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Als ich anfing, mich zu wehren Cheyenne Ochsenknecht
ОглавлениеEin verregneter Dienstagmorgen in Berlin Ende März. Es ist kurz nach 10 Uhr, als ich endlich einen Parkplatz gefunden habe. Zuerst hatte ich Mamas Auto direkt vor der Polizeiwache unweit des Alexanderplatzes geparkt, aber die Polizeibeamten wiesen mich freundlich darauf hin, dass hier nur Einsatzwagen parken durften. Schade, dabei wäre der Parkplatz perfekt gewesen. Aber so nehme ich den prasselnden Regen, die Kälte und den verlängerten Fußweg in Kauf und gehe quer über den bereits ziemlich belebten Platz mitten auf das ockerfarbene Gebäude mit der Nummer 35 zu.
Ich habe nicht sonderlich gut geschlafen. Klar bin ich etwas angespannt. Es ist ja nicht so, dass eine Vorladung zu einer Zeugenaussage etwas Alltägliches ist. Trotzdem fühle ich mich nicht unsicher oder bin ängstlich, als ich mich dem Gebäude nähere. Im Gegenteil: Während ich durch den Regen laufe, fühle ich mich mit jedem Schritt stärker und selbstbewusster. Ich will heute mehr als einfach nur aussagen, was mir widerfahren ist. Ich will ein Zeichen setzen. Nicht nur für mich, sondern auch für andere Betroffene.
In zügigem Tempo überquere ich die Mollstraße und biege rechts ab in die Keibelstraße, begleitet vom immer stärker einsetzenden Regen. Als ich eine Ampel überquere, kommt mir ein Mann mit grauer Aktentasche und schwarzem Hut entgegen. Vor meinem inneren Auge sehe ich plötzlich einzelne Nachrichten der vergangenen Wochen aus meiner Instagram-Inbox aufflackern.
»Hure!« – »Du hässliche Fotze mit deinen fetten Schlauchlippen.« – »Ich will dich totficken!«
Das sind Nachrichten, die sich bei mir eingebrannt haben. Die ich immer wieder bekomme. Nicht nur einmal. Nein, regelmäßig. Und jetzt, in dem Moment, wo ich die Straße in Richtung Polizeistation überquere, kommen die Nachrichten wie böse Geister der Vergangenheit wieder hervor. Die Verfasser der Hassnachrichten benutzen Pseudonyme. Ihre Accounts haben sie meistens auf privat gestellt, sodass sie auf den ersten Blick unsichtbar sind. Sie fühlen sich sicher. Vielleicht ist er ja auch einer von denen, die mir in letzter Zeit geschrieben haben, denke ich mir, als der Mann mit der grauen Aktentasche und dem schwarzen Hut meinen Weg streift und mir im Vorbeigehen nett zulächelt. Vielleicht siehst du mich ja jetzt, hier im Regen auf dieser Kreuzung, lächelst mir freundlich zu, und wenn du zu Hause bist, schreibst du mir eine hasserfüllte Nachricht. Aus welchem Grund auch immer. Wäre doch möglich, dass du einer dieser Typen bist, oder nicht?
Ich schüttele mich wegen der Kälte, aber auch wegen der Gedanken in meinem Kopf, und die Nachrichten vor meinem inneren Auge verschwinden. Ich muss mich jetzt konzentrieren, denn ich habe eine Aufgabe. Ich will nicht mehr, dass Menschen, die andere im Internet mobben und so bösartig beleidigen, anonym bleiben. Verstecken ist ein Kinderspiel, aber ich will mich weder verstecken noch bin ich ein Kind. Ich will mich jetzt wehren. Viel zu oft wurde mir schon gesagt, ich soll diese Nachrichten »einfach« hinnehmen, aber wie kann ich es hinnehmen, wenn ich auf solch massive Art und Weise beleidigt und bedroht werde und den Kopf einziehen soll, anstatt mich zu wehren? Mein Wille ist an diesem Tag stärker denn je. »Ich will und ich werde mich wehren«, flüstere ich mir leise zu.
Nach einigen Metern bin ich an meinem Ziel angekommen. Polizeidirektion 5, Abschnitt 57 steht auf dem Schild des ockerfarbenen Gebäudes. Fest entschlossen drücke ich die Klingel. Nach einigen Sekunden ertönt eine verzerrte Stimme aus der Gegensprechanlage: »Polizeistation Berlin-Alexanderplatz, ja bitte?«
»Ochsenknecht«, antworte ich selbstbewusst und setze nach: »Cheyenne Ochsenknecht. Ich habe einen Termin um 10 Uhr. Es geht um die Vorladung zu einer Zeugenaussage bezüglich …«, ich schlucke kurz, »… bezüglich zweier Fälle von Cybermobbing, die ich gemeldet habe.«
Nach wenigen Sekunden öffnet sich surrend die Tür zur Polizeiwache. Ich gehe noch einmal in mich, atme tief ein und aus und trete dann ein. Ich bin froh, dass ich diesen Schritt an diesem kalten Märzmorgen mache. Ich hätte ihn früher nicht gemacht. Die Vergangenheits-Cheyenne hätte das, was in den letzten Wochen und Monaten passiert ist, einfach ausgesessen und ignoriert. »Ach, das ist doch nur wieder ein Idiot, der dich auf Instagram beleidigt hat«, hätte die Vergangenheits-Cheyenne zur Gegenwarts-Cheyenne gesagt und mich davon abgehalten, jetzt hier zu stehen und sich mit allen Mitteln des Rechtsstaats zur Wehr zu setzen. Aber in dieser Sache geht es um mehr als einen einzelnen Idioten. Es geht darum, heute und hier ein Zeichen zu setzen.
In der Polizeistation werde ich gebeten zu warten und verharre im Vorzimmer. Außer mir ist niemand hier. Ab und zu klingelt ein Telefon und gelegentlich gehen Türen auf und zu. Ich vernehme das leise Brummen einer Lüftung. Ansonsten herrscht eine nahezu gespenstische Stille. Ich setze mich auf einen der wenigen Besucherstühle mit schwarzem Sitzpolster, gehe aber nach wenigen Sekunden zu der plakatierten Wand gegenüber.
»Gesuchte Personen«, steht in dicker schwarzer Schrift auf dem Plakat, das an die Wand gepinnt ist. Mit dem Nachsatz: »In den folgenden Fällen bitten wir um Mithilfe und Hinweise zu gesuchten Personen.« Dabei geht es zum Teil um namentlich bekannte Straftäter, aber auch um die Identifizierung Unbekannter, zu denen uns lediglich Phantomzeichnungen oder Bilder aus Überwachungskameras vorliegen.
Darunter sind auf der linken Seite Menschen abgebildet. Oft sind es Aufnahmen von Überwachungskameras. Rechts daneben stehen die begangenen Verbrechen der Gesuchten: »Geldwäsche, Steuerhinterziehung, Raub, Totschlag.« Dafür werden sie gesucht und sind hier öffentlich abgebildet.
Während lediglich das Brummen der Klimaanlage den Raum akustisch ausfüllt, werde ich inmitten dieser allumfassenden Stille nachdenklich. Und was ist mit denen, die mir schreiben, dass sie mir »ins Gesicht pissen wollen«, und mich als »Nutte« beleidigen? Diejenigen, die mir und meiner Familie den Tod wünschen? Diese Menschen hängen hier nicht und werden es wohl auch nie tun. Sie sind nicht Teil der polizeilich erfassten und hier zur Schau gestellten Öffentlichkeit und keine einsehbaren Täter. Sie sind einfach anonyme Avatare, die mir bei Instagram schreiben. Sie sind nicht greifbar. Möglich, dass sie Zweitaccounts haben. Und somit eine zweite Identität.
Eine seltsame Vorstellung, denke ich mir, während eine Polizeibeamtin an mir vorbeigeht und ich wieder auf dem Besucherstuhl Platz nehme. Eine seltsame Vorstellung, dass es scheinbar wirklich Menschen gibt, die einerseits ein normales Leben, vielleicht eine Familie und ähnlich wie ich einen süßen liebenswerten Hund haben, und mir andererseits Hassnachrichten senden. Und dann ganz normal mit ihrem Hund Gassi gehen – so wie ich mit Cupcake.
Früher habe ich mich öfter gefragt, warum gerade ich solche Nachrichten bekomme. Das hat mich wirklich sehr lange beschäftigt. Warum ich? Diese Frage brannte sich in meinen Kopf ein, und ich suchte nach Erklärungen. Was hatte ich an mir? War ich am Mobbing vielleicht sogar selbst schuld? Was machte ich falsch?
Halt fand ich in diesen dunklen Stunden bei meiner Familie, insbesondere bei meiner Mutter. Sie hielt mich vehement von dem Gedanken ab, dass ich irgendeine Form von Schuld tragen würde, wofür ich ihr bis heute dankbar bin. Denn alles, was ich jemals tat, war, so früh wie möglich selbstständig zu werden und mein Leben in meine eigenen Hände zu nehmen. Den Stress in der Schule hinter mir zu lassen, die insgesamt vier Schulwechsel in Kauf zu nehmen und mir etwas Eigenes aufzubauen, auf das ich bis heute stolz sein kann. Eine Zeit lang dachte ich, wenn ich erst aus der Schule war, würde es einfacher werden. Mit dem Mobbing und mit dem Getratsche. Mit den Beleidigungen und dem Ärger. Aber eigentlich fing das Ganze ja erst nach der Schule an, beziehungsweise änderte sich. Es gibt keinen Termin, kein Datum, keinen besonderen Post, der dazu führte, dass auf einmal alles losging. Es war eher ein schleichender Prozess. Durch meine steigende Reichweite auf Instagram stiegen auch die Nachrichten, die ich bekam. Oft waren die Nachrichten positiv. Junge Mädchen, die in mir ein Vorbild sahen, oder Fans, die sich für die Produkte interessierten, die ich bewarb. Sicher waren immer auch einige negative oder abwertende Nachrichten dabei, aber das war relativ überschaubar. Aber irgendwann wurde es schlimmer. Direkter und asozialer. Die Hemmschwelle fiel. Bekam ich vor einem Jahr noch eine beleidigende Nachricht in einer Woche, wurden es auf einmal mehrere am Tag. Als Direktnachrichten, als Kommentare unter einem Foto – einfach überall. Mir wurden Messer-Emojis geschickt, mir wurde mit dem Tod gedroht und explizit beschrieben, wie man denn gedachte, mich zu vergewaltigen.
»Ochsenknecht? Cheyenne Ochsenknecht?«
Ich schrecke aus meinen Gedanken auf. Die Lüftung brummt noch immer. Am Ende des Flurs steht eine junge Polizistin mit Kurzhaarschnitt und lächelt freundlich. »Sie sind hier wegen Ihrer Zeugenaussage um 10 Uhr?«
Ich nicke bedacht.
»Etwas spät, oder?«, berlinert die Beamtin und grinst mich augenzwinkernd an.
Ich denke an die Suche nach dem Parkplatz und lächle verhalten zurück.
Freundlich setzt die Polizistin nach: »Na, dann folgen Sie mir doch bitte!«
Wenige Minuten später sitze ich in einem fast leeren Raum. An der Wand hängt ein einzelnes Präventionsposter gegen Gewalt an Jugendlichen. Mir gegenüber setzt sich die Polizistin auf einen Stuhl und schaut mich über ihren Schreibtisch hinweg an. Draußen prasselt weiter der Regen auf die Hauptstadt.
»So, Frau Ochsenknecht«, sagt die Beamtin. »Sie sind hier, weil Sie sich bei uns über die Internet-Wache der Polizei Berlin gemeldet habe.«
Ich nicke. Die Beamtin holt aus einer Schublade zwei Schnellhefter hervor. Aus den Augenwinkeln erkenne ich die Screenshots von Instagram, die ich bereits online eingereicht habe. Beleidigungen, direkt an mich.
»Nun, da Sie ja noch etwas jünger sind, habe ich mir erlaubt, Sie vorzuladen.« Die Polizeibeamtin schaut mich an. Es scheint ihr Ernst zu sein. »Denn ich glaube, es ist gut, wenn ich Ihre Aussage noch einmal hier aufnehme, damit wir das quasi schwarz auf weiß haben und der Sache nachgehen können.«
Ich nicke. Dafür bin ich hier.
»Also«, sagt die Polizistin. Sie klickt kurz mit der Maus auf ihrem Monitor, dann rückt sie ihre Tastatur näher an sich heran. Sie schaut mich an und hat ihre Finger auf die Tasten gelegt, um das, was ich ihr in den nächsten anderthalb Stunden erzählen werde, zu protokollieren. Ich blicke aus dem geschlossenen Fenster.
»Na dann, erzählen Sie mal!«
Ich bin eine Person des öffentlichen Lebens. Das liegt nicht nur an meinen Geschwistern und meinen Eltern und daran, dass man den Namen »Ochsenknecht« in Deutschland mit irgendetwas verbindet, sondern ich bin auch deshalb eine Person der Öffentlichkeit, weil ich über 240.000 Instagram-Abonnenten habe. Eine Viertelmillion Menschen, vornehmlich in Deutschland, folgen mir. 44 Prozent davon sind zwischen achtzehn und vierundzwanzig Jahre alt, 62 Prozent Frauen und 38 Prozent Männer. Wann immer ich die Frontkamera an meinem Smartphone aktiviere und über mein Leben berichte, weiß ich, dass viele Menschen mir dabei zusehen. Ich bin damit groß geworden, dass ich eine Reichweite habe. Nicht weil ich mit meinen Abonnenten geboren wurde, sondern weil ich mir diese aufgebaut habe. Trotzdem ist die Geschichte meiner gestiegenen Reichweite auch eine Geschichte des Anstiegs an Cybermobbing gegen mich.
Ich glaube, jeder Mensch hat eine andere Art von Zugang zu diesem Thema. Vielleicht seid ihr ja gar nicht selbst betroffen und wurdet noch nie von jemandem im Internet beleidigt oder runtergemacht. Aber bestimmt habt ihr einen Freund oder eine Freundin oder jemanden aus eurem erweiterten Freundeskreis, dem oder der das in irgendeiner Art und Weise schon mal passiert ist. Ich denke, das Thema Cybermobbing ist eines von diesen Themen, von denen man immer mal wieder hört, sich aber nicht direkt damit befassen will, wenn man nicht selbst davon betroffen ist. Ich finde aber, dieses Thema ist so wichtig, dass es jeden etwas angeht. Angenommen, ihr seid gar nicht selbst Opfer von solchen Attacken – seien es jetzt Beleidigungen über soziale Netzwerke oder Schulhof-Mobbing –, jemand aus eurem Freundeskreis aber schon eher, dann ist es umso wichtiger, dass ihr für eure Freunde da seid und ihnen das Gefühl gebt, ihn oder sie und ihren Kummer ernst zu nehmen. Nur so kann die Person sich euch gegenüber öffnen und mit euch darüber reden. Das ist sehr wichtig, damit Betroffene diese Problematik nicht in sich hineinfressen und so der Kummer noch größer wird.
Mich persönlich betrifft das Thema Cybermobbing seit einigen Jahren massiv. Zu fast jeder Uhrzeit, zu jedem Bild, zu jeder Story, die ich machte, bekam ich neben vielen netten Nachrichten auch krasse Sprüche und wurde heftig beleidigt. Versteht mich nicht falsch: Ich kann mit Kritik schon umgehen, und wenn jemandem ein Bild von mir nicht gefällt – dann ist das eben so. Ich will ja auch nicht jedem gefallen. Wozu auch? Und ich meine auch nicht Nachrichten, in denen so etwas drinsteht, wie: »Hey, das Kleid finde ich nicht so toll«, denn solche Nachrichten kriege ich ziemlich selten. Ich spreche von den Nachrichten, die wirklich beleidigend sind. Plumpe, massive Beleidigungen der übelsten Sorte. Anfang 2020 reichte es mir schließlich. Das neue Jahr startete direkt mit einer Menge fieser Anfeindungen, die auch im Bildteil (siehe Seite 159 ff.) abgebildet sind, und dann wurde es mir zu viel. Also erstellte ich auf Instagram einen Highlight-Ordner mit dem Titel »bullying«. Dazu machte ich einen Screenshot von besagtem Highlight-Ordner, postete diesen in meiner Story und schrieb dazu: »Ich kriege ungefähr jeden Tag Hassnachrichten und Anfeindungen und Beleidigungen von fremden Menschen … nicht nur über Instagram, sondern auch in der realen Welt. Das Thema belastet mich seit meiner Schulzeit, ich habe mich immer gegen Hate und Mobbing eingesetzt. Aber jetzt noch mehr als sonst. Ich werde jede einzelne gemeine Nachricht veröffentlichen, und wenn der Ordner voll ist, werde ich einen neuen machen. Ich werde noch mehr hinter diesem Thema stehen (Vorsatz 2020).«
In der nächsten Story nahm ich das Bild eines roten Schriftzugs, auf dem »Fuck off« stand, und schrieb darüber: »Ach ja. Falls ihr euch fragt: Warum? Ich möchte euch zeigen, dass es nicht immer positiv ist, in der Öffentlichkeit zu stehen, auch wenn man sich dafür entschieden hat, ist es ein Risiko voller Negativität und Positivität. Und ich glaube, da spreche ich für viele Menschen, die in der Öffentlichkeit leben.«
Als die Anfeindungen mir gegenüber immer fieser und gemeiner wurden und ich mehr und mehr darunter litt, lud meine Mama in Absprache mit mir ein Ansage-Video auf Instagram hoch. Ich wusste zu diesem Zeitpunkt bereits, dass es nicht reichte, einfach nur ein Highlight-Video für Instagram zu machen. Ich musste mehr tun. Es musste mehr passieren. Und so ging ich schließlich zur Polizei.
Bis zu diesem Gang, um das Thema Mobbing schließlich den Behörden vorzutragen, musste aber viel passieren. Denn das Thema Mobbing fing bei mir nicht erst an, als ich diesen Highlight-Ordner mit den persönlichen Anfeindungen auf Instagram erstellte. Das Thema war in meinem bisherigen Leben eigentlich immer da gewesen, nur eben in anderer Form, und hatte auch dann stattgefunden, als es noch kein Facebook, kein Instagram oder Ähnliches gegeben hatte, sondern als ich einfach ganz normal wie jedes andere Kind zur Grundschule gegangen bin.