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VORWORT DES HERAUSGEBERS

Außergewöhnliche Zeiten – Außergewöhnliche Reaktionen

Vor mehr als 650 Jahren veröffentlichte der florentinische Dichter Giovanni Boccaccio seine Novellensammlung Il Decamerone. Dieser unangefochtene Klassiker der Weltliteratur berichtet von sieben Frauen und drei Männern aus Florenz, die aufs Land fliehen und sich dadurch vor der Pest retten, welche die Stadt fest in ihren tödlichen Griff bekommen hat. Um ihre gemeinsame Zeit der Isolation sinnvoll zu nutzen, beschließen sie, sich gegenseitig Geschichten zu erzählen, zehn Tage lang, jeden Tag eine pro Person, so dass exakt 100 Geschichten zusammenkommen, als sie endlich in ihre Heimatstadt zurückgehen.

Das Leben hat es so gefügt, dass ich zusammen mit meinen Klassen 9a, 10c und 10d unmittelbar vor dem Ausbruch des Corona-Virus genau dieses Buch im Unterricht gelesen habe, ein vielschichtiges und tiefsinniges Werk, welches dank Covid19 so plötzlich wieder ganz aktuell geworden ist, denn was ist dieses Virus anderes als eine neue Art Pest? Beide versetzen die Menschen in Angst und Schrecken, beide legen den Alltag weitgehend lahm und tauchen das Leben in ein ganz anderes Licht. Damals wie heute sieht sich die Welt einer außergewöhnlichen Situation gegenüber. Außergewöhnliche Zeiten erfordern aber außergewöhnliche Reaktionen, wenn der Mensch ihnen würdevoll begegnen möchte. Mit am außergewöhnlichsten ist in diesem Leben die Kunst, weil sie von ihrem Wesen her durch und durch schöpferisch ist. Unbeirrbar erschafft sie Neues und das ist die einzige angemessene Reaktion auf eine alles vernichtende Gewalt wie die Pest oder das Corona-Virus.

Damit war meine Idee geboren, zusammen mit meinen Schülern ein neues Dekameron zu schreiben. Selbstverständlich stand hinter diesem Projekt nie die Absicht, auf der literarischen Ebene mit Boccaccios Meisterwerk zu konkurrieren, mit dem künstlerischen Genie dieses Mannes. Boccaccio reloaded geht es um etwas ganz Anderes und dadurch in bestimmten Punkten sogar um viel mehr als seinem großen Vorbild: 100 Schüler haben 100 Geschichten geschrieben, ein Buch von 100 jungen Autoren, die mit einer vereinten Stimme würdevoll auf ein Jahrhundertereignis reagiert haben. Ich wage zu behaupten, dass es auf der ganzen Welt keine zweite solche Reaktion gibt. Die Schüler haben etwas ganz Besonderes erschaffen und dafür gebühren ihnen alias Centino Scrittori das höchste Lob und Anerkennung.

Centino Scrittori ist ein Pseudonym – welches sich aus den italienischen Wörtern für ‚hundert‘ (‚cento‘) und für ‚Schriftsteller‘ (‚scrittore‘) ableitet – und Boccaccio reloaded ist keineswegs eine bloße Aneinanderreihung von 100 Erzählungen, sondern ein klar strukturierter Makrotext. Auch in dieser Hinsicht stand sein literarisches Vorbild Pate: Wie Boccaccios Erzähler an jedem neuen Tag immer ein anderes vorgegebenes Oberthema bedienen müssen, so einigen sich auch die Erzähler des vorliegenden Werkes jeden Tag aufs Neue, welche übergeordnete Thematik sie in ihren Geschichten zur Sprache bringen möchten. Auf diese Weise entstand ein in zehn große Unterabschnitte thematisch gegliederter Text. In den einzelnen, circa gleichlangen Kapiteln, die sich Themen wie Epidemien und Krieg, Kriminalität und Manipulation, Kunst und Humor, Liebe und Sexualität und so weiter widmen, erzählen die Schüler über Alltägliches und Außergewöhnliches, über die Ängste und Sorgen, Hoffnungen und Träume, Niederlagen und Siege von Menschen (und einmal sogar auch von Tieren) aus ganz unterschiedlichen Kulturen und Zeiten. Sie erzählen, um es auf den Punkt zu bringen, über das Leben in seinem unendlichen Facettenreichtum. Sie tun dies aus einer unverkennbar jugendlichen Perspektive und sorgen damit für den unbezwinglichen Charme ihres Buches.

Aus diesen Gründen danke ich meinen 100 Autoren und insbesondere Klara Prieb, Amalia Racec und Remo M. Rautenstrauch, die es auf sich genommen haben, die Kommunikation mit ihren Mitschülern zu koordinieren, die Rahmenhandlung zu den 100 Erzählungen zu schreiben und diese zu sortieren, zu korrigieren und letztendlich in eine ansehnliche Buchform zu bringen. Die Eingriffe in diese Gestaltungsprozesse durch meine Person haben sich stets auf das Notwendigste beschränkt. Auch Dennis Jiang, Paul Weinmann und Zhaoguo Wei, die vor allem für die Cover-Gestaltung zuständig war, seien hiermit herzlichst bedankt: Sie haben das Buch illustriert und es dadurch um eine zusätzliche Dimension bereichert.

Bedanken möchte ich mich im Namen aller Beteiligten insbesondere auch beim Haus der Kulturen der Welt, vertreten durch Frau Alexandra Engel, dank dessen überaus großzügigen finanziellen Unterstützung sich zusätzliche gestalterische Spielräume bei der Realisierung des Projektes eröffnet haben, so dass wir am Ende jedem der 100 Autoren ein Hardcover-Exemplar von Boccaccio reloaded als ein Geschenk überreichen und der Öffentlichkeit ein optisch wirklich ansehnliches Buch präsentieren können. Ganz besonders danken möchte ich an dieser Stelle ferner dem Förderverein des Friedrich-Ebert-Gymnasiums zu Berlin auch für seine generöse Zuwendung. Sie hilft uns vor allem dabei, das Buch den Schülern, die nicht am Projekt beteiligt gewesen sind, zu gut erschwinglichen Konditionen zugänglich zu machen und dadurch für seine stärkere Verbreitung in den Schülerkreisen unserer Bildungseinrichtung zu sorgen. Nicht zuletzt gilt mein ausdrücklichster Dank Herrn Rüdiger Kruse, Mitglied des Deutschen Bundestages. Ihm verdankt sich der Kontakt zum Haus der Kulturen der Welt, die geplante Vorstellung des Projektes in der überregionalen Presse und die überaus freundliche Einladung und Möglichkeit, eine Buchpräsentation in den Räumlichkeiten des Deutschen Bundestages zu veranstalten und auf diesem Wege den Schülern ein unvergessliches Erlebnis zu bescheren.

Ihnen, liebe Leser, wünsche ich viel Vergnügen und Freude bei der spannenden Lektüre dieses außergewöhnlichen Buches, dieses Zeitzeugnisses der ganz besonderen Art.

Eugen Wenzel, April/Mai 2020

Boccaccio reloaded

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