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EIN TYPISCHER SCHABBAT

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Meine Tante geht auf und ab. Sie kontrolliert Mamas Wohnzimmer im Hinblick darauf, ob in der von Mama neu eingerichteten Vitrine genug Fotos von ihr, Oma und Opa aufgestellt sind. Ihr Blick wandert von einem Bild zum anderen. Sie zündet sich eine Zigarette an.

»Kein Foto von mir, aber von Ricks Mutter hat sie eins aufgestellt«. Mama zuckt zusammen. Zoé und ich rollen die Augen. »Was denn?«, fragt sie zurück, »ist ein Foto zu viel?«

Zoé bemerkt, dass die meisten Menschen nicht ihre Schwester gerahmt im Wohnzimmer haben.

Opa stöhnt im Sessel über das miese Wetter. Seine polnische Pflegerin schaut mich hilfesuchend an. Ich zerfließe vor Mitleid. Meinen Opa Tag und Nacht zu ertragen, ist für jeden Menschen zu viel. Ich frage, ob sie einen Tee trinken will. »Mosche tag«, sagt sie.

Opa ist beleidigt: »Wus fraigst du si nuch a tei? Ich wot nischt gewolt trinken kein tei?«

Ich: »Ich wer dir oich machn a tei, a schwurzn?«

Opa schaut gleichgültig: »A chilig, sol sein a schwurzer tei

Ich gehe in die Küche, um Teewasser aufzusetzen.

Auch Mama geht in die Küche, um sich um das Essen zu kümmern. Sie schält die Kartoffeln für den kiegl, den Kartoffelauflauf. Sie wischt hektisch in der Küche rum. Werde ich jemals so putzen können wie Mama? Will ich so putzen können wie Mama? Ihre schnellen, flinken Bewegungen mit dem Lappen über das Holz haben etwas Aufbegehrendes, Aggressives. Mama kontrolliert den Braten in der Küche und wendet sich wieder den Kartoffeln zu. Sie schneidet die geschälten Kartoffeln mit der Brotmaschine, sie schneidet sich mit der Maschine in den Finger. Blut tropfte von ihrem Finger auf die Kartoffeln. »Mama«, schreie ich, »Mamischi, alles ok?«

Mama: »Nicht so schlimm. Lass mich.«

Ich: »Mama, bitte warte kurz.« Mama will weiter putzen. »Mama, setz dich bitte hin, bitte, hör doch einen Moment mit dem Putzen auf.«

Mamas Fingerkuppe hängt lose an einem Stück an ihrem Finger.

»Schon gut«, sagt sie.

Ich: »Mama, hör mir zu, es blutet stark, dass muss genäht werden.«

»Ach Quatsch«, sagt sie. »Ich muss das hier erst fertig machen.«

Zoé kommt in die Küche: »Ach, Mami. Mami, komm, wir verbinden das.«

Rachel kommt in die Küche: »Nicht ein Bild von mir und dir.« Zoé schreit Rachel an, was ihr einfallen würde, Mama so anzuschreien. »Siehst du nicht, dass sie blutet?«

Oi, oi, da fängt meine Tante zu schreien an: »Was ist passiert? Was ist passiert. Sag es mir.«

»Ich habe mich geschnitten«, sagt Mama.

Zoé: »Komm, Mami, ich fahre dich in die Klinik.« Mama stellt die joiech aus, sie dreht sich zu mir und sagt: »In 15 Minuten drehst du die Suppe auf 1,5« und fährt widerstandslos mit Zoé in die Klinik. Meine Schwester wirft mir einen fassungslosen Blick zu, als sie rausgeht. Ein Glück ist sie hier, denke ich.

Ich schwanke einen Augenblick. Mama ist weg. Das Familienoberhaupt hat sich frei genommen, weil die Ketten zu eng geschnürt sind. Einen Tag frei kann sie sich nicht nehmen, aber sie kann sich in den Finger schneiden und weg müssen. Quasi per Befehl von uns. Sie kann es nicht sagen, aber sie will weg. Weg von der Pflicht, jeden Schabbat zu kochen, weg von ihrer Schwester, weg von ihrem Vater und auch weg von Zoé und mir. Wir sind eine Last für sie, unverheiratete, finanziell noch zu unterstützende Kinder.

Ich wische die Blutspuren weg und führe Rachel aus der Küche. Rachel: »Wie tief war die Wunde? Sag mir, wie tief die Wunde war.«

»Nicht so schlimm«, beruhige ich sie, »es wird schon wieder.«

»Wird das wieder, Channah? Wie konnte das passieren? Wird das wieder?«

»Ja, natürlich wird es wieder«, sage ich, »mach dir keine Gedanken. Komm, ich mach dir einen Tee.« Sie setzt sich ins Wohnzimmer. Ich klaue ihr unbemerkt eine papiros aus der Tasche. Als ich ihr den Tee bringe, ist Rachel nicht mehr ansprechbar, sie ist mit ihrer Zigarette in eine Welt abgetaucht, in die ich ihr heute nicht folgen möchte. Opa interessiert sich auch nicht mehr für den Tee. Er sagt: »a kurvische maschine, in dreid!«

Immer muss alles unter die Erde, denke ich.

Ich trete vor die Verandatür in den Garten. Ich laufe aus dem Garten auf den kleinen Spielplatz hinter unserem Haus, setze mich auf meine Lieblingsbank und stecke mir eine Zigarette an. Hinter mir höre ich einen Mann fragen, ob ich nicht zu jung fürs Rauchen sei. Ich drehe mich um und frage ihn, ob er die Güte hätte, jemand anderem auf den Wecker zu fallen. Er bleibt stehen. Ich starre vor mich hin. Er redet irgendetwas, ich höre nicht hin. Hab ich nicht gesagt, dass ich allein sein will? Er sagt: »Ich habe auch Probleme.«

»Interessiert mich einen Scheiß«. Es tut gut, dem Ärger Luft zu machen.

Fremder: »Du scheinst auch welche zu haben.«

Ich schaue von dem Sandkasten hoch und erst jetzt zu ihm hin. Er ist älter als seine Stimme es vermuten lässt. »Ich habe gerade keine Lust auf dich.« Seine Augen sind wach, warm und alt. »Deine Worte und dein Benehmen passen so wenig zu deiner Erscheinung.«

Ich: »Hast du keine Frau, die du vollquatschen kannst?«

Fremder: »Ich habe eine Frau.«

»Herzlichen Glückwunsch«, sage ich und stehe auf.

Fremder: »Warte mal, ich heiße Finn.«

Ich: »Ciao, Finn«.

Finn: »Dir ist aber was über die Leber gelaufen, wie?«

Ich stapfe davon. Ich drehe mich um und rufe ihm zu: »Mach es dir nicht so gemütlich auf dem Platz, das ist meiner.«

Er lächelt.

»Channah, Channele«, tönt es durch die Gottfried-Keller-Straße. Meine Tante ruft mich nicht, sie schreit nach mir. Wieso müssen alle so schreien? Als ich durch den Garten gehe, sagt Rachel: »Ich wusste nicht, wo du bist. Wo bist du gewesen?«

»Ich bin hier«, sage ich. »Ich bin hier bei euch. Für immer, weil ihr immer schreien würdet, wenn ich weg wäre.«

Opa: »Wi bist di gewein

Ich: »A minite far di tir«, um zu atmen, denke ich.

Opa: »Me tur nischt loifn a soi fil oif die gassn

Ich: »Iech bin do

Schweigen. Opa starrt vor sich hin, Rachel starrt vor sich hin. Es ist mucksmäuschenstill. Wieso soll ich eigentlich immer zum Schweigen da sein, frage ich mich. Zum Schiwe sitzen. Rachel läuft wieder auf und ab.

Als Mama und Zoé zurückkommen, ist Zoé bleich und Mama geht es gut. »Fünf Stiche haben sie gemacht.« Der Arzt in der Notaufnahme war so lieb, wirklich, er hat sich besonders viel Zeit genommen! Zoé lächelt mir verstohlen zu. Wir wissen um Mamas Schwäche für Ärzte. Ärzte sind für sie das Größte. Ich bin glücklich, dass Mama versorgt ist. Glücklich, dass sie die ärztliche Hilfe annehmen konnte. »Ich habe mich aber nicht in den Knochen geschnitten«, erklärt Mama stolz.

Ich: »Schön Mami, komm, das Essen ist fertig, setz dich hin, ich serviere heute.«

Mama: »Nein, nein, das geht schon. Wie sieht denn der Braten aus? Hast du die Suppe auf die niedrige Flamme gestellt?«

Wie banal, denke ich, wie unwichtig. »Ja, das habe ich, und der Braten ist genau richtig«, erwidere ich und gehe zurück in die Küche.

Die Küche ist ihre Festung. Ich fülle die Suppe in die Teller. Mama kommt mit einem heftigen Ruck durch die Küchentür und stößt mich, der Teller fliegt mir aus der Hand. Die Suppe ist heiß und brennt auf meiner Jeans.

Mama: »Oh entschuldige, Herz, das wollte ich nicht.«

»Was machst du hier in der Küche«, fahre ich sie an. »Kannst du nicht eine Sekunde still sitzen?«

»Ich wollte nur mal nach dem Fleisch sehen.« Ich scheuche sie zurück. Sofort tut es mir leid, aber kann sie mir nicht einmal zutrauen, dass ich den beschissenen Braten hinbekomme? »Tut mir leid Mama, ich wollte dich nicht anschreien.«

Ich serviere die Suppe. Mama schafft es, ganze drei Löffel zu essen und stiehlt sich dann in die Küche davon, um eine zu rauchen.

Wäre sie doch nur Ärztin geworden, als Ärztin wäre sie fabelhaft. Als Zoé die Teller abräumt, ist Mamas Teller fast unberührt. Die von mir reingelegte Dekorationskarotte schwimmt einsam in der Suppe. Ich gebe für heute auf, ziehe mich in mich zurück und sage nichts mehr. Zoé streichelt mir beim Abräumen über den Kopf.

Natürlich begehen wir auch die Woche nach Mamas Unfall Schabbat. Opa schleppt sich mühsam die Straße hoch bis zu unserer Haustür. Sein Katheter schaut aus seinem Mantel. Rachel geht mit einigem Abstand hinter Opa den Gang entlang. Schwere, langsame Schritte. Rachel trägt eine Brille, die mal Opa gehörte. Sie ist aus Horn, aber viel zu groß für ihr kleines Gesicht. Ich beobachte beide, lange bevor sie mich sehen. Rachel hat ihren Blick auf den Boden gerichtet. Sie lebt im falschen Jahrhundert. Erst kurz vor der Vortreppe zum Haus richtet sie den Blick über die großen Brillengläser und freut sich, mich zu sehen. Ich freue mich auch, sie zu sehen. Sehr sogar, die Familie ist zusammen. Es ist Freitag, es ist Familientag. Unsere Begrüßung ist immer problematisch. Ich küsse nicht gerne zur Begrüßung.

Viele in meiner Familie haben die Angewohnheit, mich mit dem Kopf zu sich runterzuziehen und mich dann feucht und im Klammergriff zu küssen. Es ist keine normale Begrüßung, es ist mehr ein ›Halt mich fest, ich lasse dich nie wieder los, die Welt ist schrecklich und gemein und ich brauche deine Umarmung, um ihr standhalten zu können.‹

Ich weiche manchmal schon aus, wenn sie auf mich zukommen. Ich möchte nicht benutzt werden. Ich will nicht, dass mich schon im ersten Moment die Welle des Leids umspült und mich in einen tiefen Ozean hinunterzieht, aus dem es kein Entkommen gibt.

Wie jede Woche gibt es auch in dieser Woche einen banalen Streit, an den ich mich nicht mehr erinnern kann.

Ich renne aus der Tür in den Garten hinaus – auf den Spielplatz zu meiner Bank. Sie ist besetzt. Ich blinzle, das kann doch nur Einbildung sein. Auf meiner Bank sitzt schon wieder Finn. Ich drehe mich um und laufe zum anderen Ende des Spielplatzes. Es hat keinen Sinn, Finn kommt zu mir rüber. Er ist hocherfreut, mich zu sehen. Er setzt sich einfach zu mir. Ich könnte ihn erwürgen. Aber er hält mich auch vor dem Isolationstunnel fern, in den ich zu stürze drohe. »Geht es dir heute besser?«

Ich antworte ihm nicht. Da hat er am Freitag, wenn meine Familie zusammen ist, schlechte Karten. Ich schaue in den Himmel, ich schaue auf meine Beine. Wenn ich könnte, würde ich fliegen. Weit weg zum Meer, zu Papa. So ein Scheiß, lässt uns einfach allein im Dreck sitzen, was hast du dir dabei gedacht, nicht zum Arzt zu gehen? Hast du gedacht, die 120 Kilo Gewicht sind ein Zeichen deiner Gesundheit?

»Kann ich dir was anvertrauen?«, fragt Finn in meine Gedanken hinein. Ich reagiere nicht. Er nimmt das wohl als ein Ja und fängt an, mir von seiner Beziehung zu seiner Frau zu erzählen.

Anfangs höre ich nicht zu, dann verschwinden meine Gedanken, ich höre seine Stimme klar und deutlich. Sie leidet an Gedächtnisverlust. Er tut mir leid. Ich will nicht, dass er mir leid tut. Ich bin zu schwach, um aufzustehen. Er vermisst seine Frau, wie sie früher war. Er weiß nicht, warum das gerade ihnen passieren musste. Die Frage finde ich immer blöd. Ist es besser, dass es jemand anderem passiert? Warum fragen die Menschen nicht: Warum passiert überhaupt etwas Schreckliches? Finn redete über eine Stunde. Ich fand es sehr egoistisch, einfach so loszureden, andererseits auch irgendwie positiv, sich selbst das zu nehmen, was man möchte. Finn war damals 39. Ich war 13. Aus seiner Manteltasche ragte ein 100 DM-Schein. Ich spielte mit dem Gedanken, ihm den Schein zu entwenden. Ich überlegte, ich wog es ab. Ich fand nichts dabei, ihm das Geld abzunehmen.

Mit einer geschickten Handbewegung landete der Hunderter in meinem Besitz. Finn hatte mir meinen Ruheplatz weggenommen, obwohl Schabbat war. Am Schabbat stehlen? Nein, eigentlich nicht. Andererseits konnte ich Mama davon einen großen Blumenstrauß kaufen. Vielleicht hob das ihre Laune? Ich fand, das war eine gute Idee. Ich sagte, ich müsse jetzt nach Hause. Die Geschäfte hatten noch offen. Ich kaufte einen rosaweißen Blumenstrauß.

Die Enkelin

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