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Die ersten Schulwechsel und der Sitzkreis
ОглавлениеAm Anfang meines vierten Schuljahres zog ich mit meiner Mama schließlich nach Berlin. Ich freute mich sehr auf die Stadt, die ich schon ein wenig kannte, weil Mama beruflich öfter dort war und mich immer mitgenommen hatte – außerdem hatten wir damals schon öfter Wilson dort besucht. Der Umzug nach Berlin war auch mit meine Entscheidung gewesen, denn als meine Mama mich eines Tages fragte: »Mensch, Cheyenne, wo würdest du denn gern wohnen?«, antworte ich ohne Umschweife: »Berlin.« Für mich war das alles ein großes Abenteuer und der Startschuss in ein neues Leben.
Mein erster Schulwechsel stand an, und ich besuchte eine Waldorfschule. Und auch wenn ich kurz dachte, hier würde es besser laufen: weit gefehlt. Das lag vielleicht auch an den Umständen. Das Konzept der Waldorfschule passte einfach nicht wirklich zu mir. Wir Schüler durften dort keine bunten Farben tragen … und kein Glitzer, außerdem keine Kleidungsstücke mit »schwierigen« Motiven. Schon damals interessierte ich mich, wahrscheinlich auch beeinflusst durch meine Mama, für Mode und fand es spannend und cool, mich zurechtzumachen und neue Klamotten auszuprobieren. Und mit etwa zehn Jahren hatte ich eine kurze Totenkopf-Phase. Ich mochte einfach Anziehsachen, auf denen ein Totenkopf darauf war, aber in der Schule wurde mir sehr schnell klargemacht, dass das hier nicht gestattet war. Mürrisch passte ich mich zunächst an, aber nach einigen Wochen langweilten mich die immer gleichen dunklen farblosen Sachen, in denen ich mich nicht wohlfühlte.
Irgendwann reichte es mir, und aus Trotz zog ich eines Tages also ein Sweatshirt mit hellem Glitzer und Totenkopf an. Zudem zog ich mir einen schwarzen Eyeliner über meine Augenbrauen. Ich wollte mich schön fühlen und mich ausdrücken und den anderen zeigen, dass ich mir etwas ausgesucht hatte, was mir gefiel. Aber als ich so in die Klasse kam, stellte mich meine Lehrerin zur Rede, und ich bekam Ärger. So rumzulaufen, wie ich es damals getan habe, war einfach ein No-Go. Jedenfalls wurde mir das so gesagt.
In der Schule herrschte eine seltsame Stimmung. Es gab keinen richtigen Teamspirit. Ich hatte auch vermehrt das Gefühl, dass die meisten Lehrer sich untereinander nicht wirklich mochten und die Lehrer den Kindern auch egal waren. Zudem passten die Waldorfschule und ich nicht wirklich zusammen. Jeden Mittwoch gab es kaltes Müsli, und ich lernte, meinen Namen zu tanzen. Das war nicht wirklich bereichernd oder inspirierend. Im Gegensatz zu den Erfahrungen davor kann ich aber nicht sagen, dass es hier einen einzelnen Schüler gab, der mich aggressiv und regelmäßig mobbte. Hier gab es keinen Anton. Vielmehr spürte ich aber eine Kälte, die durch die Flure zog. Es gab von keiner Seite irgendeinen Plan, mich in die Schul- oder Klassengemeinschaft zu integrieren. Immerhin kam ich aus einer anderen Schule und einer anderen Stadt. Das muss man sich einmal vorstellen: Ich war die Neue. Aber für die Lehrer war ich eben einfach da, und auch wenn es eine Waldorfschule war und das Konzept »Denken, Fühlen und Wollen« unterrichtet und neben fachlichen Kenntnissen auch praktische, soziale und künstlerische Werte vermittelt werden sollten, wachte ich jeden Morgen mit einem schlechten Gefühl in meiner Magengegend auf, betrat die Schule mit einem schlechten Gefühl und ging mit einem schlechten Gefühl wieder nach Hause.
Anderthalb Jahre schleppte ich mich so durch die Schule. Für mich und meine Mutter stand schließlich fest, dass es so nicht weitergehen konnte. Schließlich nahm sie mich runter, und ich wechselte 2015 auf eine neue Schule.
An den ersten Tag dort kann ich mich bis heute noch sehr gut erinnern. Die Schule, auf die ich wechselte, war eine Grundschule, die bis zur sechsten Klasse ging. Ich wechselte zur fünften und wollte danach entscheiden, wie es weiterging. An meinem ersten Schultag trug ich eine graue Jogginghose. Nicht aus Gemütlichkeit oder aus Style-Gründen. Nein, eher zum Schutz vor den Blicken der anderen. Die Sache ist nämlich: Seit ich zurückdenken kann, wurde mir von Außenstehenden gesagt, ich sei zu dünn. Viel zu dünn. Und weil ich schon damals diese Sprüche nicht mehr hören konnte, zog ich eine graue Jogginghose an. Damit, so dachte ich zumindest, konnten die anderen Schüler nicht sehen, dass ich dünne Beine hatte. Ich wollte mich verschleiern und bloß nicht auffallen.
Wenn ich heute daran zurückdenke, ist es schon seltsam, denn bevor ich irgendjemanden kennenlernte, war in meinem Gehirn schon direkt abgespeichert: Okay, die anderen Kinder werden dich gleich sehen, mustern und dann feststellen, dass du zu dünn bist. Tu irgendwas dagegen. Irgendwas!
Als ich in das Klassenzimmer kam, hatte ich sofort das Gefühl, alle würden mich anschauen. Aber vielleicht bildete ich mir das auch nur ein. Die Stühle waren zu einem Sitzkreis angeordnet, und in der Mitte stand ein einzelner Stuhl.
»Schön, dass ihr alle da seid«, sagte meine Klassenlehrerin, klatschte in die Hände und sah sich lächelnd im Raum um. Da standen wir nun. Zwanzig Fünftklässler an dieser neuen Schule in Berlin. Für viele war es wahrscheinlich der erste Schulwechsel, für mich bereits der zweite. Aber ich wollte mir nichts anmerken lassen. Vielleicht, so dachte ich es mir, würde ja jetzt alles einfacher und unkomplizierter werden. Ich war eine ganz normale Schülerin, eine von vielen. Hier würde ich vielleicht das erste Mal richtige Freunde finden. Das war nämlich noch so eine Sache, die ich bisher nicht wirklich gefunden hatte. Echte Freunde.
»Wie ihr seht, habe ich hier schon mal einen kleinen Stuhlkreis vorbereitet. Und weil wir uns noch nicht kennen, würde ich sagen, ihr stellt euch hier mal den anderen vor und dann dürfen Fragen gestellt werden. Cheyenne?«
Die Stimme der Klassenlehrerin riss mich aus meinen Gedanken. Woher kannte sie überhaupt meinen Namen? Sie lächelte mich an. »Wie wäre es, wenn du damit anfängst, dich vorzustellen?« Es folgte eine kurze Pause, in der die Lehrerin grinste und kicherte. »Na ja«, setzte sie wieder an und kicherte weiter. Dann fuhr sie lachend mit ihrem Satz fort: »Na ja, wobei, eigentlich kennen wir dich doch alle. Du bist ja hier unser kleiner Star, oder? Bei ›Die wilden Kerle 2‹ hast du doch auch schon mit deinen Brüdern mitgespielt. Das wissen wir doch alle hier!«, sagte sie und drehte sich nickend im Raum um. Ich war mir unsicher und rührte mich nicht. Worum ging es hier? Die Lehrerin trat an mich heran und sprach weiter: »Na, dann setz dich doch mal auf den Stuhl, ich bin mir sicher, hier haben alle eine Menge Fragen an dich!« Sie zwinkerte mir zu und deutete auf den Stuhl in der Mitte. Wie in Zeitlupe und unter den Augen der anderen ging ich wie ein Roboter auf den Stuhl in der Mitte zu und setzte mich. Um mich herum versammelten sich die anderen Schüler und nahmen Platz.
Was dann folgte, war eine fünfundvierzigminütige Fragerunde über mich und meine Brüder. Vor allem über meine Brüder Jimi und Wilson, die gerade mit der »Wilde-Kerle«-Kinofilm-Reihe einen enormen Erfolg hatten. Die erste Frage kam von einem Mädchen, die sich hektisch meldete.
»Ja, bitte, dann fang du doch an«, sagte die Lehrerin und bestärkte sie. Das Mädchen verschluckte sich fast, so aufgeregt war sie. »Wie geht es Jimi?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Gut.«
Dann die nächste Frage, diesmal von einem Jungen. Er schnipste mit den Fingern, und als er drangenommen wurde, rief er laut: »Wie ist das, wenn man berühmt ist?«
»Weiß ich nicht«, antwortete ich, zuckte mit den Schultern und wollte im Boden versinken. Ich wusste es wirklich nicht. Ich war ja nicht berühmt. Ich war einfach nur eine Fünftklässlerin, die ihren ersten Schultag genießen wollte, aber das hatte sich jetzt bereits erledigt. Ich blickte mich um, sah die sich meldenden Schüler, die irgendetwas fragen wollten, und die Lehrerin, die jeden Einzelnen drannahm und gar nicht bemerkte, dass sie mich wie ein Zootier vorführte.
So nahm die Fragerei ihren Lauf. Die gesamte Stunde lang. Erst ging es um meine Brüder, meine Eltern und dann wieder um meine Brüder. Die anderen Kinder fragten, wo ich wohnte, was ich gefrühstückt hatte, ob ich ein Autogramm von Jimi organisieren konnte, ob Wilson eine Freundin hatte und wie es meinen Eltern ging. All das musste ich beantworten. Ich kam mir vor wie auf einem Präsentierteller. Mit jeder Frage wurde ich trauriger und ruhiger und mein Blick wandte sich mehr und mehr dem geschlossenen Fenster zu. Meine Stimme senkte sich. Ich spürte, dass jede Frage, die aus dem Klassenraum kam, zwar an mich adressiert war, aber mich nicht meinte. Niemand hier wollte mich kennenlernen. Es ging nur um meine Familie, und ich verstand noch nicht so recht, warum. Das hier sollte doch mein Neustart werden. Ich hatte versucht, die schwierigen, schmerzhaften Erfahrungen der letzten Jahre hinter mir zu lassen, und jetzt saß ich hier im Raum und wurde mit Fragen gelöchert, die nichts mit mir zu tun hatten. Mit jeder Frage schwand in mir die Kraft zu antworten, und ich traute mich nicht zu fragen, ob nicht gleich vielleicht mal jemand anderes dran sei. Denn eigentlich wollte ich doch auch die anderen kennenlernen. Ich wollte Freunde finden und mich einer Klassengemeinschaft anschließen. Einfach ganz normal Zeit mit den anderen Kindern verbringen, spielen und lernen. Aber scheinbar war ich die Einzige, die das wollte. Wie benommen schaute ich auf die Uhr, die über dem Eingang der Klasse aufgehängt worden war, und betete, dass das alles hier bald enden würde. Dann die Erlösung. Es gongte zur Pause. Ich stand vom Stuhl auf. Ich war frei. Dieser Gong war befreiend.
»Alles klar, das war es. Jetzt bekommt ihr euren Stundenplan, und dann sehen wir uns morgen wieder«, sagte meine Klassenlehrerin freudestrahlend unter dem Gejubel der anderen Schüler, die alle ihre Stundenpläne vom Pult abholten und nach draußen stürmten.
Müde und traurig ging ich ans Pult und holte meinen Stundenplan ab. »Schön, dass du da bist, Cheyenne«, sagte die Lehrerin und lächelte mich noch an und setzte nach: »Das ist so toll und wertvoll, was wir alles heute von dir erfahren haben!«
Ich versuchte gar nicht erst zurückzulächeln. Ja. Für sie war es vielleicht schön, dass ich da war. Und dass sie etwas von mir oder von meiner Familie erfahren hatte. Sie konnte im Lehrerzimmer wahrscheinlich erzählen, dass »die von den Ochsenknechts« jetzt bei ihr in der Klasse war. Oder ihren Freunden und ihrem Mann. Aber was war denn mit mir? Schön, dass ich da war? Sie wusste doch überhaupt nichts von mir, und kennengelernt hatte ich auch niemanden. Und die anderen hatten ja auch mich nicht wirklich kennengelernt. Es war doch nur darum gegangen, sich ein Bild von mir mit nach Hause zu nehmen.
Ich war dort inmitten unter diesen Schülern und der Lehrerin gesessen, aber war gar kein richtiger Mensch gewesen, sondern einfach nur ein Name und ein sprechendes Lexikon für private Fragen. Die anderen hatten sich kein Bild von mir gemacht, sondern nur das Bild, das sie bereits von mir hatten, durch meine Aussagen ergänzen lassen. Und ich hatte schon jetzt das Gefühl, ich würde dieses Bild von mir zu keinem Zeitpunkt korrigieren oder geraderücken können.
Als mich meine Mama nach meinem ersten Schultag abholte, war das seltsam. Es war mein erster Schultag, und eigentlich sollte es ein guter, freudiger Tag werden. Ich hatte mich darauf eingestellt, dass heute alles gut werden würde, aber es war überhaupt nichts gut. Ich hatte das Gefühl, niemand hatte mich wirklich kennenlernen wollen, sondern nur eine Hülle – die Person in der Öffentlichkeit. Die Cheyenne, deren Brüder gerade einen Kinofilm gedreht hatten. Es war nicht um mich gegangen.
Viele Menschen wissen nicht, was es heißt, seit jeher, ob gewollt oder ungewollt, in der Öffentlichkeit zu stehen. Die meisten glauben wahrscheinlich, dass es doch toll sein muss. Aber wieso sollte es das sein? Ich hatte zu keinem Zeitpunkt die Möglichkeit, mich und meine Persönlichkeit vorzustellen. Mir wurde das Image der Öffentlichkeit aufgedrückt, und das war jetzt eben meine Rolle. Während die anderen Kinder eben normale Kinder waren, war ich halt »die da von den Ochsenknechts«, obwohl ich gerade einmal elf Jahre alt war und mein eigenes Leben noch vor mir hatte. So musste ich früh lernen, damit umzugehen, dass ich anscheinend eine Art Sonderling war. Und das lernte ich mit aller Brutalität an diesem ersten Schultag an meiner neuen Schule, an dem ich eigentlich dachte, dass hier alles einfacher und besser werden würde.
Trotzdem, und das will ich auch unbedingt betonen, habe ich meine Kindheit sehr geliebt. Meine Eltern haben mich auch immer sehr gut erzogen und beschützt, aber so etwas wie intensive Freundschaften hatte ich als Kind nicht wirklich. Und nach dem ersten Schultag an der neuen Schule, an dem ich insgeheim gehofft hatte, dass es jetzt vielleicht besser werden würde, war mir klar, dass ich auch hier keine Freunde fürs Leben finden würde.
Viele meiner heutigen Freundinnen und Freunde erzählen mir, dass sie ihre längsten Freunde schon seit der Grundschule oder noch früher kennen. Manche sogar aus dem Kindergarten. Ich kann bei solchen Gesprächen nicht mitreden, denn so was hatte ich nie. Gerade in jungen Jahren war das für mich alles andere als einfach. Später fand ich ein paar Freunde und Freundinnen. Allerdings musste ich hier auch relativ früh klarmachen, dass es eine Sache gab, über die ich sehr ungern sprechen wollte: meine Familie.
Meine Freunde akzeptierten das, und es war auch für sie in Ordnung, aber ein seltsames Gefühl blieb immer. So eine Ansage ist ja auch nicht unbedingt üblich, wenn man sich gerade kennenlernt: »Hey, ich bin Cheyenne, und es wäre cool, wenn wir nicht so viel über meine Eltern oder meine Brüder reden würden, okay?« Das klingt ja wirklich nicht sehr einladend, aber es war ein Selbstschutz. Dass das notwendig war, merkte ich, wenn ich mich mit mehreren noch Unbekannten verabredete und eine Person dabei war, die mich anstarrte. So fing es immer an. Und nachdem ich stundenlang schweigend angestarrt und beobachtet worden war, hieß es plötzlich wie aus dem Nichts: »Du bist die Ochsenknecht, oder? Wie geht es Jimi?!! Wann kommt sein neuer Film? Ich liebe ›Die Wilden Kerle‹ ja TOOOOTAL!!!«
Das tat mir nicht deshalb weh, weil ich den damaligen Kinoerfolg meiner Brüder nicht cool fand – im Gegenteil, ich bin nach wie vor mächtig stolz auf sie und auf das, was sie so früh schon geleistet hatten, aber es ging ja in dem Moment wieder nicht um mich. Ich war lediglich eine lebende Verbindung zu meinen Geschwistern, die zu diesem Zeitpunkt gerade in der BRAVO abgebildet waren und deren Kinofilm viele kannten. Keine leichte Ausgangslage, um »echte« Freunde zu finden.