“, fragt sie bedauernd.

„Ein Geschenk“, flüstert der Graue Mann und deutet auf die Pistole.

„Brauche ich nicht.“

„Cathrin, was ist da los?“

Die junge Frau kneift die Augen zusammen. „Alles ist gut“, wiederholt sie.

„Wer ist bei dir?“ Wieder das metallische Klacken.

„Der Schlüsseldienst“, sagt sie gedehnt und sichert die Waffe. Ein tiefer Zug an der Zigarre und Echnaton Ralowskowitsch nimmt die Pistole wieder an sich. Nicht ohne einen Tausch. Er drückt ihr eine dünne Plastikkarte in die Hand. Vom Weiten ähnelt sie stark einem Führerschein.

„Du und er seid meine kostbarsten Juwelen.“ Der Graue Mann pustet Cathrin langsam den schweren Qualm in das Gesicht. Sie spitzt die Lippen.

„Und wenn wir uns weigern?“ Seine Schritte tönen übernatürlich laut durch den Korridor, als er auf sie zugeht. Das Mädchen zuckt nicht, rührt sich nicht. Diese Selbstbeherrschung jagt mir Angst ein. Leben oder Tod. Nichts scheint für sie eine Bedeutung zu haben.

Provokant langsam beugt der Graue Mann sich hinab zu ihr und flüstert ihr Worte ins Ohr, die ich nicht verstehen kann. Ihre vollen Lippen verziehen sich zu einem maliziösen Grinsen. „Hör endlich auf damit“, zischt sie. „Hör auf damit, mich zu unterschätzen.“

Der Graue Mann lacht heiser. „Ich kenne den Gegner und den Spieler.“

„Das bezweifle ich. Mit mir sollte man sich nicht anlegen. Und mit Silent auch nicht. Wir wissen beide, wie man Leute einen Kopf kürzer macht. Vergiss das nicht.“

„Mein Leben ist dein Tod.“

Sie nickt gelangweilt. „Klar. Und jetzt mach die Tür auf. Ich will noch ein wenig über mein baldiges Ableben schlafen.“ Das raue Kichern des Grauen Mannes bringt mich dazu, mich noch näher an Casper zu drängen. Das Mädchen, Cathrin, bleibt unbeeindruckt. Als er sich nicht rührt, sagt sie: „Manchmal habe ich wirklich das Gefühl, du probst für das diabolischste Lachen der Welt. Meine Stimme würdest du sofort bekommen, nicht dass wir uns falsch verstehen.“ „Mein kostbarstes Juwel“, wispert Echnaton Ralowskowitsch. Die Silben klingen nahezu liebkosend. Ein noch unheimlicherer Wesenszug. „Es wird mir eine Freude sein, dich auf dem Schachbrett sterben zu sehen.“

„Aber bitte erst, wenn ich ausgeschlafen habe.“ Noch einmal deutet Cathrin auf die Tür. „Wärst du so gut.“ Der Graue Mann lacht heiser. Dann ist er verschwunden und mit ihm der düstere Korridor.

„Gut, Erinnerung Nummer zwei“, kündigt Casper freudestrahlend an. „Bekomme ich die paar Minuten noch?“ Er tut so, als stände mein Entschluss nicht schon lange fest. Kraftlos zucke ich die Achseln. Mein Kopf dreht sich. Was auch immer geschieht, ich verstehe es nicht. Ich begreife nichts. Da war Blut. Da war Blut, aber es war nicht da. Ich habe geschrien, aber niemand hat mich gehört und ich war da, aber ich war nicht da.

Tief atme ich ein. Ich werde Casper in dem Glauben lassen, dass er meine vollste Unterstützung erfährt und sobald ich zurück in der Sicherheit des Clark-Towers bin, werde ich alles in die Wege leiten, um ihm nie wieder begegnen zu müssen.

Ich straffe die Schultern und blicke stoisch in das helle Zimmer vor mir. Es ist nicht mein eigenes.

„Keine Sorge, das hier wird nicht so lang“, sagt Casper.

Der Raum ist menschenleer. Moosgrüne Wände wirken zwischen den zerrissenen Gardinen verwahrlost. Das Bett ist ungemacht, die blaue Decke hängt halb auf dem Linoleumboden. In jedem lauwarmen Luftzug, der durch das angekippte Fenster huscht, quietscht die Schranktür.

Ich versuche, mir nicht den Kopf darüber zu zerbrechen, dass ich rieche und fühle, was hier vor sich geht, obwohl es nicht real ist. Eigentlich sitze ich noch immer auf dem Stuhl in dem Internatszimmer. Halte Caspers Hand. Und trotzdem füllen diese Eindrücke meine überforderten Sinne.

Wieder eilt der Vanillegeruch ihm voraus. Der Graue Mann erscheint aus dem Nichts und lässt sich auf den Stuhl vor dem überladenen Schreibtisch sinken. Ich bemühe mich, nicht auf seine Stirn zu starren, aus der diffusen Angst heraus, dass er mich dann bemerken könnte – obwohl ich nicht anwesend bin. Die Haut dort ist heil. Nichts lässt darauf schließen, dass ihm ein Mädchen aus nächster Nähe eine Kugel durch den Schädel gejagt hat. Was die Frage aufwirft, welche Wunden sich noch unter seiner alten Visage verbergen. Welche Geschichten.

„Einen Schritt zur Seite, bitte. Sonst läuft er gleich durch dich hindurch.“ Ohne meine Reaktion abzuwarten, zieht Casper mich nach rechts. Im nächsten Moment öffnet sich die Tür und ein Junge betritt den Raum. Er geht genau dort entlang, wo ich eben noch stand. Tiefe Schatten liegen unter seinen klaren, bernsteinfarbenen Augen. Für diese langen, geschwungenen Wimpern würde ich einen Mord begehen.

„Jason, mein Guter.“ Das Blut gefriert mir in den Adern, als Echnaton Ralowskowitsch den Jungen anlächelt und diese winzige Geste seine Augen erreicht. Das matte Grau darin scheint Funken zu werfen und sich in triefenden Fesseln um den Körper des Jungen zu schlingen. Der schüttelt sich leicht, als hätte er es bemerkt, dann erwidert er das Lächeln. Seines fällt gezwungen aus.

„Echnaton.“ Er klingt matt. Aus seiner Stimme spricht die gleiche grenzenlose Erschöpfung wie aus seinen Augen. Aus jeder seiner Bewegungen.

Der Graue Mann lehnt sich in dem Stuhl zurück, badet im Sonnenschein. „Mein Versprechen sitzt in ihrem Zimmer. Ich komme, um die Schulden einzutreiben.“

Der brünette Junge lacht freudlos. „Kann ich dir ein Bier anbieten?“

„Die Bezahlung“, antwortet der Graue Mann kalt.

Der junge Mann presst die Lippen fest aufeinander. „Was benötigst du? Eine Unterschrift?“

„Dein bloßes Wort.“

„Gut.“ Er lässt sich kraftlos auf das ungemachte Bett fallen. Genau der Verhandlungspartner, den man braucht, um sich selbst über alle Maße zu bereichern. Jason fehlt die Energie, die das blonde Mädchen selbst in der Nacht noch in sich hatte. Er scheint wie leergefegt. „Ich spiele, solange du sie da raushältst.“

Die Augen des Grauen Mannes werden schmal. „Wen, mein Junge? Das Mädchen?“

„Caressa, ja. Ich spiele in deinen Spielen mit, wenn du dein Wort hältst und ihr das Leben rettest, wann immer es nötig wird.“ Der Graue Mann stützt sich auf dem überfüllten Schreibtisch ab. Würden meine Zimmermädchen die Arbeitsfläche auch nur ein einziges Mal auf diese Weise hinterlassen, ich würde ihren Vertrag fristlos

„Sie stirbt nicht an der Strahlung und du bist Teil meines Spiels“, sagt der Graue Mann. Der Junge reibt sich über die Stirn. Auf dem Fensterbrett regt sich etwas. Ein leises Piepsen, das zu einem regen Schreien anschwillt. Kleine Vögel recken die Köpfe aus ihrem Nest. Unglaublich wie wenig artgerecht dieser Junge die Tiere hält. Ein Nest auf einem Fensterbrett. Wo ist der Käfig? Oder das Muttertier? „Nein. Nein, das war anders.“ Stöhnend reibt sich Jason mit dem Daumen über die Stirn. „Ich spiele mit und du beschützt sie immer und zu jeder Zeit.“

„Lüge.“

„Was? Nein. Das ist doch …“ Er massiert sich die Nasenwurzel. „Nicht jetzt“, murmelt Jason. „Logan, du kannst dich gleich um die Kleinen kümmern. Ich habe hier etwas zu klären.“ Ein Schauder geht durch den Jungen, während mir der Mund aufklappt. Er führt Selbstgespräche? „Sie haben Hunger“, spricht er mit einer anderen Stimme. „Du kannst dich später wieder mit dem Alten unterhalten.“ Das nächste Zittern.

„Geh, Logan. Ich brauche noch zwei Minuten.“

„Zehn Sekunden“, sagt Echnaton Ralowskowitsch.

Der Junge nickt bebend. „Ja. Zehn Sekunden. Gib mir zehn Sekunden.“

Fassungslos sehe ich Casper an. Der zuckt nur die Achseln. „Hat er Echnaton zu verdanken. Der Graue Mann hat seiner Teilzeitgeliebten ein besonderes Geschenk gemacht.“ Verständnislos hebe ich eine Braue. Casper rollt die Augen. „Man, das habe ich dir doch schon erzählt.“ Möglich. Mich überfordert diese Situation. Ich gebe es offen zu, ich bin raus. Das hier hat nichts mit meinen Geschäften zu schaffen. Ich möchte nach Hause und alle Probleme vergessen. Alles außer eines. Das, das Anton mich aufgegeben hat. Selbst diese Sorge könnte nebensächlich werden, sobald ich wieder bei Achim bin.

Jedes Mädchen hat einen naiven Wesenszug in sich. Bei mir bezieht sich dieser Teil auf Achim. Auf diese winzige Hoffnung, dass er mich genauso liebt wie ich ihn und den Ehevertrag aufweicht, auch ohne den Segen meiner Eltern. Wenn er für mich da ist, womöglich benötige ich Antons Nähe dann nicht mehr oder seine Liebe.

Der Graue Mann erhebt sich und geht lächelnd auf den Jungen zu. „Ich beschütze sie und erhöhe den Preis.“

Der Junge gähnt und schüttelt den Kopf. Er steht völlig neben sich. „Nein. Ich... Was willst du denn noch? Mehr als meine Zukunft kann ich dir nicht geben.“

„Caressa soll ein Teil davon werden.“

Ein heftiges Kopfschütteln. „Nein.“

„Ich versichere dir, ohne den Pakt verlierst du sie.“

„Nein. Ich …“ Wieder ein Schauder.

„Hey ho!“ Der Junge springt auf und grinst ihn gut gelaunt an. „Logan der Name. Ihr könnt gleich weiterreden, aber meine Vögel haben Hunger.“

Der Graue Mann verzieht abfällig den Mund. Sein ganzes Gesicht scheint sich dabei in pergamentartige Falten zu legen. Ein zerknülltes Blatt Papier. Bei dem Gedanken muss ich beinahe lachen. Beinahe. Würde es mich nicht beunruhigen, wie der Graue Mann den Jungen an den Schultern packt, seine Proteste ignoriert, ehe er ihm mitten in das Gesicht schlägt. Bis jetzt schien der Graue Mann jenseits von Gut und Böse zu agieren. Dieser eine Schlag beweist das Gegenteil. Die Nase des jungen Mannes beginnt zu bluten. Im Vergleich zu dem, was das Mädchen mit Echnaton Ralowskowitsch angerichtet hat, ein nahezu willkommener Anblick.

„Jason“, zischt der Graue Mann. Seine Hände zittern vor Wut. „Das Versprechen. Jetzt. Oder sie ist hinüber.“

„Ich weiß nicht, was du meinst.“ Der Junge schüttelt benebelt den Kopf. Wie alt mag er sein? Achtzehn, neunzehn? Man merkt ihm seine Unerfahrenheit mit jeder Sekunde mehr an. Er ist Mister Ralowskowitsch schutzlos ausgeliefert und der Graue Mann kennt keinen Skrupel, das auszunutzen. Er handhabt die Situation, wie ich es täte.

„Euer beider Einsatz für ihr Leben. Mein Geist wird über sie wachen.“

„Nein.“ Träge schüttelt Jason den Kopf. „Nein, du verstehst nicht…“

„Zehn Sekunden oder sie ist hinüber. Ich rette, was zwischen Maden und Hoffnung noch geblieben ist.“ Der Junge bebt erbärmlich. Seine Zähne schlagen heftiger aufeinander, als ich es je gehört habe. Es klingt wie das verzerrte Aneinanderklirren von Sektgläsern.

„Ich will …“

„Nein!“ Wieder ein Selbstgespräch. Er rollt den Kopf, vergräbt die Hände in den dunklen Haaren. Nie zuvor habe ich jemand ähnlich Labiles erleben müssen.

„Jason“, zischt der Graue Mann.

„Ja, verdammt, ja“, brüllt er ihn an und windet sich aus dem Griff. „Ja, ich versichere es dir. Ich …“

Das nächste Beben. „Das tut mir wirklich leid, aber ich muss die Vögel füttern. Und hör auf damit, mich zu schlagen. Klar, alter Mann? Sonst verpasse ich dir auch was.“ Der Junge geht kopfschüttelnd an Echnaton Ralowskowitsch vorbei. Kühl wischt der Graue Mann sich über die Knöchel. Das Blut verschwindet und die Erinnerung mit ihm.

„Das war nicht schockierend“, stelle ich nüchtern fest. Casper schnaubt.

„Im Ernst? Er hat den Jungen, dessen Erbgut er vorsätzlich so verändert hat, dass er nicht mehr klar zwischen sich, Logan, Jonathan, Cara und Jonathan unterscheiden kann, total abgezockt und du sagst, das ist nicht so schlimm?“ Ich hebe die Schultern. „Für gute Geschäfte tut man Vieles.“

Casper sieht mich schief an. Ein seltsamer Schatten hat sich über seine himmelblauen Augen gelegt. „Ist dir ein gutes Geschäft auch einen Mord wert? Oder gleich zwei? Würdest du dafür Intrigen anhäufen, bis die Betroffenen darüber stolpern und keinen Rückweg finden?“

„Du warst nie an der Börse.“ Das ist keine Frage, sondern eine Feststellung. Casper schüttelt den Kopf, dass die blauen Locken fliegen.

„Gut, vergiss es. Warum mache ich das hier überhaupt.“ Er entzieht mir die Hand. Für einen flüchtigen Moment befürchte ich, dass die Erinnerung kollabiert und mich mit der Wucht eines Tsunami unter sich begräbt. Stattdessen wanke ich nur leicht, während ich das Gleichgewicht wiederfinde. „Ich lasse den Rest aus und komme gleich zu Ray, klar?“, sagt Casper unwirsch. Ich verschränke die Finger ineinander. Dieses vertraute Geplänkel, wenn auch mit einer labilen Persönlichkeit, hat mir meine Fassung zurückgegeben. Mit solchen Situationen kann ich umgehen und für seine Skrupellosigkeit ist Echnaton Ralowskowitsch ohnehin berüchtigt. Nur nicht für seine Fähigkeit, eine Kugel im Hirn zu überleben.

„Eine Weigerung meinerseits wäre ohnehin bedeutungslos, nicht wahr?“

Casper versucht sich an einem Lächeln und scheitert. „Kleine Diva, du kannst dich geehrt fühlen. Das habe ich bis jetzt noch zu niemandem gesagt. Aber ich verabscheue dich aus ganzem Herzen. Du bist die widerlichste und selbstgefälligste Person, mit der ich mich je auseinandersetzen musste.“

Casper verstummt. Ein gellender Schrei hat das Morgenrot unterbrochen. Ein männlicher Schrei. Unwirsch greift Casper nach meiner Hand und zerrt mich mit sich, als wäre ich Vieh. Bald werde ich ihn nie wieder sehen müssen.

Casper führt mich in ein Wohnzimmer. Schwere, dunkle Vorhänge schleifen über den purpurroten Teppich. Helles Mobiliar bildet den krassen Gegensatz zu dem düsteren Grundturnus.

Verschwitzt und von der Rolle taumelt ein junger Mann in den Raum. Er trägt nichts als seine Boxershorts und ein altes T-Shirt. Keuchend stützt er sich an der Lehne des cremefarbenen Sofas ab. Das weiße Haar fällt ihm in das aschfahle Gesicht. Als ich ihn erkenne, klappt mir der Mund auf. Der Rektor, ein paar Jahre jünger. Ist er zwanzig? Genauso alt wie ich genau jetzt?

Fahrig wischt er sich über die nassen Wangen. Was er murmelt, verstehe ich nicht.

Das nächste Phänomen lässt mich erstarren. Schatten. Sie fließen von überall her wie Schlangen, die ihr Nest suchen. Hunderte, Tausende. Über meine Beine, über Casper, hin zu ihm. Wie schutzsuchende Welpen betten sie sich zu den Füßen des Rektors und, auf eine absurde Art und Weise, scheinen sie den Rektor zu beruhigen.

Bebend vergräbt er das Gesicht in der Sofalehne und stößt einen animalischen Schrei aus. Die Schatten zucken. Er schluchzt.

Casper neben mir hat die Lippen fest aufeinandergepresst. „Wenn er jemals erfährt, dass ich dir das gezeigt habe, bin ich meinen geliebten Kopf los“, murmelt Casper. Stumm sehe ich Casper an. Was nun?

„Ray?“ Ihre Stimme ist so zart und leise, im ersten Moment glaube ich, dass es nur die plötzliche Stille war, die dort gewispert hat. Jeanne steht auf der Schwelle, die blonden Haare fallen ihr wirr in das Gesicht. Der Rosenkranz baumelt über ihrem zarten Nachthemd.

Die Muskeln des Rektors spannen sich an, jede einzelne Sehne in seinem Hals ist zu erkennen. Sie muss den Verstand verloren haben, sich ihm weiter zu nähern. „Ray“, wiederholt sie leise und lässt die Hand über seinen Rücken wandern. Er spreizt die Finger, sieht sie nicht an. Behutsam vergräbt sie das Gesicht an seinem verschwitzten Nacken. Unwillkürlich verziehe ich den Mund.

„Alles ist gut“, bringt er schließlich hervor. Seine Stimme klingt zu hoch, man kann jede einzelne Träne hören. Jeanne fährt dem Rektor behutsam über die Schultern. Er zuckt zurück.

Seufzend lässt sie sich auf das Sofa sinken und zwingt ihn, sie anzusehen.

Sein Anblick schockiert mich. Die Wangen sind fleckig gerötet, die Augen gehetzt. Er muss sich auf die Zunge oder die Wange gebissen haben, während er tobte, oder um den Schrei zu ersticken. Das Blut quillt über seine Lippen. Vorsichtig streicht Jeanne es mit bloßen Händen fort. „Warum hast du mich nicht geweckt?“, flüstert sie. Der Rektor strahlt nichts als Ablehnung aus. Wenn so jemand am Verhandlungstisch sitzt, werden die Gespräche ihm gegenüber eingestellt. Menschen, die mit dem Rücken an der Wand stehen, sind nicht kalkulierbar. Jeanne wird das lernen müssen.

Einen vorsichtigen Kuss drückt Jeanne ihm auf den Oberarm. „Ray, was hast du geträumt?“

„Geträumt?“, wiederholt er, die Stimme erstickt. „Geträumt? Ich habe nicht geträumt. Ich habe nicht geträumt.“ Neue Tränen. Er lässt von der Lehne ab und streckt hilfesuchend die Hände nach Jeanne aus. Wie ein kleines Kind, das nach seiner Mutter tastet.

„Alles ist gut“, wispert Jeanne und zieht den Rektor über die Lehne an sich. Sie ist so viel zierlicher als er, bestimmt einen halben Kopf kleiner, und strahlt nichts als Unschuld und Naivität aus, die jeder vernünftige Verhandlungspartner sofort ausnutzen würde. Umso absurder ist es, dass er das Gesicht an ihrem Hals vergräbt und die Beine an die Brust zieht. Diese Szene wirkt so intim, dass es mir unangenehm ist, hinzusehen. Dabei sind sie beide vollständig bekleidet und küssen sich nicht. „Alles ist gut. Es ist nichts geschehen. Alles wird wieder gut.“

Er schüttelt den Kopf. „Er will dich mir wegnehmen“, flüstert der Rektor heiser. „Er plant, dich mir zu stehlen. Er will dir wehtun und ich werde nichts tun können.“ Der Rektor hebt den Kopf und sieht ihr fest in die Augen. „Ich kann das nicht ohne dich“, wispert er hilflos. „Ich kann das nicht, wenn er dich mir wegnimmt.“

Jeanne hält ihn noch fester, die schlanken Arme um seinen muskulösen Körper geschlungen. „Das wird ihm nicht gelingen. Wir haben so viel überstanden, da wird niemand kommen und uns Leid antun.“

„Du kennst ihn nicht.“

Jeanne schüttelt den Kopf und streicht ihm sanft die Tränen von den Wangen. „Wen denn, Ray? Vor wem hast du Angst?“ „Dem Grauen Mann“, sagt er. Er hickst das Schluchzen fort. Nichts an ihm hat mehr Ähnlichkeiten mit dem dämonischen Mann, der sich in seinem Arbeitszimmer vor mir aufgebaut hat. Das hier ist eine hilflose, rückgratlose Figur. Niemand, vor dem man Respekt empfinden muss.

„Wer ist das? Jemand aus der Hölle?“

„Nein. Er ist grausam genug, dass nicht einmal Luzifer etwas mit ihm zu schaffen haben wollte. Nicht Gott. Niemand. Nicht die dunkelste Seele dieser Welt.“

„Warum, Ray? Warum hast du Angst vor ihm?“

Der Rektor richtet sich auf und zieht Jeanne an seine Brust. Mit einer erschreckenden Sanftheit streicht er ihr durch das dichte Haar. „Er gibt einem alles, was man möchte, ganz gleich ob man darum gebeten hat oder nicht. Und dann nimmt er es einem wieder. Aber er nimmt es nicht einfach weg. Er trägt Sorge dafür, dass es wehtut. Er tötet oder verletzt oder ...“

„Ray“, unterbricht Jeanne ihn leise, während sie seine Lippen mit den Fingerspitzen nachzeichnet. „Es gibt niemanden auf der ganzen Welt, der an dir vorbeikommen würde, um mir etwas anzutun. Ich vertraue dir voll und ganz. Ich weiß, dass ich das kann.“ Der Rektor schüttelt den Kopf und presst ihr einen verzweifelten Kuss auf den Scheitel.

„Er war doch da. Deswegen bin ich aufgewacht.“ Der Rektor hält Jeanne seinen linken Unterarm entgegen. Eine frische Wunde prangt darauf, einen Rand aus Asche darum. Der Geruch von verbrannter Vanille, bilde ich ihn mir nur ein? „Er hat mich geweckt. Er hat mir geschworen, dass er dich mit sich nehmen wird. Du bist verloren, hat er gesagt.“ Jeanne ringt sich ein Lächeln ab. „Aber das bin ich doch gar nicht. Mir geht es gut, siehst du? Der Kleinen geht es gut, alles ist in Ordnung.“ Behutsam legt sie seine Hand auf ihren Bauch. Vorsichtig spreizt der Rektor die Finger. Etwas von seiner Angst scheint zu verfliegen.

„Er ist immer da“, haucht der Rektor. „Wir müssen einen Weg finden, um das zu ändern. Wenn uns das nicht gelingt, ich will nicht daran denken, was er anrichtet.“

„Das ist doch unwichtig.“ Jeanne nimmt sein Gesicht in beide Hände. Aus großen, verwundbaren Augen sieht der Rektor sie an. „Uns wird nichts zustoßen. Vater wird auf uns achtgeben. Er hat es geschworen.“

Der Rektor lacht verzweifelt auf und küsst Jeanne auf die Schulter. Seine Hand ruht noch immer auf ihrem Bauch.

„Nicht einmal Luzifer beherrscht ihn. Der Graue Mann kennt keine Grenzen.“

„Genau wie du“, sagt Jeanne. „Du musst dich nicht vor ihm fürchten.“

„Doch, doch das muss ich.“ Er schlingt beide Arme um sie. Jeanne bettet den Kopf auf seiner Schulter, atmet gegen seine Haut. Achim hat mich nie so gehalten. Nie, als wäre ich das Einzige, was ihn noch in der Realität hält.

„Du bist allmächtig, Ray. Selbst Gott hat sich dir gebeugt. Du bist unglaublich. Selbst wenn der Graue Mann mächtig sein sollte wie du, was ich nicht glaube, wirst du gegen ihn ankommen.“

Langsam schüttelt der Rektor den Kopf. „Nein. Nein, das werde ich nicht.“

„Natürlich wirst du das. Du …“

„Nein!“ Trotz des unwirschen Tonfalls umfasst er Jeannes Gesicht, als wäre es das Zerbrechlichste auf der ganzen Welt. „Er spielt anders. Er hat nichts zu verlieren. Er muss auf nichts und niemanden Rücksicht nehmen. Aber ich habe dich. Und ich habe die Kleine und ich kann euch beide nicht verlieren. Ich kann einfach nicht...“

„Ray.“ So viel Sachlichkeit, wie sie jetzt an den Tag legt, hätte ich ihr nicht zugetraut. „Seit wann hast du Panik? Sie vernebelt die Sinne, weißt du nicht mehr? Sie ist nicht rational.“

„Das ist mir egal. Er war in unserem Schlafzimmer, während wir geschlafen haben.“

„Aber, aber“, sagt Jeanne milde. „Wie willst du denn in diesem Zustand einen bösen Mann fangen? Jeder hat eine Schwäche. Wir finden seine. Und wenn es nur der Hang zur Boshaftigkeit ist, dann können wir das auch bewältigen.“ „Wie?“, flüstert der Rektor, ohne die Lippen zu bewegen.

„Indem wir es machen wie immer. Einen kühlen Kopf bewahren. Darin bist du am besten.“

„Ich habe dich“, sagt der Rektor, als würden diese drei Worte alles erklären.

Jeanne seufzt leise und gibt ihm einen Kuss auf die Nasenspitze. „Genau. Und ich werde dir helfen, egal was passiert. Egal was es kostet. Ich werde alles für dich tun.“ „Genau davor habe ich Angst“, wispert der Rektor. „Der Graue Mann weiß davon. Er weiß alles.“

„Niemand weiß alles.“

„Doch. Er schon.“ Der Rektor richtet sich auf und legt den Kopf an der Lehne ab. Die dunklen Augen starren ins Unergründliche, ohne einen Punkt zu finden, auf den sie sich fokussieren können.

„Cayl hat mir anvertraut, dass er Spieler sammelt für sein Vorhaben. Er benötigt noch einige. Es wäre doch äußerst interessant, uns beide in der Partie zu haben.“

„Das wird ihm nicht gelingen“, beharrt Jeanne. Der Rektor sieht aus, als wolle er ihr glauben, dringend. Und als gelänge ihm das nicht.

„Cayl hat erwähnt, dass der Graue Mann jemand Neues ins Auge gefasst hat. Hast du von Chrona Clark gehört?“ Jeanne schüttelt den Kopf. Die Mundwinkel des Rektors zucken freudlos. „Die Mädchen lieben sie.“

„Ich habe nie von ihr gehört.“

Der Rektor zuckt die Schultern. „Von mir aus. Der Graue Mann wird sie in das Spiel ziehen. Sie ist Aktionärin, bildhübsch, frevelhaft reich und skrupellos, sobald es um ein gutes Geschäft geht.“

„Das klingt nach dir vor zwei Jahren.“

Der Rektor rollt die Augen. Langsam schwindet die Schwere aus dem Raum. „Darauf wollte ich nicht hinaus. Wenn wir sie im Griff haben, ohne dass der Graue Mann es bemerkt, dann haben wir ihn in der Hand. Wir könnten ihn womöglich kontrollieren, sobald die Zeit gekommen ist.“

Nachdenklich legt Jeanne den Kopf auf seiner Schulter ab. „Und warum sollte er sie wollen? Weil sie schön ist?“

„Cayl sagte, sie könne in der Zeit reisen. Mit Reichtum und Elite geht immer eine gewisse Kühle der Umgebung einher. Der Graue Mann könnte diese Zeitreisen so manipulieren, dass sie immer in der gleichen Zeit landet.“

„Und auf die gleiche Person trifft“, beendet Jeanne seinen Gedankengang. Ich spüre Caspers Blick auf mir ruhen. „Er könnte ihr das geben, was sie sich am meisten wünscht.“ „Und wir könnten ihr helfen, das zu behalten, wenn sie uns ein wenig entgegenkommt“, beendet der Rektor.

Jeanne schüttelt den Kopf. „Das ist grausam!“

„Hast du eine bessere Idee?“ Eine harsche Frage sanft ausgesprochen.

Jeanne schweigt.

„Ich bin bereit alles, wirklich alles zu tun, um dich zu schützen“, fährt der Rektor ruhig fort. „Und wenn es die Ehre eines reichen Mädchens kostet, was kümmert es mich? Wir würden ihr kleines Herz vor dem Zerbersten bewahren.“ „Jetzt klingst du wie vor zwei Jahren.“

„Entschuldige.“ Raysiel drückt ihr einen Kuss auf den Hals und atmet tief durch. Die Wunde auf seinem Arm ist verblasst. Habe ich sie mir nur eingebildet?

„Denkst du, er wird noch einmal kommen? In unser Zimmer?“ Jeanne wirkt unruhig. Beinahe als würde ihre Selbstbeherrschung sich langsam verflüchtigen.

Er lächelt sie schwach an. „Er wird dich mir nicht wegnehmen“, sagt der Rektor matt. „Lieber vergesse ich all das, woran du mich erinnerst.“

Jeanne presst die Lippen fest aufeinander, bevor sie die Stirn an seine lehnt.

„Glaubst du wirklich, dass der Graue Mann das tun würde? Jemanden in eine bestimmte Zeit navigieren, damit derjenige sich in jemanden verliebt?“

Der Rektor nickt. „Ohne Zweifel. Niemand ist leichter zu beherrschen als ein verliebter Mensch.“

Die Erinnerung verblasst. Unscharf spüre ich den Stuhl unter mir, rieche die frische Bergluft. Die noch vom Schreien heisere Stimme des Rektors hallt in meinen Ohren wider.

Der Graue Mann gibt einem das, was man sich am meisten ersehnt, bevor er es einem nimmt. Als ich es brauchte, hatte ich Anton an meiner Seite. Und jetzt, wo ich ihn noch dringender in meiner Nähe wissen muss, ist er fort. Das Angebot aber steht: mein Verstand für Antons Leben.

Zehn Sekunden vor Mitternacht

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