Читать книгу Zehn Sekunden vor Mitternacht - Celina Weithaas - Страница 12

Оглавление

7

Ich stehe auf, um Fassung bemüht, und stürze den Champagner hinunter. Was mich mehr schockiert, weiß ich nicht. Dass der Rektor meinen Aufenthalt an diesem Ort seit Jahren plant, dass dieser eiskalte, einschüchternde Mann weinen kann oder dass Casper mich mit einer einfachen Berührung in Erinnerungen geführt hat, die nicht zu mir gehören.

„Hör auf mich so anzugucken“, schnaubt Casper.

Ich verziehe den Mund. „Wie sehe ich dich denn an?“ Draußen stürmt es noch immer. Bäume kämpfen um Halt, nehmen alles in Kauf, um ja nicht in die Knie gehen zu müssen, sogar die schroffe Gebirgswand als Stütze.

„Als wäre ich, keine Ahnung, der böse Geist der heiligen Weihnacht“, sagt Casper und hebt die Hände. „Der Typ, der den knausrigen Alten einmal in die echte Welt geführt hat, um ihm die Augen zu öffnen.“

„Ein absurder Vergleich.“ Nach seiner Gleichung müsste ich heruntergekommen und geizig sein. Ein einziger Blick auf mein, anstandshalber eröffnetes, Spendenkonto würde genügen, um von diesem Bild abzurücken.

„Stimmt. Der Alte, Knausrige wurde dann plötzlich nett und hat den Leuten geholfen.“ Casper verzieht das Gesicht. „Ich bezweifle immer mehr, dass du auch nur in Erwähnung ziehst, uns nicht alle zu machen.“ Augenscheinlich ist noch ein winziger Funken Verstand in Caspers Hirn verblieben.

„Hilf mir beim Packen“, befehle ich. Casper lacht leise und stellt sich neben mich. Demonstrativ bleibe ich an Ort und Stelle, obwohl er die Anstandsgrenze weit überschritten hat. Sein Unterarm berührt meinen, als er sich ein Stück zu mir beugt, nah genug, damit ich seinen seltsamen Geruch von Wind und Frühling in der Nase habe.

„Wie wirst du es anstellen? Uns einfach nur verklagen und dich dem Grauen Mann allein stellen?“

Es muss den Eindrücken der letzten Stunden geschuldet sein, dass mich seine Dreistigkeit kalt lässt. „Der Graue Mann stellt für mich keine Gefahr dar.“ Im Gegensatz zu allen anderen, die Casper mir gezeigt hat, bin ich nie einen Handel mit ihm eingegangen und das Entgegennehmen von Geschenken ist weder frevelhaft noch töricht. Geschenke folgen der Verehrung.

„Genau. Und ich bin Rumpelstilzchen.“ Casper stützt sich auf dem Fensterbrett ab und späht nach draußen. „Siehst du die Fichte dort?“, fragt er unvermittelt und deutet auf einen geschwungenen Baum, den die Wurzeln nicht mehr lange an die Erde werden ketten können. Der Wind legt sich unter seine Arme und zerrt ihn unermüdlich gen Himmel für ein paar gestohlene Sekunden des Fluges, ehe der Absturz naht. „Ja.“

„Das bist du. Du glaubst, dass du alles im Griff hast, aber eigentlich hast du schon lange keine Chance mehr.“ Casper wirft mir einen kurzen, stirnrunzelnden Blick zu. „Bei Gott, kleine Diva, er hat dich gezeichnet. Er hat dir seinen Stempel aufgedrückt. Ich weiß ja nicht, wie du das siehst, aber eigentlich macht man das nur bei Sachen, die einem sicher gehören."

Ich schenke mir nach. „Ich bin mit Sicherheit niemand, der jemandem gehört.“

„Genauso wenig wie du für den Sieg instrumentalisiert wirst?“ Ich spüre Caspers stechenden Blick und weigere mich, ihn zu erwidern. „Chrona, es ist schwer für dich vorzustellen, aber es gibt Menschen, die sind klüger als du. Ray gehört genauso dazu wie der Graue Mann. Nur dass Ray dir helfen will, um, okay, zugegeben um sich selbst zu helfen.“

Ich nippe an dem zweiten Glas Champagner weitaus gesitteter als an dem ersten. „Dann sehe ich den Unterschied zwischen den beiden nicht. Warum soll ich zwischen zwei Teufeln wählen? Ich bin eine eigenständige, überaus intelligente junge Frau, die keinerlei Gewissensbisse verspürt, mit ihrem Ruhm und ihrer Macht zu spielen.“ Casper verzieht abfällig das Gesicht. Irgendwo hinter uns piept die Meise. Ich erschrecke mich, um zusammenzuzucken fehlt mir die Kraft. Ohne Casper aus den Augen zu lassen, fahre ich den Rand des Champagnerglases mit dem Zeigefinger nach. Sanft drückt sich die kühle Kante gegen meine Haut.

„Seit wann machen Körbchengröße D und ein hübsches Gesicht Ruhm und Macht aus?“, spottet er mit nach oben gezogenen Augenbrauen. Das ist keine Antwort wert. „Du verstehst einfach nicht, was du hier anrichtest“, schimpft Casper, als ich schweige. „Du siehst nicht, was für Auswirkungen das haben wird. Wenn du zustimmst, Ray zu helfen, dann wird er alles dafür tun, um den Grauen Mann zu stoppen.“

„Bezüglich was?“ Erwartungsvoll sehe ich Casper in die unnatürlich blauen Augen. „Entschuldige bitte diese naive Frage, aber zwischen all dem Blut in diesen Erinnerungen habe ich nicht verstanden, was der Graue Mann Gefährliches plant.“

Ruckartig lässt Casper das Gesicht in die Hände sinken. „Mal überlegen.“ Er hat die Zähne fest aufeinandergebissen. Das erste Mal wirkt er nicht wie jemand, der sein Leben mit ständigem Lachen verschwendet. „Er sammelt die Menschen, die ihm geeignet erscheinen, ein. Schon einmal etwas von Gladiatorenkämpfen gehört? Genau die lässt er steigen. In seiner eigenen Arena und allein er entscheidet, wer überlebt.“ Unwahrscheinlich, dass Echnaton Ralowskowitsch dazu die Gelegenheit erhält. Ein Spektakel dieser Art würde seinem Ruf schaden. Ebenso die Tatsache, dass man ihm eine Kugel durch die Stirn jagen kann, ohne dass er stirbt.

„Wenn er letzten Endes über Leben und Tod entscheidet, warum sollte ich seine Wut auf mich ziehen?“, frage ich gedehnt. „Wäre es nicht vielmehr geschickter, mit ihm in einem regen Dialog zu verweilen?“

„Wäre es, wenn er ein fairer Verhandlungspartner wäre.“

Ich zucke die Schultern. „Dann ist doch alles geklärt. Er könnte mich dabei unterstützen, meine Ziele zu erreichen, und ich versichere ihm das Gleiche.“

Abwartend sehe ich Casper an. Er rührt sich nicht. Starr blickt er aus dem Fenster, hinaus in den tobenden Sturm. Bilde ich es mir ein oder wird das Pfeifen noch stärker, noch fesselnder, noch vernichtender?

„Du bist mit Abstand das krankeste Wesen, das mir je über den Weg gelaufen ist. Nicht einmal Ray hat so sehr unter Hybris gelitten wie du“, bringt Casper zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

„Es ist keine Hybris, seine Verhandlungspartner richtig einzuschätzen.“

Casper schüttelt nur den Kopf und stützt sich vom Fensterbrett ab. „Ich hole deine Zimmermädchen, damit sie deine Sachen packen. Beeil dich mit den Anklagen. Ich habe keine Lust auf die Semesterarbeit nächsten Freitag. Da verbringe ich meine Zeit lieber hinter Gittern.“

Ich übergehe seine bissigen Worte. „Tu das. Und ruf einen Chauffeur. Ich erwarte den Wagen in vier Stunden.“

Casper verzieht abfällig den Mund, bevor er sich vor mir verneigt. Spöttisch wie ein Narr. „Zu Befehl, Miss Clark. Auf ein langes, erfülltes Leben. Wir sehen uns in der Hölle.“

Ich lache leise. „Das ist so wahrscheinlich, wie dass du ein Engel bist und der Rektor ein Dämon.“

Casper, schon beinahe an der Tür, bleibt wie vom Blitz getroffen stehen, ehe er sich zu mir umdreht wie eine angetrunkene Lady. „Bis gerade hast du noch fest daran geglaubt.“

Ich schwenke den Champagner im Glas herum. „Inzwischen ziehe ich Drogen in Betracht. Körperverletzung wird hart bestraft, Casper. Hat dir das noch niemand gesagt? Vor allem, wenn sie mir gegenüber ausgeübt wurde.“

Sein bitteres Lächeln jagt mir eine Gänsehaut über die Schultern. „In deiner verlogenen Welt würde ich nicht einmal mit deinem Tagesverdienst leben wollen. Dass du dir noch ins Gesicht sehen kannst, das spricht wahrscheinlich schon Bände.“ Der Wind kreischt durch die schmalen Ritze neben dem Fenster und lässt die Scheibe im Rahmen besorgniserregend klirren. „Und Chrona, nur fürs Protokoll, damit du nachher nicht zu schockiert bist. Nichts und niemand kann einen Dämon oder einen Engel festhalten. Am wenigsten die menschliche Polizei.“

„Man sollte dich in eine geschlossene Klinik einweisen, bis du wieder bei Sinnen bist“, höhne ich.

Wieder dieses leise, freudlose Lachen. „Dann erwarte ich dich dort. Weil, weißt du, Chrona, Zeitreisen gibt es eigentlich gar nicht.“

Weder Mutter noch Vater empfangen mich, als ich spät in der Nacht den Clark-Tower betrete. Ein Page ereifert sich, nach meinem Gepäck zu greifen und es mir hinterherzutragen. Vier weitere tun es ihm gleich.

„Wünscht Ihr einen Tee, Miss?“, fragt eines meiner Zimmermädchen, kaum dass ich meine alten Räumlichkeiten betreten habe. Ich lasse den Blick über die hochwertigen Stoffe und Tapeten schweifen, über meine soliden Möbelstücke, hin zu dem gigantischen Fenster, das auf die Stadt unter mir deutet. Bunte Lichter huschen über die Wände, finden sich in einem gurgelnden, chaotischen Meer Meter unter meinen Füßen wieder. Der Duft von Minze liegt in der Luft, gemeinsam mit einem Hauch des bekannten Putzmittels. Verschwommen lassen sich die röhrenden Motoren und das Gewusel auf der Straße erahnen.

Daheim. Am liebsten würde ich in Tränen ausbrechen. Wie sehr man etwas vermisst hat, wird einem erst bewusst, wenn man es zurück hat.

„Ja, ein Tee wäre gut“, antworte ich und lasse mich auf meinem Sofa nieder. Die Polster geben unter mir nach und nehmen mich in ihre tröstenden Arme. Zurück daheim. Allein, ohne psychotische Mitbewohnerinnen, blauhaarige Freunde der Mitbewohnerinnen oder unheimliche Rektoren. „Welchen darf ich Euch bringen?“

„Überraschen Sie mich.“ Ich lasse den Blick aus dem Fenster schweifen, beobachte die Farbtupfen über den Straßen. Regenschirme, die gegen das Unwetter ankämpfen. Hier oben ist das Toben des Windes kaum zu erahnen.

„Wie Ihr wünscht.“

„Wäre es Euch angenehm, wenn ich Euch eine Decke bringe?“, erkundigt sich ein anderes Mädchen. Ich nicke nur. Bilde ich es mir ein oder riecht das Sofa nach Achim? Mein Herz zieht sich zusammen. Jetzt, da ich zurück bin, werde ich mich mit den Hochzeitsvorbereitungen befassen, die Mutter nicht für mich übernehmen kann. Mit dem Kleid, dem Brautschmuck, dem Strauß.

Ich muss Achim erneut darum bitten, den Ehevertrag zu überarbeiten. Meine Eltern müssen dieses Pamphlet nicht noch einmal zu Gesicht bekommen. Ich will nur nicht – ich könnte es nicht ertragen, fernab von Achim leben zu müssen. Diese Fessel würde mich um den Verstand bringen. Behutsam wird die weiche Decke aus Lammfell über mir ausgebreitet. Ich ziehe die Füße unter den Po und schmiege mich in die warme Wolle.

„Kümmern Sie sich bitte um den Kamin“, weise ich niemand bestimmtes an. Kurz darauf höre ich das vertraute Knacken von Holz. Sie wuseln um mich herum wie Bienen um ihre Königin, bringen mir Tee, räumen meine Habseligkeiten ein, platzieren die wichtigen Ordner so, dass es ein Leichtes ist, sie zu finden. Es vergeht kaum eine Stunde, dann sehen meine Räumlichkeiten aus, als hätte ich sie nie verlassen und ich beginne mir einzureden, dass die letzten Tage lediglich ein böser Traum waren.

„Miss, darf ich Euch die Post bereits überreichen oder erst am morgigen Tag?“

„Was gibt es denn?“

Das Zimmermädchen tritt neben mich, ein silbernes Tablett auf den Händen. Darauf türmen sich die Schreiben unterschiedlichster Art. Agenturen, die mich als Model anfragen, hohe Politiker, Bankiers und Aktionäre, die um ein Gespräch bitten. Dankschreiben für mein Erscheinen auf diversen Festivals, obwohl ich keines von ihnen tatsächlich besucht habe. Darunter finden sich die Couverts, vor denen ich mich gefürchtet habe. Nur diese nehme ich an mich, drei an der Zahl, und schenke der jungen Frau ein unverbindliches Lächeln.

„Mit dem Rest setze ich mich am morgigen Tag auseinander. Es wäre angenehm, wenn Sie nun alle meine Gemächer verlassen könnten. Ich rufe Sie, sobald ich Ihre Hilfe benötige.“ Das Zimmermädchen knickst. Binnen von Sekunden sind sie aus dem Zimmer. Die Stehlampe neben mir wirft ein blasses Licht auf die Briefe. Meine Finger beben, als ich den ersten öffne. Keine Texte von Anton, rufe ich mir in Erinnerung. Er behauptet das Schreiben nie gelernt zu haben und, zugegeben, ich traue ihm keine elegante und perfekt sitzende Handschrift zu.

Alle drei überfliege ich. Sie sprechen von Liebe und Selbstaufgabe, die törichter nicht sein könnten. Wie jedes Mal wurde das geschwungene A darunter gesetzt. Es ist lachhaft, aber ich wünschte, Anton hätte jede dieser Zeilen verfasst. Noch immer die Briefe in der Hand, schweift mein Blick zur Uhr. Eine Minute vor Mitternacht. Der Zeiger rückt unaufhörlich vorwärts. Innerlich wappne ich mich für das, was gleich kommen wird. Caspers höhnische Stimme hallt in meinem Kopf nach. „Weißt du, Chrona, Zeitreisen gibt es eigentlich gar nicht.“

Und wie es sie gibt. Ich schließe die Augen und atme tief durch.

Im nächsten Moment sitze ich auf dem nackten Boden und beeile mich, die Briefe in meiner leichten Reisejacke zu verstauen.

Neben mir kreischt eine Frau auf. Gemessen drehe ich mich zu ihr um. Das vermutlich braune Haar, in dieser Zeit bei all dem Schmutz ist es schwer eine genaue Haarfarbe auszumachen, ist noch zerzauster, als es für diese Zeit üblich ist. Die Augen sind zu klein für ihr rundes Gesicht und der Mund so breit, dass man sie mit Leichtigkeit für einen menschlichen Frosch halten könnte.

Pikiert erhebe ich mich und klopfe den Staub von meiner Hose. Ich hätte mich umziehen sollen. Dieses französische Meisterwerk ist zu kostbar, als dass ich es mit dem Dreck des Mittelalters beflecken sollte. Die Frau schreit noch einmal auf, vermutlich weil sie nie zuvor schöne Schuhe gesehen hat, ehe sie aufspringt und zu keifen beginnt. Zweifelsohne beleidigt sie mich aufs Übelste, allerdings verstehe ich kein Wort. Ihr Glück.

Ich streiche mir eine entflohene Strähne hinter das Ohr und sehe mich in dem winzigen Haus um. Es ist Antons, zweifelsohne. Leider ohne den Hausbesitzer, stattdessen mit dieser plumpen Persönlichkeit. Ich hoffe sehr, dass sie keine seiner Liebschaften ist.

Andererseits hat mich nicht schon vor geraumer Zeit eine Dame im gleichen Tonfall angekeift? Nur war es damals finsterste Nacht und Anton der Anton, den ich kannte. Brigitte hatte er die Gestalt genannt, wenn ich mich recht entsinne. Ein ansatzweise passender Name für ein derart heruntergekommenes Weib.

Mit vor der Brust verschränkten Armen warte ich, bis sie sich beruhigt. Die Frau tobt weiter. Und tobt und tobt und tobt. Seufzend sehe ich an die Decke. Sie hängt leicht durch. Es muss eine ganze Zeit vergangen sein, seitdem ich das letzte Mal hier war. Damals schien diese Unterkunft noch äußerst intakt zu sein. Vielleicht beherrscht Anton inzwischen meine Sprache? Eine winzige Hoffnung blüht in meinem Herzen auf, die ich krampfhaft versuche, im Keim zu ersticken.

Die Frau macht einen Schritt auf mich zu und Anstalten, mich mit den dreckigen Fingern zu berühren. Angewidert trete ich zur Seite. Wenn Anton hier nicht ist, kann ich verschwinden. Der Klostergarten wäre eine angenehme Abwechslung zu diesem stickigen Raum mit dem keifenden Weib.

Sie hebt die Hände in die Höhe, als würde sie für eine hübschere Visage beten, ehe sie erneut versucht meine Jacke mit den dreckverkrusteten Fingern anzufassen.

Das genügt. Entschlossen drehe ich ihr den Rücken zu und verlasse das Haus. Soll sie allein weitertoben. Die Dame ist nicht meiner Meinung. Sie folgt mir, keifend, fluchend, spuckend. Jeder einzelne Passant dreht sich zu uns um.

Desinteressierte Blicke streifen sie und bleiben an mir hängen. Die alte Gier blitzt in den Augen der Männer und Frauen auf, ohne jeden Respekt.

Ich will mein Vorhaben, allein zum Klostergarten zu gehen, soeben überdenken, als sich eine vertraute Gestalt aus der Menge löst.

Anton. Seine Wangen sind stark gerötet und er lacht über irgendetwas, das ein älterer Herr neben ihm gesagt hat, dann fällt sein Blick zuerst auf die kreischende Frau hinter mir, dann auf mich. Er sagt einige Worte zu dem Mann neben sich, gibt ihm die Hand, auf was auch immer, bevor er auf mich zueilt.

„Chrona, hallo.“ Ich mache den verheerenden Fehler, stehenzubleiben. Die Furie tritt neben mich und versucht, nach meinem Arm zu greifen. Nicht mit diesen Fingern an diese Jacke!

Anton sagt irgendetwas zu ihr, was die Frau nicht im Mindesten besänftigt. Stattdessen wird sie lauter. Einige Passanten bleiben stehen, um dem Spektakel zu lauschen und die beiden ganz genau zu beobachten. Während die Frau schreit, als ginge es um ihr Leben, bleibt Anton ruhig. Er erhebt nicht die Stimme, gestikuliert beherrscht und, soweit ich es erkennen kann, fast schon freundlich.

Die Furie will sich nicht besänftigen lassen, stattdessen schlägt sie ihm mit der flachen Hand ins Gesicht – die Menge quittiert das mit einem fassungslosen Luftschnappen – und spuckt mir vor die Füße. Sicherheitshalber gehe ich einen Schritt zurück. Wer weiß, was im Speichel dieser Zeit lauert. Sie stößt noch einen letzten, soweit ich es einordnen kann, erbosten Schrei aus, dann verschwindet sie endlich und verschont meine Ohren mit weiterem Gekreische.

„Eine charmante Fiancé hast du“, sage ich ruhig. „Selten erlebte ich Männer, die ähnlich laut schreien konnten wie sie.“

Anton verzieht das Gesicht. „Sie ist nicht meine Verlobte. Und auch sonst nichts.“ Vor Erleichterung wären mir beinahe die Beine weggeknickt. Er spricht. Er spricht richtig. Er spricht meine Sprache und es scheint, als wäre Anton dazu in der Lage, mich zu verstehen! Ich kämpfe gegen den Impuls an, ihm schluchzend um den Hals zu fallen. Verkrampft bleibe ich stehen. Anton sollte mich an sich ziehen. Er tut es nicht.

„Weshalb hat sie dann in deinem Haus geschlafen?“, frage ich, anstatt näher auf ihn zuzugehen.

Antons Antwort ist ein Schulterzucken. „Das ist kompliziert.“ Ob Achim das gleiche sagen würde, sollte ich darauf beharren, dass er zu seinen Liebeleien Farbe bekennt? „Selbstverständlich.“

Anton verzieht den Mund und bietet mir den Arm an. Er muss einen Blick in das Buch über die Etikette geworfen haben. Ich hake mich bei ihm unter. Er quittiert das mit einem weiteren Lächeln. „Ich hoffe, du verübelst es mir nicht, wenn ich dich von hier fortbringe. Brigitte hat einen ziemlichen Aufstand geprobt.“ Noch ein verschmitztes Grinsen. „Du kannst dich glücklich schätzen, dass du sie nicht verstanden hast.“ Dieses Hindernis kennen die Umstehenden nicht. Sie sehen mich mit offenem Mund an. Allein aus Trotz hebe ich den Kopf noch höher. Ich habe nichts Falsches getan.

„Vermutlich wäre es am besten, wenn wir woanders hingingen“, räume ich ein. „Ich habe soeben den Weg zum Klostergarten gesucht.“

Anton lächelt mich an. Das Lächeln, das er mir viel zu selten schenken konnte. Seine braunen Augen funkeln warm und mein Herz bebt. Ich atme tief ein. Die Luft schmeckt nach Dreck. „Dann bist du zielsicher in die falsche Richtung gelaufen.“ Gut gelaunt dreht Anton mich in die andere Richtung und führt mich vorbei an der gaffenden Meute. „Du warst lange nicht mehr hier“, sagt er schließlich. Ich versuche den Tonfall auszumachen, den er verwendet. Vorwurfsvoll? Erleichtert? Nichts von beiden?

„Wie lange genau?“ Neugierig sehe ich zu ihm auf. Es muss eine ganze Weile gewesen sein. Diese schreckliche Naivität ist aus Antons Augen verschwunden, die Gesichtszüge sind markanter geworden, seine Bewegungen selbstsicherer. Casper hatte Unrecht. Sollte der Graue Mann meine Zeitreisen tatsächlich auf irgendeine Art kontrollieren, dann tut er mir einen unermesslichen Gefallen damit. Er bringt mich immer wieder zurück zu Anton und dieser Anton wird immer mehr zu dem Anton, der mir wichtig ist. War. Unmöglich, dass Echnaton Ralowskowitsch der Böse in der Gleichung ist. Er hat für mich bereits viel getan. Im Gegensatz zu dem Rektor.

„Zwei Jahre? Drei? Ich war mir sicher, du würdest nicht wiederkommen.“ Das ist lang.

Entschuldigend lächle ich Anton an. „Das wusste ich nicht. Für mich war es gestern.“

Er lacht leise. „Schon seltsam. Ich mag mir nicht das vorstellen können.“

„Ich kann mir das nicht vorstellen“, verbessere ich ihn leise. Noch ein strahlendes Lächeln. Es wärmt mein Herz und plötzlich ist jede Sorge, jede Angst verschwunden. Die Sorge, dass der Rektor mich hier aufsuchen und töten könnte, versteckt hinter einer schwarzen Kapuze. Die Angst, dass ich Anton niemals zurückhaben könnte.

„Es ist wirklich schön, dich zu sehen“, seufzt er leise. „Jetzt weiß ich zumindest, wofür ich meine Zeit vor den Wörterbüchern und den Chemikalien verbracht habe. Oder mein Vaterland betrogen und mich wieder hinter die Mauer gestohlen habe.“ Sein Lächeln verrutscht leicht.

„Inzwischen warst du im Krieg?“

Anton zuckt die Schultern. „Wenn man kämpft, kann man keinen alten Freunden helfen.“ Seine Worte lassen meine Mundwinkel zucken, trotz des Gestanks und der schwülen Temperaturen.

„Dann bleibt mir wohl nur, Danke zu sagen.“

Sein schiefer Blick wirkt beinahe schüchtern. Die Turmuhr wird vor uns größer. Noch immer mit der Sonne um die Wette strahlend, öffnet Anton das kleine Tor und geleitet mich hindurch. Die Absätze meiner Schuhe bleiben in der lockeren Erde stecken.

Lachend schiebt er mich vor sich. „Geh auf dem Gras. Das ist etwas fester.“ Ja. Es hält den Absatz noch besser fest. Während ich mich darum bemühe, in meinen High-Heels durch den Garten zu staksen, kichert Anton hinter mir unaufhörlich. Seine gute Laune ist ansteckend. Ich kann ihm nicht böse sein, obwohl ganz offensichtlich ich der Grund seines Amüsements bin.

„Zieh die Schuhe einfach aus“, schnaubt er schließlich. Erschrocken sehe ich ihn an. „Pardon?“

Antons Lächeln wird breiter. „Zieh die Schuhe aus. Das wird dich schon nicht umbringen.“ Mich nicht, aber meine Füße. Ich kann mir nicht ausmalen, wie viele Stunden es dauern wird, sie angemessen zu säubern. Als ich Anton in die Augen sehe, will ich ihm genau das erklären. Mädchen wie ich gehen nicht barfuß durch einen mittelalterlichen Garten. Der Schalk blitzt in seinem Grinsen, die Hand hat er fordernd ausgestreckt. Der Teufel muss in mich gefahren sein. Es ist fast, als könnte Anton mir mit einem einfachen, herzlichen Lächeln seinen Willen aufzwingen. Ich ziehe die Schuhe aus und stehe mit bloßen Füßen auf der Wiese. Mitten in einem Klostergarten des Mittelalters.

Zehn Sekunden vor Mitternacht

Подняться наверх