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OPA UND DIE SCHOKOLADE

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Anna ist die Pflegerin meines Opas. Sie soll sich um den Haushalt kümmern. Sie putzt nicht gerne, sie kocht auch nicht gerne. Dafür geht sie gerne mit Opa zu LH. LH ist der HL auf der Bergerstraße. In hebräischen Gebetsbüchern liest man von rechts nach links und nicht von links nach rechts. Deswegen heißt der HL für Opa LH.

Bei LH gibt es keine Kamera. Das wissen Anna und Opa. Anna ist sehr breit und zieht sich ein Kleid mit vielen Taschen an. In die Taschen steckt sie zur Hälfte Wurst und in die andere Hälfte muss sie für Opa was einstecken, sonst darf sie nicht mehr mit ihm zu LH.

Ach ja, Lesen und Schreiben. Wenn Mama Opa einen Antrag oder einen Vertrag unterzeichnen ließ, schrieb Opa die Buchstaben einzeln auf und verband sie hinterher zu einem ganzen Wort. Dann schaute er mich zufrieden an und fragte voller Stolz: »Soll ich nuch epes schraibn

Irgendwann fragte ich ihn: »Opa, bist di nischt gewein in a schul

»Awade bin ich gewein in a schul.«

»Wi lang?«, fragte ich.

»Ich weis? Bastimt a ganz jur. Bis ich bin gewein sibn

»Far wus bist di nischt geblibn lenger

»Es is gekimen emezn hot geschlugn ma brider. Denuchtem hob ich im gegeibn a trenn in dreid. Dus is gewein der sin von deim direktor. Denuchtem wolt ich nischt mer gain.«

»Un dein brider

»Meir, is gegangen

»Wus host di gemacht

»Ich hob gehandlt

»Mit wus

»Oi, Channele, mit alem, wus is du gewein

»Mit wus

»A mul mit epeln, a mul mit eiern

»Fin wanet host di gehobt die sachn

»Fin dem hoif fin meine eltern

»Wen ich hob gemacht a gitn toisch, a git gescheft, hob ich bakumen a bisl gelt. Fin dem hob ich gekent koifn nuch a hin oder a kose

»Kim, Chanischi, ich werd dir epes geiben.« Ich wusste, was jetzt folgte. Opa und Anna führten mich stolz in Opas Schlafzimmer. Er holte seinen Schlüssel zum Kleiderschrank raus, den er immer verschlossen hielt. Der Schrank war zur Hälfte gefüllt mit Kleidern, die andere Hälfte war voll mit Essen. Eine ganze Schublade gehörte mir, denn sie war voll mit Schokoladentafeln. Opa konnte keine Schokolade essen, weil er Diabetes hatte. Anna gehörte eine halbe Schublade. Sie enthielt ausschließlich Wurst, die Anna an ihre Enkel in ein polnisches Dorf verschickte. Ich fragte mich, ob das der Unterschied zwischen den Polen und den Juden war. Wir brauchen Schokolade für die Nerven und sie Wurst, um die kalten Winter mit ausreichend Fett zu überstehen.

Es lagen mindestens immer um die sechzig Tafeln in meiner Schublade. Ich durfte mir immer zwei aussuchen. »Welche wilst di nemen?«

Ich zeigte dann meistens auf die Kinderschokolade und Opa überreichte sie mir feierlich, als handelte es sich um einen kostbaren Schatz. Irgendwie war es das auch für mich. Ich wusste, was an der Schokolade hing. Ich wusste, dass er das erste Drittel des Lebens zu arm gewesen war, um sich Schokolade leisten zu können, die Mitte seines Lebens hatte er in Ghettos und in Auschwitz verbracht, und das letzte Drittel seines Lebens hatte er so viel gegessen, um den Hunger zu stillen, der nie aufhörte, dass er Zucker bekommen hatte und daher auf alle Süßigkeiten verzichten musste. Deswegen wollte er, dass ich die Schokolade genießen konnte.

Opa war ein treusorgender Ehemann. In den zwölf Jahren, in denen meine Oma Alzheimer hatte, zeigte sich sein ganzer Respekt, seine ganze Liebe zu seiner Frau. Trotz ihrer geistigen Abwesenheit sprach er mit ihr so wie früher, als sie bei klarem Verstand war. Er kochte Omas Lieblingsspeisen und kaufte ihr Kleider, die sie geliebt hätte. Bunte blumige Kleider mit tiefem Ausschnitt.

Opa hütete sie Tag für Tag. Er machte keinen Unterschied, ob Oma krank oder gesund war. Das alles hatte nichts damit zu tun, dass er Omas Pflegerinnen mal an den Po oder an den Busen griff.

Wenn wir nicht hinschauten, küsste er die jeweilige Pflegerin auf den Mund. Am liebsten die dickliche Anna, mit der er regelmäßig einkaufen ging. Opa sah anderen Frauen so selbstverständlich hinterher und herzte den jeweiligen Körperteil, der ihm gerade ins Auge stach, dass mir das in der jeweiligen Situation ganz normal vorkam.

Sogar einige von Mamas Freundinnen, die regelmäßig mit uns Schabbat feierten, wurden von ihm überrascht, gepackt und geküsst. Nach einiger Zeit küssten sie ihn verstohlen und mädchenhaft sogar freiwillig auf den Mund. Opa war irgendwie der Pate, er nahm sich, was er brauchte. Er nahm es sich so selbstverständlich und ohne Diskussion, dass keiner sein Verhalten je anzweifelte.

Opa kategorisierte meine Freundinnen in die grobe (die Dicke), die dare (die Dünne), die mise (die Hässliche). Ich glaube, mehr als ihren Körper hat er nicht gesehen.

Die Enkelin

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