Читать книгу Die Enkelin - Channah Trzebiner - Страница 10

SOMMER IN LITTLE OLD YAFFA

Оглавление

Ich war fünfzehn, als ich mit Zoé und Mama einen weiteren Sommer in Israel verbrachte. Bevor wir meine Tante und meinen Opa besuchten, flogen wir erst nach Eilat und gönnten uns einen »Erlebnisurlaub« zu dritt.

Es waren jetzt vier Jahre nach Papas Tod vergangen. In Eilat ritten wir auf Kamelen in der Wüste, gingen ins Unterwassermuseum, und ab und zu aßen wir sogar zwei Mahlzeiten zusammen. Manchmal strich Mama sich über den Bauch, als hätte sie Schmerzen. Wenn ich sie darauf ansprach, wedelte sie abwehrend mit der Hand: «Es ist nichts«. Wir waren glücklich und die Sonne wärmte unsere Knochen.

Nach vier Tagen Eilat flogen wir nach Tel Aviv zu Rachel.

Nachdem meine Tante und mein Opa das sechste Mal von Deutschland nach Israel gezogen waren, wollte Rachel die Wohnung in Tel Aviv endlich modernisieren. Opa war in Deutschland geblieben.

Dieses Projekt sollte sehr lange andauern.

Rachel ließ die Wohnung komplett umbauen. Sie hatte bei den Großeltern meiner Freunde einen Marmorboden gesehen, der jetzt unbedingt in der Diele verlegt werden musste.

Mama wusste wahrscheinlich, in welchem Zustand sich die Wohnung befand. Wir wohnten nicht in der Wohnung, sondern im Carlton Hotel. Das war ein völlig neues Gefühl für mich. Ich hatte mich sonst in Israel zu Hause gefühlt. Jetzt war ich eher eine Touristin.

Ohne Frühstück, ohne uns einzucremen, und nach einigen Zigaretten brachen Mama, Zoé und ich zu Rachels Wohnung auf. Mama nahm ein paar Advil wegen angeblicher Kopfschmerzen. Ich wusste, sie hatte Magenschmerzen.

Wir gingen von der Ben-Yehuda-Straße aus auf die Wohnung meiner Großeltern zu. Es war sehr heiß an diesem Tag, Es wurde für heute Chamsim, der Wüstenwind, angekündigt. Schon vor zehn Uhr waren es 30 Grad. Ich freute mich darauf, meine Tante wiederzusehen.

Um an die Klingel der Haustüre zu kommen, muss man um das Haus herumlaufen. Dabei fiel mir auf, dass die Trisim, die Rollläden, zugezogen waren. Die Rollläden in Israel sind dünner als in Deutschland und werden außen angebracht.

Einige der Rollläden fehlten und blaue Mülltüten wehten als drohende Vorboten im Takt des Windes. Wir klingelten. Rachel kam uns strahlend entgegen. Wir umarmten uns und stiegen die letzten Treppen zur Wohnung hoch.

Staub schlug mir entgegen. Die Wohnung glich einer Ruine nach einem Bombenangriff. Es gab keine Möbel in der Wohnung, die Tapete war bis auf den Putz entfernt worden. Ein in Plastik eingewickelter Stuhl stand in der Mitte des Raumes. Vor dem Stuhl stand eine Kaffeedose. Auf der Kaffeedose lag eine bis ans Ende verglühte Zigarette, deren Asche sich zu einem mindestens fünf Zentimeter langen Bogen geformt hatte. Daneben brannte eine Zigarette, die nur zur Hälfte mit Tabak gefüllt war. Eine weitere Zigarette hatte meine Tante zwischen den Fingern. Ansonsten befand sich niemand in der Wohnung.

Ich suchte das Schlafzimmer. Intuitiv suchte ich einen Raum, in dem man geborgen war. Rachel konnte doch unmöglich hier wohnen. Was war schlecht an der alten Tapete? Was war schlecht am alten Boden?

Endlich fand ich das Schlafzimmer. Hier sah es auch so aus. Rachels Bett stand als einziger Farbmoment in der staubigen Wohnung. Die alte Tapete hing in Fetzen von der Wand. Neben dem Bett stand eine Kaffetasse. Mir war, als hätte ich mich in die »Mila 18«, einem Roman über das Leben einer jüdischen Widerstandsgruppe im Warschauer Ghetto, verirrt.

Ich ging zurück in den Salon. Ich starrte wieder auf die zwei Zigaretten, von denen eine noch qualmte. Der Aschebogen faszinierte mich. Ich stampfte mit dem Fuß auf. Der Aschebogen der Zigarette fiel auseinander. Ich hörte noch, wie meine Mutter Rachel Vorwürfe über den Zustand der Wohnung machte. Rachel, wo hast du gegessen, wo hast du dich gewaschen? Wieso hast du alles auf einmal in Auftrag gegeben?

Dann wurde es dunkel und ich kippte vornüber auf den mit Plastik umhüllten Stuhl. Mein Kopf landete im zerfallenen Aschebogen.

Als ich aufwachte, stand Zoé an meinen Füßen. Sie hatte meine Beine hochgelegt. »Alles in Ordnung, schonkheit

Zoé sah aus wie eine Hollywoodschauspielerin. Wenn ich mit ihr unterwegs war, zahlten wir nie Eintritt, wir zahlten auch nie Getränke, Zoé bekam überall einen Tisch.

Am Abend zuvor waren wir mit einer großen Gruppe jüdischer Freunde aus Deutschland ausgegangen. Wir waren um die zwanzig Leute. Das Yotvatah Restaurant, in das wir wollten, war völlig überfüllt. Alle waren genervt, weil es keine Aussicht gab, irgendwo auf der Tel Aviver Promenade gemeinsam Abendbrot essen zu können.

Zoé ging zu dem Manager des überfüllten Yotvatah Restaurants. Sie redete eine Minute mit ihm. Dann lächelte sie in die Runde und rief: »Jalah Chevre, kommt schon, wir können rein.«

Wenn Zoé in meiner Nähe war, wurde ich übersehen, aber ihre ganze Aura war so liebevoll, harmonisch und positiv, dass ein Gefühl der Eifersucht nicht aufkam.

Wenn wir am Strand entlang liefen, schauten ihr die Männer nicht nur hinterher, sie machten uns auch Platz, als wäre Zoé eine Königin. Ich platzte dann fast vor Stolz, neben ihr zu gehen.

»Geht’s dir besser?«, fragte sie.

»Ja«, sagte ich, »ich bleibe noch kurz hier liegen.«

Jeder, der Zoé kannte, hatte etwas über sie zu sagen. Da wir auf die gleiche Schule gingen, hatten wir oft die gleichen Lehrer. Die Mathe-, Physik- und Biologielehrer hatten eine sehr hohe Meinung von Zoés Begabungen. Wenn sie unseren Nachnamen auf der Klassenliste lasen, freuten sie sich und fragten, wie es meiner Schwester ginge. »Ein außerordentliches Talent, ihre Schwester.«

Zoé hatte meine Beine hochgelegt. »Alles in Ordnung, schonkheit

Als ich nach einigen Minuten wieder bei mir war, lachte Mama. »Was ist so witzig?«, fragte ich.

»Nichts. Du hast wahrscheinlich zu viel Sonne abbekommen. Du bist sehr empfindlich. So wie Papi.« Ich fragte mich, ob ich wirklich so empfindlich war.

Später bekam Mama, als sie gerade die Wohnung putzte, einen Magenkrampf. Sie konnte sich kaum auf den Beinen halten. Zum Glück kannten wir genügend Ärzte in Tel Aviv.

Einer ihrer ehemaligen Studienfreunde untersuchte Mami. Sie hatte ein Myom und musste noch am gleichen Tag notoperiert werden. Zoé und mich wollte sie im Krankenhaus nicht dabei haben. Ich fühlte mich erschlagen und einsam.

Abends ging ich mit einer Freundin, die seit dem Golfkrieg in Tel Aviv wohnte, etwas trinken. Danny, mein nach England verzogener Schulfreund, ging auch mit. Wir fuhren nach Yaffa.

Yaffa ist das alte Tel Aviv – eine uralte Hafenstadt mit arabischem Flair. Die kleine Stadt ist berühmt für ihren biblischen Bezug zum Propheten Jona. Jona kommt im Judentum, im Koran und in der Bibel vor. Als Kind mochte ich die Geschichte sehr. Dass ein Wal Jona verschluckt und auf G ttesbefehl wieder ausgespuckt haben soll, fand ich faszinierend. Ich stellte mir vor, dass der »Jonawal« vor Yaffas Küste im Meer wohnte.

Ich war froh, mit meinen Freunden nach Yaffa fahren zu können. Meistens machten wir dort einen Abstecher zu Abulafia, einem berühmten arabischen Stehrestaurant mit köstlichen Backwaren und anderen Spezialitäten. Dieses Mal fuhren wir zu einem Lokal, in dem es Malaauch (eine Art arabisches Pizzabrot) mit frischen Tomaten gab.

Das Restaurant lag in einer alten malerischen Gasse direkt am Hafen. Wir saßen auf dem Boden und bestellten eine Wasserpfeife mit Apfelgeschmack, die wir im Kreis rumgehen ließen. Meine Hauptbeschäftigung an diesem Abend bestand darin, einen Rauchring durch den anderen durchfliegen zu lassen. Ich konnte wunderschöne Rauchringe blasen. Fast so schön wie die der unschuldigen blauen Raupe bei Alice im Wunderland.

Ich fühlte mich gut, weil Danny neben mir saß. Danny hatte einen siebten Sinn für meine Familiendramen. Er fragte mich aber nie danach und ich war ihm dankbar dafür. Nily, meine Freundin, hatte ihren Freund und noch ein paar Jungs mitgenommen. Einer fixierte mich unentwegt und bald schon wirkte seine Aufmerksamkeit wie ein warmer Mantel auf mich.

Es war nicht er persönlich – er war nur ein Symbol dafür, dass es vielleicht irgendwann gut werden könnte in meinem Leben. Vielleicht könnte ich hier zur Schule gehen. Wir unterhielten uns eine Weile. Danach gingen wir am Strand spazieren. Diese Clique junger Menschen nahm alles leicht und unbeschwert und ich wollte unbedingt ein Teil davon sein.

»Why are you living in Germany?«, fragte mich der Junge.

»Why are you living here?«, fragte ich verärgert. Ich wusste, er würde gleich auf Nazideutschland anspielen. Ich kann nun mal nichts dafür, dass meine Großeltern und Eltern sich für Deutschland entschieden haben.

»Because my grandparents obviously didn’t want to live in Nazigermany after the war.«

Aus ihm sprach der ganze Stolz, es in unser Land geschafft zu haben. In einigen Jahren würde er in die Zawa (die israelische Armee) gehen. Ganz bestimmt wollte ich mich heute Abend nicht dafür rechtfertigen, warum ich ein so unreflektiertes Leben in Deutschland führte.

»Mazal tov«, sagte ich und ging auf die Toilette. Als ich zurückkam, sagte er: »Sorry, lets start new. Do you want to meet my grandma?«

Was für ein Tempo, dachte ich irritiert. Ich schaute ihn etwas ratlos an.

»No«, sagte er hastig, »I mean she would love to meet someone jewish from Germany. She speaks jiddisch and she misses her old European world.«

Das klang schon etwas authentischer, etwas zerrissener, etwas vertrauter – wie konnte ich dazu nein sagen. »Sure«, sagte ich. Wir gingen am Strand spazieren.

Als er mich zu küssen versuchte, schreckte ich verärgert zurück. Trotzdem ging ich glücklich nach Hause, mit dem Gefühl, für irgendjemanden auf dieser Welt eine Bedeutung zu haben.

In den nächsten Tagen erhielt ich Blumen, sehr liebe Nachrichten an der Hotellobby und eine Einladung, am Nachmittag mit ihm zu einem Baseballspiel zu gehen. Ich nahm die Einladung an und hoffte, nicht wieder einen Kuss abwehren zu müssen. Ich wollte mich ganz einfach gut fühlen, ohne etwas geben zu müssen. Ich wollte abgelenkt sein.

Die nächsten Wochen verbrachten wir viel Zeit miteinander. Ich ging gerne zu seiner Oma, die mit mir Jiddisch sprach. Sie machte Rogalach, ein jüdisches Gebäck, für uns.

Seine Oma machte mir zu schaffen. Die grüne Nummer auf ihrem Arm war kürzer als die von Opa. Hieß das, sie war länger in Auschwitz gewesen, viel länger als Opa? Sie war jung für eine Oma. Wenn sie es nach Israel geschafft hatte, musste ich mich dann nicht doppelt anstrengen, hierher zu ziehen? Alle Leute hier passten so gut zu mir, Israel passte so gut zu mir, alles war so vertraut, schwer, melancholisch und zerbrechlich.

Die wenigen Schwarzweißfotos an der Wand, die an die toten Angehörigen erinnerten, der Dillgeruch, der sich mit dem Geruch der Hühnersuppe vermischte, sogar die urdeutsche Wanduhr gab es bei uns und bei ihnen. Und natürlich die Teegläser, die alle jüdischen Großeltern besitzen.

Als mich meine beste Freundin aus Frankfurt anrief, fragte sie, was es Neues gäbe. Ich erzählte ihr von dem Jungen.

»Ist er dein Freund?«

»Ich denke schon«, sagte ich.

»Aber du hast schon einen zu Hause!«, erinnerte sie mich wütend.

Ich dachte an meinen Opa, der auch für jede Situation eine andere Frau hatte. »Manche können mehr haben«, sagte ich verärgert darüber, dass sie so kleinlich war. »Er ist eben nicht hier«, entgegnete ich und hängte auf.

Die Enkelin

Подняться наверх