Читать книгу Zehn Sekunden vor Mitternacht - Celina Weithaas - Страница 6

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Anton hat sich mit dem Rücken an die kühle Mauer des Klostergartens gelehnt, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, während er mit geschlossenen Augen in der Sonne badet. Braune Strähnen fallen ihm in die Stirn. Für ihn ist es mein vierter Besuch. Vier Tage. Ich kann nicht in Worte fassen, wie sehr ich auf unser Widersehen hinfiebere. Nacht für Nacht. Wie sehr ich mich zwischen tristen Studienmomenten und Episoden, in denen ich Achim vermisse, nach Anton sehne.

Dabei treten wir, in gewisser Weise, auf der Stelle. Ich habe ihm zwar einige Wörterbücher beschaffen lassen, die er erstaunlich ambitioniert durchgearbeitet hat in den neun Monaten, die für ihn vergangen sind, seit unserem Widersehen – seit seinem Tod –, trotzdem sind wir nicht einen Schritt weiter.

Ich benötige eine einzige Kleinigkeit von Anton und das ist die gleiche Kleinigkeit, die nutzlos um meinen Hals baumelt. Unser Kernproblem? Bis vor vier Besuchen wusste Anton weder, dass er ein Alchemist ist, noch, dass er die Fähigkeit besitzt, eine Substanz zu brauen, die mich vor den unwillkommenen Zeitreisen bewahrt. Bis vor neun Monaten, die in meinen vier Tagen für ihn vergangen sind, konnte er sich weder Zeitreisen vorstellen noch das Brauen von übernatürlichen Mixturen.

Als ich das erste Mal – für Anton das erste Mal – vor Antons Tür stand, hat er eine lange Zeit damit verbracht, beunruhigend offensichtlich darüber zu grübeln, wie groß die Strafe wäre, fände man eine waschechte Hexe in seinem Haus. Es hat mich Ewigkeiten gekostet, ihm zu erklären, dass ich keine Hexe bin und wir einander kennen. Nicht nur kennen. Dass er mich mag. Sehr. Und dass ich nicht zu ihm gekommen bin, um ihm Probleme zu bereiten.

Obwohl „erklären“ für diese absurde Situation vor seiner Tür deutlich zu hochgegriffen ist. Noch nie habe ich mich auf ähnliche Weise erniedrigt wie an diesen ersten zwei Aufeinandertreffen, bei denen ich versuchte, mich mit Händen, Füßen und Grimassen verständlich zu machen – in kaum mehr als der Hälfte der Fälle erfolgreich. Alles, was ich durch meine verzweifelten Kommunikationsbemühungen erreichte, war ein Anton, der zwischen Amüsement und Verzweiflung schwankte. Ähnlich wie ich. Mein frühneuzeitliches Deutsch ist katastrophal, sein Englisch bruchstückhaft und veraltet.

Die Wörterbücher haben uns geholfen. Dass Anton sie lesen konnte, grenzte an das erste Wunder. Das zweite war, dass meine Zimmermädchen ein Exemplar auftreiben konnten, das Mittelhochdeutsch in halbwegs modernes Englisch übersetzt. Ohne Antons Ambitionen meine Sprache zu lernen, wäre jede Hoffnung verloren gewesen. Nun haben wir uns zumindest eine Grundlage geschaffen, um zu streiten. Eine Beschäftigung, der wir nachgehen, wann immer wir nicht schweigen.

Seine Faszination mir gegenüber ist nach dem dritten Besuch abgeebbt. Er sei genervt von meinem verwöhnten Anspruchsdenken, sagte er. Anton benötigte mehrere Anläufe, damit ich überhaupt verstand, worauf er hinauswollte. Anton hatte einen Begriff für „verwöhnt“ genutzt, den ich bis dato nie gehört habe – vergenussmauseln – und Anspruchsdenken mit ansprechend Denken verwechselt. Aber er bemüht sich. Und ich tue es ebenso. Sowohl in Antons Epoche als auch in dem niveaulosen College, in dessen Gemäuern nicht nur langweilende Vorlesungen stattfinden, sondern auch, wann immer ich mein Zimmer betrete, ein Mädchen auf mich wartet, das eine schärfere Zunge hat, als gut für es ist.

Meine Zimmergenossin, die in erster Linie nützlich ist, um gähnend meine Hausaufgaben binnen von wenigen Stunden zu erledigen mit der nüchternen Bitte, ich solle sie mir durchlesen, falls der Professor von mir verlangen sollte, näher auf eines der Themen einzugehen.

Müsste ich wählen, ich würde die stinkenden Straßen aus Antons Zeit dem lebendigen College immer vorziehen. Weil hier jemand auf mich wartet, der mir nicht völlig egal ist. „Wie lange beliebt Ihr noch zu bleiben?“ Anton fährt sich durch das dunkle Haar. War es noch vor vier Besuchen perfekt geschnitten, gleicht es nun einem kleinen Chaos, das nur ein anständiger Friseur bezwingen kann. Einzelne Strähnen fallen Anton in die Augen und seine Frisur ähnelt eher einer geschmacklosen Mütze als einem tatsächlichen Schnitt.

„Wir haben uns auf das Du geeinigt gehabt.“ Ich verlagere das Gewicht auf den anderen Fuß. Es wäre ratsam eine Decke mitzunehmen, damit ich nicht viele Stunden meiner Nacht stehend verbringen muss.

Anton rollt gelangweilt die Augen. „Warum erlerne ich deine Sprech und du nicht meins?“ Der Nachteil an Wörterbüchern? Sie vermitteln die Grammatik kaum. Ich habe ihm dafür ein weiteres Nachschlagewerk geschenkt, gestern, aus Antons Sicht vor fast drei Monaten. Er hat mich mit einem Blick bedacht, so ungläubig, dass ich kurz mit dem Gedanken spielte, mich für mein Verhalten zu schämen.

„Warum du meine Sprache lernen sollst?“, vergewissere ich mich. Er nickt. „Weil mein Leben mir bereits genug Anforderungen stellt. Noch mehr Problematiken benötige ich nicht.“

Vor allem seit der Gala, auf der ich hätte anwesend sein sollen. Gestern Nacht fand die Nacht der Nächte statt. Die Königin aller Abende und die begehrteste Veranstaltung, die man sich ausmalen kann, im Herzen meines Landes. Frauen werden zu Damen und der ordinärste Herr zum Gentleman und sei es nur, um mit den bekanntesten und reichsten Personen der Welt zu konversieren.

Diese Gala ist ein Pflichttermin für jeden, der einen Ruf zu verlieren hat. Es sei denn, die Eltern sind fest davon überzeugt, dass ein Auftauchen auf dieser Veranstaltung weit verwerflicher wäre als das Fernbleiben.

Während sich die großen Köpfe meiner Zeit also trafen, habe ich mit Adriana und Casper Scrabble gespielt und auf Mitternacht gewartet. Die Quittung fand sich auf der Titelseite einer jeden Zeitung. Die Schlagzeilen haben mich schier überrollt.

„Trennungsschock – Warum Achim und Chrona getrennt sind.“

„Nacht der Wahrheit. Das Ende einer märchenhaften Beziehung“

„Chrona E.J.H. Clark erscheint nicht zum alljährlichen Festakt – Sind ihr ihre Fehltritte auf die Füße gefallen?“

„Achim Jameson legt den Arm um eine andere Frau!“

„Die Prinzessin der Börse ist nicht länger relevant“

„Die Trennung des Jahres – Nur hier gibt es die aktuellsten News!“ Diese letzte Schlagzeile hat mich tatsächlich dazu bewegt, mich hektisch durch den Artikel zu klicken. Natürlich ist mir überbewusst, dass weder Achim noch meine Eltern Informationen an die Presse kommen lassen würden, die meinem Ruf und damit auch ihrem schadet. Trotzdem war dort dieses eisige, krampfende Gefühl im Magen, das mir die Kehle zugeschnürt hat und mich angstvoll die Zeilen überfliegen ließ.

Letzten Endes wurde viel Aufheben darum gemacht, dass man Achim und mich das letzte Mal gemeinsam an meinem Geburtstag gesehen habe, obwohl sich danach einige Gelegenheiten für einen gemeinsamen Auftritt geboten hätten. Dass man Achim und mich nicht bei jeder Veranstaltung Seite an Seite sieht, das ist nichts Neues. So auch die schwachsinnige, reißerische Autorin, die letzten Endes nichts als ihre eigene Dummheit verriet.

Meine Hände haben dennoch gezittert, bis Adriana gegen die offene Zimmertür hämmerte. „In zehn Minuten sollten wir auf unseren Plätzen sitzen. Der Trottel wartet nicht gerne.“ Sie hatte mir ein keckes Grinsen zugeworfen und sich hollywoodreif am Türrahmen gerekelt. Ich hasse sie dafür, wie ihr Haar sich in makellosen Wellen über ihren Körper legt, bis hin zur Taille, in einem einzigen, atemberaubenden Fluss, golden schimmernd im frühen Tageslicht.

Anstatt einer Antwort griff ich nach dem Buch, das mir meine Zimmermädchen gebracht haben, und meinem iPad für die Notizen, aus denen Adriana meine Hausaufgabe schreiben wird. Meine Semesterarbeit. Adriana nimmt diese Bezeichnung nicht allzu ernst. Gut für mich.

„Du siehst wirklich ziemlich fertig aus. Hast du schlecht geschlafen?“, fragte Adriana mich. Ich schlafe nicht schlecht, sondern kurz. Mit dieser offensichtlichen Information belästigte ich Adriana nicht, sondern bedachte sie lediglich mit einem skeptischen Blick.

„Ich wüsste nicht, was dich das anginge.“

Adriana quittierte meine Aussage mit einem Schnauben. Tatsächlich ist das ihre häufigste Reaktion auf mich. Entweder sie verdreht die Augen oder schnaubt wie ein Pferd. Anstatt mich weiter mit Fragen zu löchern, auf die ich ohnehin nicht antworten würde, griff sie ungefragt nach meinem iPad und scrollte durch den Artikel.

„Darüber machst du dir Sorgen?“, fragte Adriana mich irgendwann ungläubig. „Die hat nicht einmal die Rechtschreibregeln drauf.“

„Diese Zeitung ist nicht allzu populär.“ Nicht, dass das eine Entschuldigung wäre.

Adriana rollte die Augen. „Selbst wenn sie wüsste, was in deinem Leben abgeht. Warum so panisch? Leute wie du können nicht gut mit der Wahrheit umgehen, oder?“ Das ist Schwachsinn und das sollte Adriana wissen. Die Arbeit meiner Eltern, das Studieren von Zahlen und Kursen, besteht aus nichts als Wahrheit und Berechnung, Statistik und Möglichkeit. Die Wahrheit ist mein Beruf. Nicht, dass Adriana das verstehen würde.

Oder Anton, der mich lediglich abschätzig mustert, als wäre ich Ungeziefer, das man sich von der Sohle kratzen muss. Das ist ein neuer Ausdruck an ihm. Das erste Mal habe ich diesen leichten Ekel in seinem Gesicht gesehen, als ich wenige Stunden zuvor vor Antons Tür aufgetaucht bin. Anton ist ein anderer Mann als der, den ich kennengelernt habe, als ich das erste Mal – für mich das erste Mal – vor seinem Haus aufgetaucht bin.

Als Anton mich – aus seiner Sicht – das erste Mal empfangen hat, habe ich das kleine Häuschen kaum wiedererkannt. Die Decke war stabil und mehrere Öllampen waren im Raum angebracht worden. Nicht, dass man sie bräuchte. Anstelle des Lochs war ein Fenster in die Wand eingelassen. Der kleine Innenraum war hell und gemütlich. Der Tisch schien frisch geschreinert und eine dampfende Tasse Tee stand dort. Bei meinem nächsten Besuch war von dieser schönen Wärme nichts mehr zu erahnen. Auf meine Frage, was geschehen sei, murmelte Anton nur haareraufend von Steuern und dem verdammten Fürsten.

Bei diesem ersten Besuch stand ein Bett in Antons Wohnraum, direkt neben dem Tisch, sogar ein kleiner, uriger Herd, den man heizt, indem man ein Feuer darunter legt.

Ich will es mir kaum eingestehen, aber ich habe mich wohlgefühlt. Dort, in seinem winzigen Haus. Zwischen seinem gemachten Bett und diesem Tisch. Mit der dampfenden Tasse Tee und dem hellen Sonnenlicht, das durch das Fenster fiel.

Heute bei meinem vierten Besuch – dem vierten Besuch seit Antons Tod – war der Wohnraum wie umgekrempelt oder, einfacher gesagt, wie ich ihn kenne. Leer mit einer kleinen Feuerstelle. Der Tisch steht in der winzigen Kammer daneben und dient dem Forschen und Sezieren. Anton hat über keine dieser Veränderungen ein Wort verloren. Nur seine Laune ist merklich gesunken. Wenn er die Mundwinkel noch etwas weiter nach unten zieht, dann hängen sie am Boden.

„Was kann du Probleme haben? Du machst welche.“ Abschätzig mustert er mich. Ich stelle mich meinen Problemen augenblicklich. Anton das zu erklären, wäre verschwendete Zeit.

„Ich habe dich um einiges eloquenter in Erinnerung. Wo ist dein Charme geblieben?“, frage ich Anton ruhig und lasse die Fingerspitzen über die kleine Mauer wandern. Moos schmiegt sich gegen meine Haut, haucht federleichte Küsse darauf. Das genieße ich am meisten an diesen Ausflügen: die frische Luft. Und obwohl ich hin und wieder das Donnern von Geschossen im Hintergrund erahnen kann, schaffen diese Unruhen es doch nicht, meinen Vorhang aus Entspannung zu zerreißen. Des Nachts schlafe ich nicht, des Nachts träume ich. Von einem Verlobten, der mich ebenso liebt wie ich ihn, Eltern, die mir meine kleinen Fehltritte – ein einziges Mal, nur ein einziges Mal – vergeben. Ich träume von einer Möglichkeit, dass diese Zeitreisen aufhören.

Ich sehne mich zurück in mein Leben vor dem ersten Zeitsprung. Zurück in Luxus und die Sicherheit der Zahlen und der menschlichen Psyche. Stattdessen zupfe ich ein Stück Moos von der Mauer und mache mir damit die Finger schmutzig.

„Beim Fürsten“, murrt Anton und fährt sich erneut durch das zerzauste Haar. Auf eine absurde Art steht es ihm. Es vervollständigt das Bild von dem verrückten Wissenschaftler. Ähnlich wie die Abendgarderobe mich ausmacht und zur Prinzessin über die Börse erhebt.

„Möchtest du mir davon erzählen?“ Eigentlich interessieren mich Antons Differenzen mit dem Fürsten nicht wirklich. Bevor ich vor vier Tagen hierhergekommen bin, haben mich Schuldgefühle überrollt wie ein Tsunami. Hätte ich Anton retten können? Irgendetwas unternehmen können? Inzwischen ist diese Dauerschleife von Selbstverfluchen und Vorwürfen verschwunden, ständig unterlegt von einer melancholischen, leicht verliebten Verzweiflung.

Meine kurze Verliebtheit in Anton hat sich mit seinen unangebrachten Sticheleien verflüchtigt. Ich nehme an, weil das hier nicht der Anton ist, den ich kenne, sondern ein fremder Junge, der sich nicht einmal anständig artikulieren kann. Mit Menschen wie ihm umgebe ich mich für gewöhnlich nicht und diese Ehre, dass ich es doch tue, weiß er nicht zu schätzen. Anton verhält sich wie ein Bauerntölpel, der meint, Alchemist werden zu können.

Über diese neuen Entwicklungen beschwere ich mich nicht. Der Beweis, dass Anton eines Tages zu diesem brillanten Mann werden wird, für den ich geschwärmt habe, hängt um meinen Hals und schmiegt sich gegen die kleine Kuhle über dem Schlüsselbein. Ich versuche, Anton so viel Selbstvertrauen wie möglich zu geben, um endlich diese Mixtur zu erhalten. Dieses Mittel, das mich davor bewahrt, aus meiner kleinen, zerfallenden Welt gerissen zu werden. Bedauerlicherweise lässt Anton sich Zeit. Sehr viel Zeit. „Nein.“ Seine Lider bleiben geschlossen. Mit schmalen Augen betrachte ich Anton, das dichte, braune Haar, den schönen Mund mit diesen unglaublichen Lippen, die erschreckend gut küssen können, die Arme, die viel stärker sind, als ich mir erklären kann. Es ist lächerlich, aber seine gerade Nase hat es mir am meisten angetan. Ich kann nicht sagen, warum. Im Endeffekt sind meine Schwärmereien ohnehin unwichtig. Anton ist ein Bauerntölpel des siebzehnten Jahrhunderts, dem ich eines Tages etwas bedeuten werde. Ich weiß nicht, ob ich auf den Tag hoffen soll, an dem sich Antons Haltung mir gegenüber ändert. An dem er mich mit anderen Augen betrachtet und mich wieder bei sich wissen will. Seine Gefühle für mich würden so viel verkomplizieren. Meine verkorkste Verlobung, Antons und mein Beisammensein in dieser Zeit. Meinen Wunsch nie mehr hierher zurückzukehren.

„Warum nicht?“ Wenn nicht einmal mehr Anton mit mir sprechen will, bin ich wohl ganz allein. Anton zuckt nur die Achseln, die Knöchel übereinandergeschlagen. Ich bewundere Anton für seine wütende Gelassenheit. Teils wirkt er wie ein sorgloser Junge, teils wie ein angespannter Schlägertyp, der am liebsten seine Faust in irgendjemandes Gesicht rammen würde. Nicht, dass Anton je Anstalten gemacht hätte, die Hand gegen mich oder irgendwen sonst zu erheben. Das ist nicht Antons Art. Und dafür schätze ich ihn. „Als ich dich zuvor getroffen habe, warst du um einiges gesprächiger“, merke ich an. Anton murmelt in seiner Sprache undeutlich vor sich hin.

Seufzend schließe ich die Augen und atme einfach nur ein. Die Luft um uns herum ist seltsam weich, wie die schüchternen Pfoten einer Katze, und versetzt mit dem Duft von allen möglichen Kräutern, von denen ich keine zwei benennen kann. Für gewöhnlich halte ich mich in wohlklimatisierten, nach Zitrusfrüchten oder Blumen duftenden Räumen auf, immer leicht versetzt mit dem Geruch von Wein und frisch zubereitetem Essen. Der Klostergarten des siebzehnten Jahrhunderts ist eine willkommene Abwechslung. Würde man hinter diesen Mauern mehr auf die Hygiene achten, ich würde mich tatsächlich wohl fühlen. So aber? Komme ich nicht umhin, die Erde unter meinen Fingerspitzen zu spüren, und mich zu fragen, was alles schon darüber gekrochen ist.

„Du sein lange hier schon“, stellt Anton fest. Durch meine langen Wimpern sehe ich zu ihm hinab. Ich versuche ihn einzuschätzen. Unmöglich. Antons Gesicht ist völlig entspannt. Gänzlich neutral. Ist er verärgert? Freut er sich über meine Gesellschaft? Bin ich ihm völlig egal?

„In ein paar Minuten werde ich wieder in meinem Bett liegen“, erwidere ich. Erschöpft blinzle ich in die Sonne. Mein neuer Tagesrhythmus ist ungesund. Früh um neun beginnt die erste Vorlesung, zu der Adriana mich Tag ein, Tag aus pflichtbewusst schleift. „Wissen schadet nie“, pflegt sie zu sagen, ganz gleich wie tief meine Augenringe sind. Zeit für einen Mittagsschlaf gibt es nicht. Während meine Zimmermädchen sich darum bemühen, meinen Kreislauf um die Mittagszeit herum mit Massagen, Maniküren und wohlriechender Körperlotion in Schwung zu halten, studiere ich die Kurse, schreibe meinen Eltern meine Prognosen und warte auf Antwort.

Nachmittags erwartet man von mir, dass ich mich unter das Volk mische und leichte Konversation mit Menschen halte, die nicht weiter denken, als bis zur nächsten Prüfung und auch nur diese Prüfungen im Sinn haben. Am Abend dann lasse ich mich zurechtmachen für das Schlafengehen, warte auf den Sprung in die Vergangenheit, verbringe bei Anton einige Stunden und bin frühestens gegen zwei Uhr morgens wieder in meinem Bett.

Seit vier Tagen geht das so. Es fühlt sich an wie eine unüberbrückbare Ewigkeit. Der Gedanke an die kommenden organisatorischen Schritte – meine Hochzeit, die Vorbereitung auf die Prüfungen, die Planung mehrerer Dinner, den selbstständigen An- und Verkauf von vielversprechenden Aktien – lässt mich auch in Antons Jahrhundert eine Massage wünschen. Meine Muskeln haben sich bereits vor einigen Tagen in unnachgiebigen Stahl verwandelt. Mit einer hohen Erwartungshaltung habe ich früh gelernt umzugehen. Aber Stress dieser Art? Unberechenbarer, womöglich mörderischer Stress? Er lässt mich wie ein kleines, hilfloses Kind fühlen, das mit verbundenen Augen versteckte Süßigkeiten im Minenfeld sucht. Sich der Gefahr bewusst, sich der Gefahr unbewusst.

„Müde siehst du aus.“ Anton hat die Augen endlich geöffnet und betrachtet mich mit schiefgelegtem Kopf. Auf seinen Wangen hat sich eine leichte Röte ausgebreitet. Ich schiebe sie auf die Sonne und nicht auf meine Anwesenheit. Er liegt schon viel zu lange hier, die Arme entspannt unter dem Kopf verschränkt.

„Das bin ich“, antworte ich ehrlich. „In letzter Zeit fehlt mir die Ruhe.“

„Warum?“ Er versucht ein ernsthaftes Gespräch zu beginnen? Die Stille scheint nicht nur für mich unerträglich zu sein. Wenn ich zurückdenke an unsere Wortgefechte, von denen ich nie auch nur eines gewonnen habe, kommt mir dieser Moment vor, als säße ich mit einem anderen Menschen in diesem Garten. Jemandem, der sich eigentlich gar nicht für mich interessiert. Dieses eine, kleine Wort, dieses Warum, beweist das Gegenteil und nimmt mir aus unerfindlichen Gründen eine kleine Last vom Herzen.

„Ich gehe aufs College. Und bin des Nachts hier.“ Ein Kloß bildet sich in meinem Hals, während ich Antons intensivem Blick ausweiche. „Und habe eine nervtötende Zimmerkameradin, die es vorzieht, ihre Zeit gemeinsam mit ihrem Freund in meinem Zimmer zu verbringen. Wenn ich an all die Termine denke, die in Zukunft auf mich zukommen, die Hochzeit, ein Abendessen mit Monsieur Depót, dann kommt es mir vor, als wüchse mir alles über den Kopf.“ Anton verzieht leicht den Mund. Ob ihn das, was ich ihm anvertraut habe, interessiert? Unmöglich einzuschätzen. Seine Augen sind wieder geschlossen, die Hände weiterhin hinter dem Kopf verschränkt. Schweigen.

Ich sollte ein neues Thema anschneiden, stattdessen lausche ich dem Klang der Insektenflügel. Bienen haben sich in den kelchförmigen Blüten einer blauen Blume niedergelassen, recken den gelb-schwarz gestreiften Po in die Höhe, die Flügel immer fleißig arbeitend. Sie erinnern mich an den Kolibri, den eine tschechische Kollegin bei sich zuhause hält. Wenn er aus einem Blütenkelch trinkt, schlagen die Flügel so schnell, dass sie zu einem grünlichen Regenbogen verschwimmen.

„Seist dich aufgeregt?“

Ich brauche kurz, um hinter die Bedeutung zu kommen. Ob ich aufgeregt bin?

„Weswegen sollte ich?“

„Die Hochzeit.“

Ich rümpfe die Nase. Oh ja, das Event des Jahrzehnts. Mutter hat mir die Gästeliste noch nicht vorgestellt, aber es wäre eine Beleidigung, wenn weniger als fünfhundert Menschen erscheinen. Alle, um mir und meinem Glück zuzujubeln.

Resigniert presse ich die Lippen aufeinander. Welchem Glück?

Es sollte unmöglich sein, aber Achim ist es gelungen: Er hat mir den Boden unter den Füßen weggezogen mit nur einem einzigen, kleinen Satz. Wir werden uns mit dem Ehebund nicht häufiger sehen.

Für viele Mädchen mag die Hochzeit eine aufregende Herzensangelegenheit sein. Endlich bindet man den Mann an sich, ohne den man sich das Leben nicht mehr ausmalen will! Für mich war die Hochzeit nie romantisch ausgeleuchtet. Lediglich ein Freischein, um mehr Zeit mit Achim verbringen zu dürfen. Ich stehe im Fokus, die ganze Zeit über, und für gewöhnlich liebe ich an meinem Leben nichts mehr als diese Aufmerksamkeit. Als das Blitzlichtgewitter, die begeisterten Rufe. Der ein oder andere fällt vor Begeisterung in Ohnmacht, wenn ich vorbeischreite. Kameras sind ein Segen. Sie verkaufen und sie vermarkten. Nur für die Liebe scheinen sie eher eine Rezession zu sein als eine Expansion. Die Kameras lassen Liebe einfach nicht zu, ersticken sie wie ein kleines Pflänzchen im Keim.

Die Kameras, allgegenwärtig, sind der Grund dafür, dass Achim und ich uns selten sehen, selbstverständlich neben unseren öffentlichen Verpflichtungen. Eine falsch gelegte Hand reicht für die falschen Gerüchte. Plötzlich bin ich vor der Ehe schwanger, weil seine Finger über meinem Bauch ruhten, oder Achim anstandslos, weil die Hand etwas zu weit in Richtung meines Pos gerutscht ist. Jeder öffentliche Auftritt wird detailliert durchgegangen. Wie begegnen wir uns, wird ein Kuss folgen? Wie lang sollte der dauern?

Und genau wie wir unsere Liebe mühevoll inszenieren, tun wir es auch mit der Hochzeit. Sie wird kein Beweis ewiger Treue sein, sondern eine vertraglich fundierte Zusammenarbeit. Immerhin, ich werde das atemberaubendste

Kleid tragen, das je gesehen wurde. Achim und ich werden das strahlendste Paar sein und keine Zeitung wird es wagen, uns für diesen Tag nicht perfekt wirken zu lassen. Denn genau das werden wir sein und kein bisschen weniger. Wenn wir vor den Altar treten, wird niemand uns mehr als Rohdiamanten bezeichnen können. Geschliffener als unser Verhalten, unser Auftreten, existiert nichts auf der ganzen, weiten Welt.

„Sie wird pompös“, antworte ich knapp.

„Und das Herz?“ Das Herz? Ungläubig sehe ich Anton an. Er erwidert meinen Blick nicht. Ich habe Anton als niemanden kennengelernt, der die Zeit damit verbringt, über Gefühle zu sprechen. Die Forschung steht an erster Stelle.

„Die Menschen werden sich freuen“, sage ich eisig. „Die Vermählung wird live übertragen in Hundertzwanzig Ländern. Wir erwarten, dass sich noch einige mehr Rechte einholen werden. Es ist der Abschluss und Neubeginn einer unglaublich romantischen Geschichte.“ Die unter anderem beinhaltet, dass wir die meiste Zeit getrennt voneinander verbringen werden, kaum dass der Ehering an meinem Finger steckt. Nicht, dass das etwas Neues wäre.

Am Dienstag besuchten Achim und meine Eltern mich an diesem College. Im Ballsaal des altehrwürdigen, in den Armen des Efeus ruhenden Hauses, haben wir das abgewickelt, wovor ich mich am meisten fürchtete.

„Warum haltet ihr es für richtig, dass Achim und ich wenig Zeit miteinander verbringen?“, habe ich gefragt gehabt. Mutter hatte leise gelacht und die Hände um das Weinglas gelegt.

„Die Antwort steht dir ins Gesicht geschrieben“, sagte sie. „Eine erfolgreiche Ehe basiert niemals auf Liebe.“ Und egal wie ich diskutierte, argumentierte und konversierte, nicht ein Punkt in dem Ehevertrag wurde geändert. Ich habe meinen Eltern garantiert, dass ich diesen Vertrag beizeiten unterzeichnen werde. Und das war es. Danach hatten Achim und ich noch vier jämmerliche Minuten für uns. Das war genau die Zeitpanne, die benötigt wurde, um den Wagen vorzufahren.

„Wie geht es dir damit?“, hatte Achim mich allen Ernstes gefragt.

Ich zuckte die Schultern. „Das gleiche könnte ich dich fragen.“

„Es ist das Vernünftigste.“ Achim raufte sich das Haar und brachte die perfekte Frisur durcheinander. Das ist sein einziger Makel. Man weiß, dass ihn etwas bewegt, wenn die Frisur ruiniert ist. Abgekaute Fingernägel und aufgekratzte Hände gibt es bei ihm nicht.

„Verlange ich zu viel, wenn ich dich um einen Kuss bitte?“, habe ich Achim gefragt gehabt. Ein leises Lächeln umspielte seine Lippen und ließ mein Herz summen. Niemand lässt mich so aufgeregt und kribbelig fühlen wie Achim.

Er antwortete mir nicht, hauchte mir nur einen Kuss auf die Wange, der viel zu zart erschien. Viel zu warm, viel zu wertvoll.

„Pass auf dich auf, Liebste. Ich könnte es nicht ertragen, dich irgendwo zu verlieren. Oder irgendwann.“ Dabei ist er es doch, der sein Bestes tut, um mich fernzuhalten. Ich sagte Achim nicht, dass ich ihn liebe. Über solche Geständnisse freut man sich nicht. Nicht dort, wo ich zu Hause bin.

Der Chauffeur räusperte sich, als ich die Arme um Achims Hals schlang und das Gesicht an seiner Schulter vergrub. Wenn ich bei ihm bin und mir vorgaukeln kann, dass alles gut ist, kein Ehevertrag zwischen uns steht, dann verschwende ich keinen Gedanken an Anton. Egal wie intensiv und tief Anton mich fühlen lässt, Achim ist realer, greifbarer. Er ist mein künftiger Ehemann.

„Du es bedauerst.“

Pardon? Ich ziehe die Augenbrauen nach oben. „Wohl kaum.

Es gibt nichts Wertvolleres als eine geliebte Show.“

Anton schnaubt abfällig und verschränkt die Arme vor der Brust. Er wirkt abweisender, als ich ihn je erlebt habe. „Klingt traurig.“

Ich wünschte, mir würden die richtigen Worte einfallen. Ich will diese aufgesetzte Tragik meines aufgesetzten Lebens bestreiten, aber alles, was ich sagen könnte, klänge wie eine erbärmliche Entschuldigung. Und jemand wie ich bittet nicht um Verzeihung oder Verständnis. Jemand wie ich gewährt beides.

Kopfschüttelnd kommt Anton auf die Füße und bietet mir seine Hand an. „Spazieren?“ Womöglich sollten wir uns auf Einwortsätze einigen. Da kann grammatikalisch wenig schiefgehen. Mein Herz stolpert. Ich halte meine Miene starr. Ich hebe die Schultern und lasse den Blick durch den blühenden Garten schweifen. Die Äste der Bäume biegen sich unter den Früchten, die bald bereit für die Ernte sind. Ungeziefer summt und sirrt über die Pflanzen, die sich wie ein buntes Mosaik über den Boden legen und trister, brauner Erde einen Ausdruck von Lebensfreude geben. Die schmalen Wege durchschneiden die Beete penetrant und führen zu dem kleinen, in die Mauern eingelassenen Tor, auf das Anton deutet.

Raus, auf die Straßen. Ich werde sie nie wieder ohne die Toten sehen können, die an den Wänden lehnten, die skelettartigen Hände flehend ausgestreckt. Sobald ich das Pflaster an Antons Seite betrete, ist es mir unmöglich, ihn als den Jungen zu sehen, der mir hier seine Hand anbietet. Dort, auf dieser Straße, da hungert Anton, sieht mich aus Augen an, viel zu groß für das hohlwangige Gesicht und ohne jede Hoffnung, dass es besser werden könnte.

Er habe gekämpft, sagte Anton mir damals. Mit allem was er habe. Und das ganze Fürstentum hat gnadenlos verloren in einem Krieg, der sich über Jahrzehnte zog und nichts zurückließ als Asche, Tod, Verderben.

Trotz allem, trotz der finsteren, viel zu frischen Erinnerungen, mache ich Anstalten, seine Hand zu ergreifen. Wie ich Anton kenne, würde er andererseits den Garten ohne mich verlassen. Es ist seltsam, wie eine Berührung gleichzeitig so vertraut und doch fremd sein kann. Anton wirft mir ein Lächeln zu, das mir nicht bekannter sein könnte.

„Wohin dich willst?“

„Du“, verbessere ich ihn leise. Anton verzieht den Mund. Ich seufze. „Irgendwohin, wo es dir gefällt.“ Seine warmen Augen funkeln. Ich lasse mich von ihm mitziehen. Dabei sollte ich es sein, die die Menschen führt.

Zehn Sekunden vor Mitternacht

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