Читать книгу Zehn Sekunden vor Mitternacht - Celina Weithaas - Страница 8
Оглавление3
Zittrig schnappe ich nach Luft. Langsam schaltet der Verstand sich ein.
Der Mann vor mir hat meinen Unterarm aufgeschnitten. Aus welcher Zeit er kommt, ist irrelevant. Er vergießt mein Blut und niemand ist hier, der mich vor ihm beschützen könnte. Unwillkürlich weiche ich zurück. Das sich langsam mit Blut vollsaugende Taschentuch baumelt wie die weiße Flagge von meinem Handgelenk. Die Klinge des Taschenmessers schimmert rötlich in der Sonne. Rötlich von meinem Blut. „Sind Sie wahnsinnig?“, zische ich, wohlwissend, dass er kein Wort versteht. Mit einem scharfen Knacken klappt er die Klinge ein und verstaut das Messer in der Manteltasche.
„Gut möglich.“
Meine Rückenmuskulatur verkrampft sich. Die Antwort wird mir nicht von dem Mann vor mir gegeben. Hinter ihm ist eine zweite Gestalt aufgetaucht, in sich zusammengesunken und das Haupt doch stolz gehoben. Die Zeit hat ihm die Haare vom Kopf gefressen und tiefe Falten in seine gebräunte Haut gegraben. Sie erinnert an gegerbtes Leder. Der Mann ist der Schatten eines schemenhaften Originals, der düster die Gasse hinter sich füllt. Seine bloße Gegenwart jagt mir Schauer über den Rücken, während ich versuche, die Gesichtszüge unter der dunklen Kapuze auszumachen. Ein junger Mann und ein alter. Beide stehen vor mir. Beide gehören nicht in diese Zeit. Meine Sinne drehen sich.
In einer Bewegung, die keinen Widerspruch duldet, streckt er den Arm nach dem Schwarzen Mann vor mir aus und ergreift seine behandschuhte Hand. „Entschuldigen Sie diese Umstände, Miss. Er hat mehr zu lernen, als uns allen lieb ist.“ Seine Stimme erinnert mich an das Krächzen von Krähen
Dass meine Füße mich immer weiter von den beiden Männern fortgetragen haben, bemerke ich erst, als mein Rücken gegen die gegenüberliegende Fassade eines Hauses stößt. Hinter mir, im Inneren des Gebäudes, murmeln Stimmen in der Sprache, die ich kaum verstehe.
Ich sollte sprechen. Das wäre der beste Moment, um diese Situation zu erkunden oder zu entschärfen. Es ist, als hätte mir der Schwarze Mann mit dem Schnitt nicht nur Tropfen von meinem Blut abgezapft, sondern mir gleichzeitig die Stimme gestohlen. Hilfesuchend sehe ich die Straße auf und ab. Mit mäßigem Interesse beobachten die Passanten uns, einige scheinen mich nicht einmal zu bemerken.
Der zweite Mann kommt näher. Hektisch greife ich nach der kleinen Phiole und halte mich daran fest. Ich will zurück in mein Bett. Der Ausflug dauert schon viel zu lange an. Es ist Zeit, zu verschwinden. Aber weder der Geruch des Zimmers noch die gröbsten Details wollen mir einfallen. Mein Kopf ist wie leergefegt. Die Stimmbänder in Stahl gegossen.
Der Mann in dem langen, schwarzen Mantel folgt dem Alten ohne zu zögern. Ich spüre seine Blicke. Sie fühlen sich nicht unanständig an, nicht gierig. Viel mehr interessiert, ein wenig nachdenklich vielleicht. Zögerlich und warnend. Als er die Hand ausstreckt, wird sie von dem Alten beiseite geschlagen. „Eine hübsche Kette“, stellt er fest. Seine Stimme ist rau. Glas kratzt über Stein. Meine Knöchel werden weiß. Die Haut beginnt zu brennen. „Ein Geschenk der verschiedenen Mutter?“
Das Herz schlägt mir bis zur Kehle. Ich fühle mich hilflos wie bei meinem ersten Sprung. Die Knie zittern wie Espenlaub, als ich seitwärts gehe, nur weg von ihm. Ich versuche mir einzureden, dass jeder Schritt einen Meter mehr in meine Zeit bedeutet. Lächerlich. Niemand ist in der Lage, mehrere
Jahrhunderte zu durchwandern. Ich müsste gehen, bis mir die Füße bluten, und noch viel weiter.
„Nein.“ Ein einziges Wort hat meine Lippen verlassen und es klingt standhaft wie der sich des Deals sicheren Aktionärs. Langsam lasse ich die Finger von dem zarten Glas gleiten und verschränke sie ineinander. „Es wäre mir eine Freude, wenn Sie mich passieren lassen würden.“
Der Alte verzieht den lederartigen Mund. Haut blättert von seinen Lippen ab.
„Eine selbstbewusste, junge Lady“, krächzt er. „Du hast hier nichts verloren. Um diese Zeit sollten Mädchen wie du in ihrem Bett liegen.“ Es ist nicht einmal drei Uhr nachmittags. „Herren wie Sie sollten sich von Damen wie mir fernhalten, wenn Ihnen Ihr Kopf lieb ist.“ Langsam strömt das Blut zurück in meine Glieder. Das Stimmengewirr hinter mir hebt an, als würde in dieser Sekunde auf der anderen Seite der Mauer ein heftiger Streit entbrennen.
Der Schwarze Mann lacht leise. Ich beginne zu zittern. Das Geräusch ist mir vertraut. Aber woher? Woher nur. Ich kann es nicht greifen.
„Deine Zunge ist spitz genug, ich kenne Fürsten, die würden sie abschlagen und den Hunden zum Fraß vorwerfen.“ Der Alte spricht die Worte nicht wie eine Drohung aus. Er schildert seine Tatsachen. Die Situation wird unerträglicher als ohnehin schon. Noch ein Schritt. Mit jedem Meter komme ich meinem Bett näher, Adrianas kleinem Nachtlicht, den kalten Fliesen, der frischen, kühlen Bergluft. Dann durchwandere ich die Jahrhunderte, bis mir die Füße bluten und noch viel weiter. Solange ich nur von hier verschwinden darf.
„Mir kommen zehn Anwälte auf einmal in den Sinn, die mich verteidigen würden und Sie wegsperren, bis nichts mehr von Ihnen übrig ist.“ Meine Finger zittern nicht, als ich mir die Haare aus dem Gesicht streiche und das kühle, professionelle Lächeln aufsetze. Der Schnitt brennt wie die Hölle. Ich werde mir einige Tropfen von dem Minzöl auf die Wunde träufeln, das Anton mir gegeben haben wird, sobald ich zurück bin. Was hier auf mittelalterlicher Straße geschieht, ist auch nichts anderes als ein kühler Dialog am abendlichen Kongresstisch. „Drohungen sollte man nur aussprechen, wenn man sie halten kann“, murmelt der Alte. Erneut hebe ich den Arm. Das blutbefleckte, weiße Taschentuch weht in der leisen Brise.
„Das sagen Sie jemandem, der die weiße Flagge hisst?“ Noch ein Schritt, noch einen Meter. Mit meiner Überraschung über diese Situation schwindet die allesvernichtende Panik. Langsam nimmt das Zimmer Gestalt an. Ich höre die Vorhänge fast flattern, während sie schwer über den glatten Marmorboden schleifen. Es ist, als würde man sich hinter mir nicht länger streiten. Adriana seufzt leise im Schlaf und wälzt sich auf die andere Seite, das engelsblonde Haar zu einem Heiligenschein ausgebreitet, während sie unbewusst nach Casper tastet. Der leise Duft von Pfefferminze liegt in der Luft, der erste Vogel singt sein Lied.
„Gib mir die Kette, damit ich dich laufen lasse.“ Ich höre die Forderung des Alten kaum. Ich liege unter der schweren Decke, die die Kälte der Nacht aussperrt. Unter mir knarzt leise das Bettgestell, mattgelbe Lichtreflektionen huschen über die Tapete.
Meine Schultern berühren nicht länger den rauen Stein der Hauswand. Ich atme nicht mehr den Gestank von Fäulnis und Fäkalien ein, die raue Stimme weicht Adrianas herzhaftem Gähnen.
Zurück in meinem Jahrhundert. Meine Mitbewohnerin sitzt halb in ihrem Bett, die blonden Haare fließen ihr in widerwärtig perfekten Locken über die Schultern bis hinab auf die Matratze. Als sie mich sieht, seufzt sie leise.
„Es wird immer länger. Ich dachte schon, du kommst gar nicht mehr zurück.“ Sie räkelt sich wie eine Katze, ehe sie sich schwungvoll aus dem Bett schwingt. Langsam beginnt das Blut sich in meiner Handfläche zu sammeln. Das weiße Stofftaschentuch ist vollgesogen. Als ihr Blick über meinen Unterarm schweift, habe ich Entsetzen erwartet, stattdessen zieht sie nur eine Augenbraue nach oben.
„Sieht nicht schön aus“, stellt Adriana nüchtern fest.
„Ein Fremder hat mir ein Taschenmesser über den Unterarm gezogen.“
„Sowas gab es damals schon?“ Adriana klingt restlos desinteressiert, während sie nach meiner Hand greift und mich ins Bad führt. Ich lasse es zu. „Heilen deine Wunden eigentlich, sobald du wieder hier bist?“
Resigniert presse ich die Lippen aufeinander. „Du tust, als würde ich es zulassen, dass man mich des Öfteren verletzt.“ „Also hast du keine Ahnung?“ Ein betäubendes Kribbeln geht durch meine Venen. Erschrocken entziehe ich ihr meine Hand. Adriana rollt die Augen.
„Nimm es mir nicht übel, aber ich glaube nicht, dass Verletzungen die Jahrhunderte überdauern. Du hast also keine Entschuldigung für heute.“
Selbstverständlich. „Zum einen suche ich keine Entschuldigung für die Vorlesungen und zum anderen ist dieser Schnitt derartig tief, dass ich von Glück sprechen kann, wenn er nicht genäht werden muss.“
Adriana lacht leise auf und zieht das Stofftaschentuch ab. „Ja, genau. Verdammt tief. Was wird es denn dann, wenn eine Katze dich kratzt? Ein Attentat?“
„Nein, das wäre ein oberflächliches…“ Ich stocke. Unter dem Tuch ist die Haut zwar blutig, aber unversehrt. Als hätte ich mir die Verletzung nur eingebildet. Den Schmerz, dieses brennende Ziehen. Meine Handfläche ist blutig.
„Ein oberflächliches Attentat?“, murmelt Adriana und wäscht sich die Hände. Das Taschentuch lässt sie achtlos in den Mülleimer fallen. „Chrona, du bist die Dramaqueen überhaupt. Schraub das Dramaniveau mal ein bisschen runter und schlaf noch ein paar Stunden.“ Adriana streicht sich eine blonde Strähne aus dem engelshaften Gesicht. „Jemand hat dich in der Vergangenheit angerempelt. Du wirst es überleben.“
Ich lache trocken auf. „Ein Mann im Mittelalter hat mir mit einem Schweizer Taschenmesser den Unterarm aufgeschlitzt!“
„Weil du einen auf Miss Unantastbar gemacht hast?“ Konzentriert betrachtet Adriana sich im Spiegel.
„Nein“, erwidere ich eisig. „Weil ich um eine Ecke gebogen bin.“
„Vielleicht war es ein Privatgrundstück.“
„Es war eine offene Straße.“ Wenn man es denn so nennen will.
Adriana schnalzt mit der Zunge und sieht mich durch den Spiegel an. „Schon einmal etwas von Zöllen gehört? Damals gab es die hinter jedem größeren Haus. Das nächste Mal solltest du einfach auf Markierungen auf der Straße achten oder gleich Geld rausrücken, wenn dich einer von denen anspricht.“
„Du vergisst mit wem du redest“, zische ich. Ob ich weiß, was Zölle sind? Himmel, wenn ich etwas erkenne, dann Zollgrenzen, egal in welchem Jahrhundert. Meine Mutter und ich haben Stunden damit verbracht die historische Bedeutung des Zolls zu studieren, um mir ein besseres Gespür für die heutigen Handelsmuster und -wege zu vermitteln. Da war nichts. Und der Mann hat keinen Ton gesagt. Er ist mir mit dem Messer über den Arm gefahren, als wäre es das Natürlichste der Welt. Als verscheuchte er Fliegen. Als hätte er blind einen Befehl ausgeführt. Nichts in der heutigen Nacht ist geschehen, weil ich eine Grenze missachtet habe.
Adrianas Brauen schießen in die Höhe. „Tatsächlich? Und ich dachte schon, ich spreche mit meiner Mitbewohnerin, die ihren Luxusschuppen schmerzlich vermisst und wirklich ausgeschlafen sein sollte für die heutigen Vorlesungen. Und die folgende Sitzung bei ihren Psychologen, weil sie noch immer an ihrem Verstand zweifelt.“
Ungläubig lache ich auf. „Ich habe keinerlei Zweifel an meinem Verstand!“ Warum verschwende ich auch nur einen Atemzug an Adriana? Dieses Mädchen und ich könnten nicht weiter voneinander entfernt sein. Sie mag mir hinsichtlich der umwerfenden Schönheit das Wasser reichen können, aber in jedem weiteren Aspekt hinkt sie mir nach. Wer ist Adriana schon? Eine lausige Studentin, die ihre Freizeit mit einem blauhaarigen Debilen verbringt.
„Und dann rufst du den Psychodoc weswegen in unser Zimmer?“
„Zum Erörtern meiner momentanen Verfassung.“ Meine Augenringe sind eine Zumutung. Meine Zimmermädchen werden Wunder vollbringen müssen, um mich angemessen herzurichten. Ich sollte noch wenige Stunden Schlaf erhaschen. Und sei es nur, um dem Psychotherapeuten gegenüber nicht labil zu wirken.
„Ich kann dir sagen, wie es momentan um dich steht“, erdreistet sich Adriana. „Du bist todmüde, verwirrt und wünschst dir nichts mehr, als die Zeit mit deiner aufgetakelten Gesellschaft zu verbringen. Wie auch immer.“ Sie rollt die großen, himmelblauen Augen. „Halt dich einfach von den Menschen des Mittelalters fern. Vor allem von denen mit Schweizer Taschenmesser. Die halten die Dinger meistens nicht bereit, um dich damit zu kitzeln oder zu streicheln.“ Wenn ich gesehen hätte, dass er eines bei sich trägt, hätte ich einen großen Bogen um ihn gemacht. Aber er stand hinter einer Hausecke und verschmolz mit den Schatten. „Verschwinde einfach“, zische ich und flechte mir die Haare. Meine Zimmermädchen haben mir einen neuen Pyjama zurechtgelegt. Mit dem Rücken zu Adriana entkleide ich mich und ziehe das frische Nachtzeug an. Der sanfte Duft von Minze umfängt mich gemeinsam mit einem Hauch des bekannten Waschmittels.
„Oh, genau das hatte ich vor.“ Adriana stolziert in mein Blickfeld und hält mir eine Salbe unter die Nase. „Hier. Desinfizierend. Nicht, dass du dir mittelalterliche Bakterien einfängst und mich dafür verantwortlich machst.“ Sie schnalzt harsch mit der Zunge. „Solltest du mich suchen, ich bin bei Casper.“ Ich warte darauf, dass jemand die beiden gemeinsam erwischt und ihnen die Hölle heiß macht.
„Tu, was du nicht lassen kannst“, erwidere ich pikiert. „Sobald du bereit für deine Entschuldigung bist, findest du mich in meinem Bett.“
Adriana, schon halb aus dem Badezimmer, lacht ungläubig auf. „Was?“ Aus ihren großen, unnatürlich blauen Augen sieht sie mich an. „Wofür bitte? Dafür, dass ich dir geholfen habe?“
Ungläubig hebe ich die Salbe in die Höhe. „Das nennst du eine Hilfe? Ich weiß nicht einmal, wie viel ich davon verwenden muss.“
Sie rollt die Augen. „Chrona, du bist die erste Person, die ich treffe, die absolut überlebensunfähig ist. Es ist ein Wunder, dass man dir im Mittelalter nicht längst die Kehle durchgeschnitten hat!“ Sie spricht zu laut. Für diese Uhrzeit spricht sie viel zu laut. Sie weckt das ganze Stockwerk auf. „Du solltest dem armen Typen, dem du auf den Geist gehst, Dankespralinen mitbringen.“ Sie schlägt die Tür hinter sich zu. Der Knall hallt durch die schläfrigen Gänge, ohrenbetäubend laut. „Wenn du Glück hast, stirbt er auch nicht an irgendeiner vorzeitlichen Allergie“, glaube ich sie von draußen murmeln zu hören.
Einige zähe Sekunden vergehen. Ich warte darauf, dass man Adriana und mich zurechtweist. Ich warte darauf, dass irgendetwas geschieht. Die blutende Wunde an meinem Unterarm ist verschwunden. Blutstreifen kleben an meiner Handfläche.
Fluchend verlasse ich das Badezimmer. Ich schalte Adriana nervtötendes Schlaflicht aus und krabble allein ins Bett. Die Schatten der Nacht ziehen vor den Fenstern entlang. In der ersten Ahnung des kommenden Tages huschen die Schemen von Flügeln über den Himmel. Die Finsternis legt sich wie ein sanftes Tuch über mich und schenkt mir ein wenig Ruhe. Ein wenig einsame Ruhe inmitten geheuchelter Gelassenheit.
„Miss Chrona Elizabeth Josephine Hel Clark, es ist mir eine Freude, Sie kennenlernen zu dürfen.“ Die Psychotherapeutin bietet mir die Hand an, obwohl das meine Aufgabe gewesen wäre. Sie mag älter sein als ich, aber ich bin Chrona Elizabeth Josephine Hel Clark. Mein Vermögen übersteigt ihres um Längen.
Gelangweilt reiche ich der Dame mit dem ernsten Gesicht die Hand und biete ihr einen Sitzplatz an. Sie lässt sich auf den Stuhl sinken. Wenigstens in dieser Hinsicht kennt sie Manieren.
„Sie wissen, warum ich Sie hergebeten habe?“, frage ich.
Die Mundwinkel der jungen Frau zucken. Sie kann kaum fünf Jahre älter sein als ich. Die schwarzen Haare fallen ihr aus dem Pferdeschwanz in das gebräunte Gesicht, die vollen Lippen sind leicht rissig. Als wäre sie ein modisches Accessoire, hat sie sich die Brille in die Haare gesteckt.
In einer einzigen, fließenden Bewegung beugt sie sich nach vorn und stützt die Ellbogen auf den Oberschenkeln ab. „In erster Linie kenne ich die Pflicht der Verschwiegenheit. Sie müssen sich keinerlei Sorgen machen.“ Ihr Blick ist stechend. Sie scheint durch mich hindurch sehen zu können. Es erfordert durchaus Anstrengung, ihrer ungeteilten Aufmerksamkeit standzuhalten. Sie scheint mich still zu nur einem aufzufordern: Sieh weg. Ich weigere mich.
„Das sollten Sie. Ich kenne die besseren Anwälte“, sage ich glatt und lasse mich meinerseits auf einen der Stühle sinken. Meine Zimmermädchen haben uns Tee gebracht. Ich schenke zuerst ihr, dann mir eine Tasse ein. So wie es sich gehört.
„Damit habe ich ohnehin gerechnet.“ Jede Freude, mich zu sehen, ist von ihrem runden Gesicht verschwunden. Sie muss spanische Wurzeln haben. Ihre Nase ist deutlich zu breit im Verhältnis zu den kleinen Augen. Es erscheint mir sinnvoll, dass sie den Weg der Psychotherapeutin eingeschlagen hat. Als Model hätte diese Frau sich niemals durchsetzen können. Sie nimmt die angebotene Tasse entgegen und stellt sie neben sich auf dem Fensterbrett ab. Das scharfe Knacken der ausfahrenden Mine des Kugelschreibers hallt durch den Raum. „Worüber möchten Sie sprechen, Miss Clark?“ In diesem Moment über nichts. Ich könnte die Zeit mit leichter Konversation über Markenprodukte verstreichen lassen. Ihr Kleidungsstil ist gepflegt und ausgewählt. Die Therapeutin würde zweifelsohne auf diese Plänkeleien anspringen. Die Chaneltasche lehnt ihr zu Füßen.
Ich schlage die Beine übereinander und nehme einen kleinen Schluck von dem Tee. Langsam und angenehm warm rinnt er mir die Kehle hinab und bettet sich in meinem Bauch. „Über ein Thema, das Sie glauben lassen wird, ich hätte den Verstand verloren.“ Ich klemme die Zehen meines linken Fußes hinter die rechte Ferse. Meine Beine stehen perfekt, ich kann nicht vor Nervosität zittern. „Nur um eines klarzustellen, sollten Sie ein einziges Wort an die Öffentlichkeit dringen lassen, ich werde alles abstreiten. Diese Konversation hat nie stattgefunden, ich habe Sie nie engagiert und nie bezahlt. Ich hoffe, wir können dem gegenüber zu einer Einigung kommen.“
Die Psychotherapeutin schenkt mir ein kleines Lächeln. „Natürlich. Ich habe mit so etwas gerechnet.“
„Gut.“ Noch ein Schluck. Der bekannte Geschmack von Pfefferminze flutet meine Sinne. Betäubt den Verstand. „Ich reise in der Zeit.“
Die Therapeutin hat soeben die Tasse gehoben und lässt sie sofort wieder sinken. Eine seltsame Ernsthaftigkeit tritt in ihre Augen und sie lehnt sich zurück. Es klackt leise, als sie die Tasse auf das breite Fensterbrett zurückstellt. Draußen zwitschern die Vögel. Das einzige Geräusch, das ich höre. „Sie reisen in der Zeit?“, wiederholt die Psychotherapeutin. Es gelingt ihr, weder abfällig noch zu nüchtern zu klingen. Sie muss ausreichend Übung im Umgang mit absurden Aussagen haben.
Ich zucke die Schultern. „Jede Nacht, kurz vor Mitternacht, reise ich in die Zeit des dreißigjährigen Krieges nach Deutschland.“
Sie schlägt die Beine übereinander und notiert sich einige Worte. „Ist es möglich, dass sie einschlafen und davon träumen?“
„Wenn davon die Schmutzschlieren auf meiner Kleidung kommen“, spotte ich.
Sie nickt. „Schlafwandeln Sie?“
„Nein. Meine Mitbewohnerin kann das bezeugen.“
„Das heißt Sie sind körperlich anwesend, wenn Sie die Zeit in der Vergangenheit verbringen?“
„Nein. Das ist nicht der Fall.“ Adriana hatte die gleiche Theorie wie die Frau vor mir. Schlafwandeln. Sie sagte, sie und Casper hätten die gesamte Umgebung durchkämmt auf der Suche nach mir. Die darauffolgenden Nächte sind wir gemeinsam wach geblieben. Manchmal haben wir uns unterhalten, einmal Karten gespielt. Adriana sagt, wenn ich verschwinde, hört ihr Wecker für ein paar Sekunden auf zu ticken. Es geschieht nichts Spektakuläres. Kein Nebel zieht auf und verschluckt mich, kein schwarzes Loch. Mein Körper verschwindet, als wäre ich nie da gewesen.
„Also ist es doch möglich, dass Sie schlafwandeln“, sagt die Therapeutin ruhig.
„Nein“, beharre ich. „Meine Mitbewohnerin wird Ihnen bestätigen können, immer zur gleichen Zeit verschwinde ich aus meinem Bett. Auch von ihrem Bett oder dem Teppich. Bis vor wenigen Tagen geschah es, sobald die Uhr fünf Minuten vor Mitternacht schlug. Inzwischen“, seit Antons Tod, „hat es sich verschoben und ich verschwinde zehn Sekunden vor Mitternacht.“ Als hätte ich genug Angst vor der Geisterstunde, dass ich lieber in ein anderes Zeitalter reise, witzelte Adriana vorgestern. Einer der wohl schlechtesten Scherze, die ich je hören musste. Dabei war ich in meinem Leben zahlreich gezwungen, mit zwanghaft lockeren Männern am Konferenztisch zu verharren, die bemüht waren, die Stimmung aufzulockern.
„Sehen Sie vor Ihrem Verschwinden immer auf die Uhr?“ „Meine Mitbewohnerin tut es.“
Die Therapeutin macht sich Notizen, ehe sie einen Schluck aus der dampfenden Tasse nimmt. Das makellose schwarze Haar glänzt in der Sonne.
„Glauben Sie, dass ich mit ihr sprechen könnte?“
Ich hebe eine Braue. Adriana tut nur das, was sie für richtig erachtet. „Das werden Sie mit ihr direkt besprechen müssen.“
Die Psychotherapeutin nickt und schenkt mir ein kleines Lächeln. „Dann erzählen Sie mir von Ihrer Zeit im Mittelalter. Was hat Sie am meisten bewegt.“
Wer. Das wäre die bessere Frage gewesen. „Der Tod eines Bekannten.“ Als ich die wenigen Silben ausspreche, fühlt es sich seltsam irreal an. Ein Bekannter. Ist Anton das? Ein Bekannter? Jemand, dem ich flüchtig begegnet bin? Mein Verlobungsring brennt sich in meinen Finger.
„Wie ist er gestorben?“
„Ich weiß es nicht.“ Meine Stimme klingt seltsam rau. Ich räuspere mich, das blecherne Gefühl in der Kehle bleibt. „Ich bin verschwunden, kurz bevor sie ihn erreicht haben. Es ist möglich, dass er erstochen wurde. Oder enthauptet, erschlagen.“ Anton könnte von der Terrasse gesprungen sein, in das Blut seiner Stadt. Wenn er das getan hat, wird es ihm jeden einzelnen Knochen gebrochen haben. In seiner Verfassung wird es ein ähnlicher Todesstoß gewesen sein wie der Schwung eines Schwertes.
„Sie bedauern das?“
„Ich versuche die ganze Zeit über herauszufinden, ob es eine Möglichkeit gegeben hätte, ihm zu helfen.“ Anton beizustehen, ohne selbst zu sterben. Der Gestank des alten Blutes steigt mir in die Nase. Ein schaler Geschmack breitet sich in meinem Mund aus. Hastig nehme ich einen Schluck von meinem Tee. Anton hat kurz vor seinem Tod das Gleiche getan. Tee getrunken, gebrüht mit verseuchtem Wasser.
„Glauben Sie das denn? Dass Sie die Chance gehabt hätten, ihn zu retten?“ Gedankenverloren sehe ich aus dem Fenster. Heute weht ein eisiger Wind, den ganzen Tag über schon. In den wenigen Minuten, die ich auf dem Campus verbracht habe, wurde meine Frisur restlos ruiniert und mir war schrecklich kalt. Jetzt wiegen sich unter dem Druck knarzend die Bäume und lassen Nadeln regnen. Anton hat sich ebenfalls den äußeren Umständen gebeugt. Er ist nahezu verhungert in dem verzweifelten Versuch, nicht alles zu verraten, was er ist, nur um weiter zu leben. Er hat jedes Stück, jeden Teil seines Hauses gegeben, um sich seine Existenz zu sichern. Hätte ich eine Chance gehabt, ihn zu retten?
„Ja.“ Kühl sehe ich die Therapeutin an. Ihre dunkelbraunen Augen funkeln. „Ich glaube, dass es eine Möglichkeit gibt, ihn zu retten. Ich kenne sie nur noch nicht.“
„Sie glauben, dass Sie ihn noch immer retten können? Obwohl Sie ihn haben sterben sehen?“
Ich lecke mir über die Unterlippe. „Er lebt im siebzehnten Jahrhundert. Zum jetzigen Zeitpunkt ist er schon lange tot.“ Die Dame nickt und streicht sich die vielen entflohenen Strähnen hinter die Ohren. „Es klingt, als wäre es nicht nur eine oberflächliche Begegnung gewesen, die sie beide hatten.“
„Wir sind uns einige Male begegnet.“ Jede Nacht, die ich dorthin verschwunden bin. Unwillkürlich berühre ich die kleine, in Gold eingefasste Phiole um meinen Hals. Schon jetzt spreche ich über Anton, als wäre er verloren und tot. Dabei hat sich nichts verändert. Ich sehe ihn noch immer jede Nacht. Nur ist es nicht mehr, er ist nicht mehr Anton. Nicht mehr der Anton.
Sie nickt. „Wollen Sie mir sagen, was Sie in dieser Zeit getan haben?“
Ich nehme noch einen Schluck und beobachte den kleinen Vogel, der vom Wind hin und her gespielt wird. Sein bläuliches Gefieder bläht sich auf, die Flügel werden nach oben gerissen, obwohl er dagegen ankämpft und nur versucht, den nächsten rettenden Ast zu erreichen. Meine Finger zucken, als er gefährlich nah an das Fenster kommt. Ich sollte es öffnen. Ich stehe auf und greife nach dem Fensterknauf.
Wie einer plötzlichen Eingebung zu Folge legt sich der Wind. Von jetzt auf gleich, als hätte jemand ein Ventil zugedreht. Verzweifelt flattert das Tier mit den kleinen Flügeln, versucht Halt in der plötzlichen Ruhe zu finden. Er dümpelt hinab. Doch anstatt ungebremst zu fallen, verlangsamt sich sein Flug. Mit zusammengekniffenen Augen beuge ich mich ein Stück weiter vor. Dort unten, auf dem windgebürsteten Rasen, steht Casper, unverkennbar durch die blauen Haare, und bietet dem Vogel seine Hand an. Das Tier landet wankend, Casper schützt ihn mit den Fingern. Im nächsten Moment öffnet sich das Ventil. Pfeifend drückt der wütende Wind die Bäume gen Boden, lässt sie stöhnen und ächzen. Casper wird von ihm nicht berührt. Er redet leise auf den Vogel ein.
„Möchten Sie lieber auf ein anderes Thema zu sprechen kommen?“, fragt mich die Psychotherapeutin. Meine Hände zittern unkontrolliert, während ich Casper dabei beobachte, wie er verschwindet. Es sah aus als, unmöglich, aber … als hätte er dem Wind Einhalt geboten. Um einen Vogel zu retten.
„Miss Clark, geht es Ihnen gut?“ Die Dame gesellt sich zu mir und beugt sich kaum merklich in meine Richtung. Der unangenehme Geruch von altem Papier umgibt sie, eine Ahnung von Medikamenten.
„Selbstverständlich. Wir können gern fortfahren.“ Haben Sie gesehen, wie sich der Wind gelegt hat oder verliere ich den Verstand? „Die meiste Zeit haben wir damit verbracht, Dispute auszutragen“, sage ich und setze mich. Die Tasse umklammere ich wie einen jämmerlichen Anker. „Hin und wieder hat er mir hübsche Teile der Stadt gezeigt.“
„Haben Sie diese zuvor schon einmal gesehen? Womöglich in Geschichtsbüchern?“ Diesen blühenden Klostergarten?
Die steinerne, kletterpflanzenumrankte Terrasse? Das Meer von Heide?
„Nein. Es war mir gänzlich neu.“ Die Kirchturmuhr scheint in meinem Kopf zu schlagen. Der tiefe Klang legt sich für einen flüchtigen Moment über meine Sinne.
„Wann ist dieses Phänomen das erste Mal aufgetreten?“
„Zu meiner Geburtstagsfeier.“ Ich kann der Therapeutin nicht ansehen, ob diese Information sie überrascht. Sie hält das Gesicht völlig ruhig und ernsthaft. Mit kontrollierten Bewegungen führt sie den Stift.
„Standen Sie an diesem Abend unter ungewöhnlich großem Druck?“
„Nein.“ Ich lehne mich gegen die Stuhllehne und klemme die Zehen meines linken Fußes erneut hinter meine rechte Ferse. „Ganz im Gegenteil. Es war ein ausgenommen angenehmer und erfolgreicher Abend. Mein Verlobter hat mich mit seiner Anwesenheit überrascht, ich konnte einen neuen Geschäftspartner gewinnen. Es gäbe keinen Grund für einen ernsthaften Aussetzer.“
Wieder ein Nicken. Seufzend lehnt sie sich im Stuhl zurück und faltet die Hände. „Ich bin mir sicher, Sie haben mich aus einem ganz bestimmten Grund hergebeten, Miss Clark. Worüber möchten Sie reden?“
Ich nehme all meinen Mut zusammen. „Über Anton und meinen Ehevertrag.“
„Ihr Verlobter heißt meines Erachtens nach Achim“, wirft sie ein.
Ich nicke. „Es geht mir gerade jetzt nur in zweiter Linie um Achim und unseren Ehevertrag. Wenn wir dazu kommen, würde es mich freuen, aber ich muss über Anton sprechen.“
„Aus welchem Grund?“ Konzentriert sieht die Dame mich an. Wieder scheint sie jeden Gedanken lesen zu können. Ich erwidere den Blick starr.
„Ich befürchte, dass er meine Verlobung in Gefahr bringt.“ Abwartend sieht die Psychotherapeutin mich an, während ich Mut fasse. „Ich möchte, dass Sie mir dabei helfen, mich nicht in Anton zu verlieben.“ Obwohl es dafür längst zu spät sein könnte.
Das erste Mal scheine ich sie überrascht zu haben. Für einen flüchtigen Augenblick verrutscht ihre professionelle Maske. Ich kann die tausend Fragen erkennen, die sie bewegen. Ganz oben die, warum ich mich in einen anderen Mann verlieben sollte, wo ich doch so glücklich mit meinem Verlobten bin. Ist etwas an den Gerüchten dran und wenn ja was? Hat ihr Verlobter sie betrogen? Die junge Frau sitzt vor der Quelle all ihrer Antworten und beißt sich dennoch auf die Zunge. Im Stillen zolle ich ihr Respekt.
„Möchten Sie mir zuerst die Situation erklären?“
Ich stürze den letzten Rest Tee hinunter, als wäre es hochprozentiger Alkohol. „Ich erinnere Sie an diesem Punkt noch einmal an Ihre Pflicht zur Verschwiegenheit“, sage ich. Die Dame vor mir nickt. Bei dieser kleinen Bewegung huschen die schwarzen Strähnen zurück in ihr Gesicht.
„Kein Wort wird an die Öffentlichkeit dringen“, sagt sie, „und wenn doch, werden Sie jedes Detail medienwirksam abstreiten.“
„Das ist korrekt.“ Der Wind tobt noch immer. Von Casper ist weit und breit keine Spur zu sehen. Spielt die Erschöpfung mir Streiche? „Anton ist eine äußerst komplizierte Persönlichkeit. Man kann ihn schnell als instabil bezeichnen oder wahnsinnig. Er befasst sich mit der Alchemie.“ Die auf irgendeine Weise funktioniert.
„Ein interessanter Mann“, merkt die Therapeutin an, als ich schweige. Achselzuckend stelle ich die Tasse ab. Die Keramik kühlt mehr und mehr ab.
„Ja und mindestens ebenso ärgerlich. Ich gehe davon aus, dass sein Facettenreichtum mich überrascht hat. Wann immer ich mir sicher war, Anton zu verstehen, hat er mich vom Gegenteil überzeugt. Sie können sich vorstellen, dass das für jemanden wie mich eine äußerst unangenehme Situation ist.“ „Das kann ich, ja.“ Wieder werden Notizen gemacht. Zu gern würde ich einen Blick auf ihren Block werfen. „Aber nichts davon klingt, als bestände die Gefahr, dass Sie sich in ihn verlieben, Miss Clark.“
„Zugegeben habe ich das nicht erwartet. Ich gehe davon aus, dass durch die momentanen Spannungen zwischen mir und meinem Verlobten ich das dringende Bedürfnis verspürte, eine Bezugsperson zu finden, die fernab von dieser Zeit und dem Medienrummel existiert. Anton war die erste Wahl. Dass ich womöglich Gefühle für ihn entwickeln könnte, ging mir auf, als ich ihn dem Tod überlassen habe.“ Und nicht mehr schlafen konnte. Nun jede Nacht in dem neuen Anton nach den kleinen Reaktionen, kleine Details des alten Antons suche und zunehmend frustrierter werde, wenn ich sie nicht finde.
„Haben Sie bereits in Betracht gezogen, dass das nur daher rührt, dass Sie nicht damit umgehen können, wenn Ihnen etwas weggenommen wird?“ Daran habe nicht ich gedacht, sondern Adriana. Sie hat mich stundenlang damit aufgezogen. Ich sei doch lediglich wütend, weil jemand mir mein Spielzeug weggenommen habe.
„Ja. Ich bin zu keinem Ergebnis gekommen.“
„Sie haben die Dinge gerne im Griff, nicht wahr?“
Das ist wirklich amüsant. Lachend schüttle ich den Kopf und setze mich bequemer hin. „Ich habe alles im Griff“, sage ich gelassen. „Es gibt nichts, was nicht so funktioniert, wie ich es möchte.“
„In Hinsicht auf Anton war es anders“, merkt die Therapeutin an.
Ungläubig schnaube ich und beuge mich vor zu ihr. „Es war meine Entscheidung, ihn gehen zu lassen. Ich hadere lediglich mit diesem einen Entschluss.“
„Oder mit den Konsequenzen?“
„Ich ziehe immer und zu jeder Zeit jede Konsequenz in Betracht. Andererseits wäre ich nicht die reichste und angesehenste Frau weltweit unter fünfundzwanzig“, sage ich wegwerfend.
„Darauf wollte ich nicht hinaus.“ In einer beinahe beschwichtigenden Geste, lehnt sich die sogenannte Psychotherapeutin zurück und zieht sich die Brille auf die Nase. Tut sie das, wenn ihr eine Situation zu heikel wird? Eine kleine Mauer zwischen sich und dem Gesprächspartner errichten? „Ich meinte vielmehr die emotionalen Konsequenzen. Sie haben nicht damit gerechnet, dass ein Verschwinden ihre Gefühle beeinflussen könnte.“ „Zugegeben, nein, das habe ich nicht. Ich führe mir oft vor Augen, wie die Dinge sind, um sie so weiterführen zu können, wie sie sein müssen.“
„Sie hatten dieses Verhältnis zu Anton die ganze Zeit über bewusst im Blick?“, fragt sie.
„Es war kein Verhältnis“, spotte ich. Sie nickt und schreibt. „Wie würden Sie es bezeichnen, Miss Clark?“
„Als Bekanntschaft.“
„Eine Bekanntschaft, die für Sie mehr wurde als nur das? Befürchten Sie die Ablehnung Antons?“
„Nein.“ Er war es schließlich, der mich mit einem Kuss begrüßt und verabschiedet hat.
„Gut“, sagt sie, als ich das nicht weiter ausführe. „Sie sind sich also sicher, dass Sie mit ihm das hätten haben können, was Achim Ihnen momentan nicht gibt?“
Ich lache auf. Wir bewegen uns in völlig verschiedene Richtungen und sie kommt von dem rationalen Weg ab. „Damit hat dieser Umstand nichts zu tun! Außerdem“, ich neige mich zu ihr, „ist mein Verlobter für Sie noch immer Mister Achim Jameson. Nur weil Sie mit mir sprechen, haben Sie kein Recht, die Förmlichkeiten ihm gegenüber fallen zu lassen.“
„Vielleicht hat es das doch“, sagt sie und übergeht meine Forderung, Achims Vornamen nicht zu verwenden, geflissentlich. „Womöglich haben Sie in Anton jemanden gesehen, der das ersetzen kann, was Ihr Verlobter Ihnen durch seine Beschäftigungen vorenthält.“ So etwas wie Treue? „Anton und Achim sind wie Tag und Nacht. Ich habe in ihm sicherlich keinen zweitklassigen Ersatz gesucht.“
„Wenn Sie Anton als zweitklassig ansehen, warum sind Sie dann eine Beziehung mit ihm eingegangen?“
„Weil…“ Ich stocke. Ja, warum? „Wir waren nicht zusammen“, sage ich schließlich. „Anton und ich haben in keiner Beziehung zueinander gestanden.“
„Ich dachte, Sie wären Bekannte gewesen.“
„Waren wir auch, aber.“ Ich beiße mir auf die Zunge. Psychotherapeutin hin oder her, ich werde mir von niemandem das Ruder aus der Hand nehmen lassen. Diese Frau führt mich vor. Diese Freude werde ich ihr nehmen.
„Ich befürchte, Sie verstehen nicht, worum es hier geht“, stelle ich fest und erhebe mich. „Es war mir eine außerordentliche Freude, mit Ihnen konversieren zu dürfen. Ich werde Ihnen bald ein Schreiben zukommen lassen, in denen ich Sie über die tatsächlichen Umstände informiere, damit wir das nächste Mal effektiver arbeiten können.“
Sie nimmt die Brille ab und schiebt sie sich zurück in die Haare. Bevor sie sich ebenfalls erhebt und meine Hand , notiert sie zwei weitere Stichpunkte. „Natürlich, Miss Clark.“ Dunkel schmiegen sich die Strähnen an ihr Gesicht. „Die Freude war ganz meinerseits.“ Immerhin ist sie klug genug, nicht zu diskutieren. „Meine Sekretärin wird Ihnen einen neuen Termin geben.“
„Davon bin ich überzeugt.“ Mit entschlossenen, festen Schritten durchquere ich den Raum und öffne ihr die Tür. „Sie finden den Weg nach draußen?“ Es ist eine einfache Floskel. Das weiß sie ebenso gut wie ich.
„Das tue ich. Bis zum nächsten Mal, Miss Clark.“ Die Psychotherapeutin schenkt mir ein kleines Lächeln. Ich schließe die Tür direkt hinter ihr ohne darauf zu warten, dass sie den Gang verlassen hat oder die Höflichkeitsfloskel zu erwidern. Die Teekanne lasse ich gemeinsam mit den Tassen stehen.