Читать книгу Die Enkelin - Channah Trzebiner - Страница 8

TEL AVIV

Оглавление

Mein Vater blieb in Frankfurt, er musste arbeiten. Heute denke ich, dass er bewusst nicht oft mit uns nach Israel gefahren ist. Wahrscheinlich wollte er nicht mit ansehen, wie meine Mutter sich in die Mutter ihrer Eltern verwandelt.

Mamas Schwester Rachel arbeitete im Weizmann-Institut in Rechovot. Oma, Opa und Rachel empfingen uns am Flughafen. Das heißt, Rachel stand in der Ankunftshalle und Oma und Opa warteten im Auto.

Bei dreißig Grad Hitze hieß Oma meine Schwester Zoé und mich mit einer heißen Kanne Kamillentee und Butterplätzchen willkommen. Oma gab uns keinen Kuss zur Begrüßung. Sie saß in dem Auto und wartete ungeduldig darauf, uns mit Bergen von Trauben, Plätzchen und Bananen zu versorgen. Widerrede war zwecklos, wir mussten alles essen, haufenweise.

Die Verbindung zwischen meinen Großeltern, Mama und Rachel war so mächtig, dass es keinen Raum für mich und Zoé gab. Auch die Umwelt, das Wetter, die Politik, die städtebauliche Entwicklung Israels, alles, was normale Touristen interessierte, war ohne Belang. Wichtig war allein, dass Mamas Eltern und ihre Schwester Mama wieder hatten. Sie nahmen sie vollkommen in Beschlag. Am Tel Aviver Flughafen verlor ich meine Mutter, und ich wusste, dass Zoé und ich ab jetzt auf uns allein gestellt waren.

Meine ersten Erinnerungen habe ich an Israel, als ich circa vier war und Zoé zehn. Zoé war als Ältere schon ab und zu alleine draußen, um mit den Nachbarskindern zu spielen. Ich hingegen war zu klein und musste den ganzen Tag in der Wohnung bleiben. Spielsachen gab es nicht. So dachte ich mir Spiele aus, um Oma und Opa zu unterhalten, die ich mir als edle Gesellschaft dachte.

Ich zog mein schönstes Kleid an und servierte beiden eine Nana-Limonade, in der Hoffnung, dass sich ein Gespräch ergeben würde. Opa schaute durch mich hindurch und sagte: »Gai a wek ich mis gikn televisia.«

Jeden Morgen um sechs weckte Opa mich, um mit mir auf dem schuk, den Markt in der Altstadt von Tel Aviv, zu gehen. Er sagte: »Kim Chanischi, me werdn gaien sichn dus letzte einhorn.«

Ich war todmüde, aber das letzte Einhorn zu finden, war natürlich das Zauberwort. Ich weiß nicht, woher Opa das wusste, aber für ein Zauberpferd wäre ich wirklich meilenweit gelaufen. Ich war also hellwach, putzte mir schnell die Zähne und wollte rausstürmen, als Opa mich aufhielt: »Koidem mist di epes esn un trinken.«

Vor mir standen drei Gläser Milch und ein riesiger Teller, auf dem sich gebratene Zwiebeln türmten. Mir wurde schlecht. Wie sollte ich das nur runterbekommen?

Ich versuchte zu verhandeln: »Opa ich wer trinken ein glus milech, jo?«

Opa, entsetzt: »Wus redst di, narisch kind? Host nischt gehert, wus hot pasiert in Tschernobyl?«

Mit meinen vier Jahren wusste ich natürlich nicht, was in Tschernobyl passiert war.

Ich: »Nein, wus hot pasirt in Tschernobyl?«

Opa: »Di weist nischt, wus hot pasirt?«

Ich: »Nein?«

Opa: »Wus lernst di in der schul?«

Ich: »Ich bin doch nuch nischt in der schul.«

Opa: »Sch, sch, trink da milech. A miser kindergartn, in dreid mit deim ganzn jekeland.«

Ich: »Aber wus hot den pasirt?«

Opa: »Es is gewein a grois balagan mit a reaktor.«

Ich: »Wus is dus?«

Opa: »Oi, wus meinst, wer ich bin, a chemiker? Wot ich gewein a chemiker, wot ich gehobt an apotaik.«

Ich: »Ich farstei nischt.«

Opa: »Mach ka kinzn, trink di milech.«

Es hatte keinen Sinn, ich musste trinken.

Opa: »Wen du wirst nischt sain lib, wird kimen der gubenuar.«

Ich aß brav auf und wir machten uns auf dem Weg zum schuk. Opa lief schnell, marschierte mehr, als dass er ging. Er fiel in einen Lauftrab. Er ließ meine Hand nicht los und zerquetschte sie fast mit seiner Stärke. Wenn ich zu langsam ging, sagte er: »Chipke, chipke!« Oder er brüllte so laut »Achtung«, dass alle sich nach uns umdrehten.

Wir liefen die Ben-Yehuda-Straße runter und gingen an meinem Lieblingsladen mit den Hundebabys vorbei. Ich sagte: »Opa, warte, vielleicht ist hier das Einhorn drin.«

Opa: »A einhorn?«

Ich: »Opa, di host gesugt, me wern sichn dus letzte einhorn.«

Opa: »Dus einhorn wird san oifm schuk.«

Ich: »Wus soll an einhorn oifm schuk?«

Opa: »Wus wilst di oifm schuk?«

Ich: »Gur nischt, di wilst gain oifm schuk.«

Opa: »Channele, di weist, wus is a polizei?«

Ich: »Jo, Opa.«

Opa: »Wen di wirst mich fraign noch a mul weign deim einhorn, wer ich riefn di polizei. Sei werdn dich abhoiln.«

Ich schwieg, bis wir auf dem Markt angekommen waren. Dort angekommen, veränderte Opa seine Haltung. Er spannte seine Muskeln an und hielt Ausschau. Er zerrte mich vorbei an den würzigen Gemüseständen auf den Teil des Marktes, wo es frische Hühner gab. Es stank schrecklich nach Fleisch und Blut. Opa ließ sich viel Zeit beim Aussuchen des Vogels. Die Hühner wurden bei lebendigem Leibe gerupft und ich konnte nicht hinsehen, wie sie kämpften und schrien.

Wenn Kinder keine Vegetarier oder Green-Peace-Anhänger werden sollen, dann wäre es empfehlenswert, solche Situationen in früher Kindheit zu vermeiden.

Opa kaufte ein Tier, wobei er den Verkäufer mit dem Preis auf ein Minimum drückte. Dann ging es zum Gemüse. Opa führte mich im Nacken oder an der Schulter vor sich her. Er suchte sich den Stand mit dem meisten Betrieb aus. Ich mochte diesen Griff nicht, aber wenn ich nicht gehorchte, drohte er mir mit der Faust, so dass ich es vorzog, vor ihm herzulaufen. Dabei fürchtete ich mich nie vor Opa, er hätte mich nie geschlagen, aber er wollte sich einfach nicht mit meinen kindlichen Wünschen auseinandersetzen. Opas Leben war auf das Essenzielle, Notwendigste reduziert. Geld verdienen und essen. Für mehr reichte die Kraft nicht mehr. Für Erklärungen an ein vierjähriges Mädchen schon gar nicht.

Er signalisierte mir, dass er nun einen wichtigen Auftrag erfüllen müsse, bei dem ich ihn nicht stören dürfe, sondern ihm behilflich sein solle. Sorgfältig suchte er das Obst und Gemüse aus. Er steckte mir Zitronen, Aprikosen und Kräuter in die Hosentaschen. Bei der Kasse angekommen, setzte er mich auf seinen Trolli, der bereits voll mit Essen war. Er bezahlte die Tüten, die er in der Hand hatte. »Opa, wir misn dus auchet bezuln.«

Er drohte mir erneut und fragte: »Sol ich rifn di polizei?«

Ich hielt den Mund und so zogen wir von Stand zu Stand. Auf dem Rückweg besserte sich Opas Laune. Er war höchst zufrieden mit seiner Beute und wurde nun richtig zugänglich und zärtlich. Er sagte: »Ietzt wern me kochn a gite joiech.«

Über die Jahre wurde ich eine perfekte Diebin. Opas Gefühl, einen rechtmäßigen Anspruch auf Essen zu haben, übertrug sich auf mich. Opa hatte kein Unrechtsbewusstsein. Auschwitz war nun mal keine Besserungsanstalt – manche meinen das ja. Man hatte ihm so vieles genommen, was waren da schon ein paar Bananen und Äpfel? Ich klaute nicht oft, aber wenn es an etwas fehlte, nahm ich es mir einfach. Vorwiegend klaute ich Schminke. Ich war jetzt zwölf, aber bekam kein Taschengeld, weshalb ich mir nichts Eigenes leisten konnte. Mama um Geld für Schminke zu bitten, hätte ich mich nie getraut. Ich bin mit Kindern von Millionären aufgewachsen – und obwohl ich mir nicht viel aus Geld machte, wollte ich bei manchen Punkten einfach mithalten können. Also organisierte ich mir die Produkte, die mir fehlten. Ein schlechtes Gewissen hatte ich dabei nicht.

Opa sagte dazu: »Gik no der potz hat a soi fiel wus kratz jenem wenn ich nehm a bissele. Shat nischt.« Wäre ich nach einer langen Erfolgssträhne nicht erwischt worden, weiß ich nicht, ob ich jemals aufgehört hätte zu stehlen. Opa klaute wenigstens nur Essen. Ich stahl oberflächliche Mädchensachen und so piepste es, als ich aus dem Laden ging. Da ich unschuldig aussah, traute ich mich, dem Ladenbesitzer eine Lüge nach der anderen aufzutischen. Dass ich die Produkte in einer anderen Filiale gekauft hätte, sie sollten doch dort die Kassenrolle kontrollieren. Ich stritt alles ab, ich konnte mich nicht mit meiner Rolle als Diebin identifizieren. Schließlich musste Mama kommen. Sie fragte mich, ob ich die Sachen geklaut hätte, und ich bejahte. Da ich unter 14 war, drohte mir zum Glück keine Strafe. Ich dachte, ich würde ein Donnerwetter von Mama zu hören bekommen. Mir war alles unwichtig, nur Mama wollte ich auf keinen Fall enttäuschen.

Sie aber blieb seelenruhig und fragte, wieso ich das getan hatte. Ich sagte ihr, dass ich kein Geld hätte und dass ich Beautyprodukte liebte. Mama sagte, wenn ich ihr verspreche, dass dies nie wieder vorkomme, sei alles in Ordnung. Dann gingen wir das erste Mal seit Papas Tod zu zweit ein Eis essen. In wirklich wesentlichen Situationen reagiert sie wie ein Engel.

Ich war unglaublich erleichtert über Mamas Reaktion. Ich schwor mir selbst, nie wieder so etwas zu tun und habe seit damals nie mehr etwas organisiert.

Die Enkelin

Подняться наверх