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Ein Blick zurück – Mobbing in der Schule Cheyenne Ochsenknecht

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Blut. Ich spuckte Blut. Die grüne Wiese, auf der ich lag und mich schmerzverzerrt zur Seite drehte, färbte sich langsam, aber sicher rot. Ich hustete einzelne Speichelfäden aus. Ich bekam kaum Luft, und mir wurde schwarz vor Augen. Um mich herum war eine laute Geräuschkulisse, aber das nahm ich kaum wahr.

»Steh doch bitte auf!«, keuchte ich zum dritten oder vierten Mal, und aus meiner eigentlich sanften Stimme war mittlerweile ein gequältes Quietschen geworden. Es war die Wiese am Fußballplatz unweit des Schulhofs meiner Grundschule in München-Grünwald, und auf mir saß ein Junge, der eine Klasse über mir war. Es war das Ende der großen Pause, und wie fast immer hatte ich mich mit meinen Freundinnen oder denjenigen, von denen ich gedacht hatte, sie wären es, auf die Wiese nahe dem Fußballplatz gesetzt und geredet und gespielt. Bis diese andere Gruppe angekommen war, angeführt von dem Jungen, der gerade auf mir saß und Ärger machte. Wie genau das alles passiert war, wusste ich nicht mehr. Es hatte als Spaß angefangen. Aber die Situation war jetzt schon lange kein Spaß mehr. Der Junge auf mir wog wahrscheinlich doppelt so viel wie ich und zerquetschte mich gerade. Immer wenn er sich bewegte, hatte ich das Gefühl, meine Rippen wurden gebrochen. Mein Blick wurde glasig, und Tränen kullerten mir aus den Augen.

»Bitte, steh doch auf!«, rief ich mit letzter Kraft schmerzerfüllt und versuchte, mich von dem Jungen zu lösen, der mich als menschlichen Sitzsack benutzte, doch es gelang mir nicht. Meine Arme ragten wie blasse Streichhölzer unter seinem wuchtigen Körper hervor, sonst war ich komplett bewegungsunfähig. Aus dem Augenwinkel erkannte ich verschwommen mein Umfeld. Ich sah das hölzerne Fußballtor, das ein wenig mit Moos bewachsen war. Davor spielten einige Kinder, die sich aber auch mir und dem Geschehen zugewandt hatten. Direkt um mich herum stand meine Clique, meine Mädels, von denen ich nie so genau gewusst hatte, ob wir uns jetzt alle mochten oder eben nicht. Und jetzt, wo ich merkte, dass keiner etwas tat, sagte oder mir half und langsam alles dunkler und düsterer wurde – und der Druck auf meinen Brustkorb scheinbar bis ins Unendliche zunahm –, wusste ich, dass heute einer dieser Tage war, an dem sie mich nicht mochten. Keiner reagierte. Wie lange brauchte ein Mensch, bis er erstickte? Ich wusste es nicht. Alles, was ich wusste, war, dass meine Rippen schmerzten und ich das Gefühl hatte, gleich ohnmächtig zu werden.

»Bitte ...«, wimmerte ich unter dem Druck vom Gewicht des Jungen. Ich schaute auf das blutverschmierte Gras und versuchte, Luft zu holen, doch es gelang mir nicht. Es war ein warmer Frühlingstag in München, ich war neun Jahre alt, ging in die dritte Klasse, und ich hatte das Gefühl, jetzt war hier gleich alles vorbei.

Während ich nach Luft rang, hörte ich, wie der Junge, der auf mir saß, schallend lachte. Ich blickte noch einmal nach vorn und erkannte, dass sich von der Seite des Schulhofs eine größere Gestalt näherte. Mit einem Schlüsselbund in der einen und einem Pausenbrot in der anderen Hand. Es war einer der Lehrer. Ich spürte, wie der Druck von meiner Brust genommen wurde – der Junge war aufgestanden. Ich hustete, röchelte und zog ein wenig Luft durch meine Lungenflügel. Dann spuckte ich noch etwas Blut auf die Wiese. Gleichzeitig spürte ich einen Schmerz in meinem Mund. In dem Moment, als der Junge sich auf mich gesetzt hatte, hatte ich mir auf die Zunge gebissen, daher auch der blutige Auswurf.

»Was ist denn hier los?«, hörte ich die Stimme eines Lehrers aus der Ferne. Das Getuschel um mich herum verstummte. Ich setzte mich aufrecht hin und atmete tief ein und aus. Der Junge, der sich auf mich gesetzt hatte, zuckte mit den Achseln und trottete ganz langsam zu den anderen, die um mich herumstanden. Ich blickte zu meinem Lehrer hoch, der sah, wie ich auf dem Boden saß und weinte. Ich wischte mir über den Mund, und jetzt war auch auf meiner Handoberfläche Blut. Der Lehrer schaute erst mich und dann die anderen umherstehenden Kinder an. Den Jungen nahm er gar nicht wahr, und es schien auch so, als suchte er ihn nicht erst. Dann erhob er die Stimme und sagte: »So, jetzt ist aber auch gut! Die Pause ist vorbei! Geht bitte wieder in die Klassen, der Unterricht geht weiter.« Dann schaute er mich an und fragte: »Bei dir ist alles gut, oder?« Ich nickte und sagte: »Ja, ist alles gut«, während ich nur schwer Luft bekam und meine Rippen zu brennen schienen. Ich antwortete aus Reflex, nicht weil ich es wirklich glaubte. Aber ich kannte den Jungen und hatte keine Lust auf weiteren Stress. Denn morgen würde er wieder da sein. Und ich auch. Ich wollte vor den anderen nicht als Loser dastehen, als Petze, als Opfer. Deshalb nahm ich die letzten quälenden Minuten und den demütigen Fußweg zurück in die Klasse in Kauf. War halt so. Ich hatte Schmerzen in der Magengegend, und meine Zunge tat weh. Meine Freundinnen, die sich heute dafür entschieden hatten, nicht meine Freundinnen zu sein, gingen einige Meter vor mir. Es war, als wäre nichts geschehen, als wären die letzten quälenden Minuten einfach nicht passiert. Gemeinsam liefen wir alle vom Fußballplatz über den Schulhof zurück in die Klasse. Als ich mich in den Unterricht setzte, schmerzte mein Brustkorb noch immer. Meine Zunge hatte aufgehört zu bluten, aber eingetrocknetes Blut klebte an meiner Unterlippe. Ich setzte mich auf meinen Platz, und meine Klassenlehrerin betrat den Raum. Der Unterricht ging weiter. Mathe. Ich hatte Schmerzen.

Solche Situationen gab es in der Grundschule öfter. Aus Spaß wurde Ernst, aber der Ernst wurde nicht aufgearbeitet. Es »war dann eben so«. Ich war aber damals schon etwas kleiner und zierlicher, und mich belastete diese körperliche und psychische Erniedrigung sehr. Ich wurde zunehmend stiller und etwas scheuer, wenn ich die Schule betrat. Ich wusste auch manchmal nicht so recht, wem ich trauen konnte, da auch meine vermeintlichen Freundinnen sich manchmal auf die andere Seite schlugen oder mich nicht in Schutz nahmen.

Neben solchen einzelnen Aktionen, an die ich mich bis heute sehr bildhaft erinnere, gab es damals in der Grundschule aber noch eine Geschichte, die ich bis heute nicht vergessen habe und die auch den Grundstein dafür legte, dass ich mich in Schulen selten aufgehoben fühlte. Diese Geschichte ist eng an einen Jungen geknüpft, der dafür bekannt war, regelmäßig andere zu bedrohen und fertigzumachen. Dieser Junge hieß Anton. Er war von Anfang an in meiner Klasse, und es war bekannt, dass er aus schwierigen Verhältnissen kam. Nach Schulschluss fuhr er mit der Tram in ein nahe gelegenes Heim, in dem er betreut wurde und auch übernachtete. Dieser Junge war in der Schule sehr aggressiv und nutzte die große Pause und den Schulhof, um Krawall zu machen und andere Schüler der Grundschule zu schlagen und ihnen aufzulauern.

Ein beliebtes Ziel seiner zufälligen Aggressionen und Wutausbrüche war ich. Ich war für eine Neunjährige damals ziemlich klein und zierlich und auch nicht sehr selbstbewusst. Das war ja auch nicht einfach, schließlich hatte ich ja schon die Erfahrung gemacht, dass sich ältere Jungs auf mich draufsetzten und meine Freundinnen mir nicht wirklich zur Seite standen.

In seinen Augen war ich also ein einfaches Opfer, das sich nicht zur Wehr setzen konnte. Und so geschah es, dass er mich in den Pausen regelmäßig schlug, an den Haaren zog und anspuckte. Ich kannte ihn überhaupt nicht, und wir hatten ja auch keinen Kontakt. Nie hatte ich mich mit ihm unterhalten, aber ich wurde, vielleicht auch, weil ich mich nicht so gut wehren konnte, zu einem seiner Lieblingsopfer. Ich hatte solche Angst vor ihm, dass ich, bevor es zur Pause klingelte, manchmal noch länger im Klassenraum sitzen blieb.

»Cheyenne, es hat zur Pause geklingelt, geh an die frische Luft!«, sagte meine Klassenlehrerin, lächelte mich im leeren Klassenzimmer an und zeigte auf die Tür.

Die hatte ja keine Ahnung, was los war. Langsam und mit gequältem Gesichtsausdruck ging ich auf den Pausenhof. Ich wusste ja, was mich hier erwartete. Auf dem Schulhof war in der Pause immer viel los. Die Kinder spielten mit dem Hüpfgummi, malten mit bunter Kreide oder sprangen mit einem Ball herum. Manche spielten auch Verstecken oder Fangen. Es war ein richtiger Tumult, wie das eben nun mal in Grundschulen ist. Als Anton sah, wie ich auf den Pausenhof kam und scheu einen Schritt vor den anderen setzte, jagte er mir hinterher. Immer wenn ich vor ihm wegrannte, dachte die Pausenaufsicht wohl, das wäre ein Spaß. Ein Junge, der ein Mädchen jagt. Ein Fangen-Spiel. Aber für mich war das nie ein Spaß und auch nie ein Spiel. Ich hatte große Angst. Und selbst wenn Anton mir an einem Tag mal nichts tat, so war die Angst doch mein ständiger Begleiter auf dem Pausenhof.

Wenn er mich schließlich erwischt hatte, war das Prozedere fast immer das Gleiche. Der Junge zog mich in ein Gebüsch und schlug zu. Er trat nach, seine geballten Fäuste trafen mein Gesicht, und ich versuchte, mich mit Händen und Füßen zu wehren. Aber wenn ich das tat, zog er mich an den Haaren und spuckte mich an. Das tat weh und war demütigend zugleich.

Nach den ersten Attacken wurden die Lehrer auf ihn aufmerksam. Schließlich war ich ja auch nicht das einzige Opfer, auch wenn ich schon sehr im Fokus seiner Attacken stand. Er war ja bekannt dafür, ein Störenfried zu sein. Das Engagement meiner Lehrer hielt sich aber ziemlich in Grenzen. In meiner Erinnerung steht ein einzelner Lehrer mitten auf dem Pausenhof, isst einen Apfel und schaut gelangweilt durch die Gegend, während ich in einem Gebüsch liege und geschlagen werde, und kann gar nicht zwischen einem lustigen Versteckspiel und einer echten Bedrohung und echter Gewalt unterscheiden – und er hat auch nicht wirklich Interesse daran. Viel lieber will er seinen Apfel essen und eine ruhige Pause genießen.

Als andere Kinder der Pausenaufsicht schließlich sagten, was der Junge regelmäßig tat, wurde auch eingegriffen. Ich war kurz erleichtert, als ich in einer Pause mal wieder von dem Jungen ins Gebüsch gezogen und verprügelt wurde und im Hintergrund bemerkte, wie sich ein Lehrer näherte.

»Jetzt langt’s aba, Anton!«, sagte er in bayrischem Akzent und griff nach dem Jungen, der von mir abließ, es sich aber nicht nehmen ließ, mich zum Abschied noch anzuspucken. Ich wischte mir meine Tränen und seine Spucke aus meinem Gesicht. Anton trottete dem Lehrer, der einen Kaffeebecher in der Hand hielt, hinterher, drehte sich aber noch zu mir um und grinste fies.

Grins nicht so blöd, dachte ich mir. Jetzt kriegst du richtig Ärger, und dann war es das. Ab jetzt würde alles besser werden. Dachte ich zumindest.

Am nächsten Tag in der Schule läutete es wieder zur Pause. Anton war wieder da und machte da weiter, wo er am Vortrag unterbrochen worden war. Wieder zerrte er mich in ein Gebüsch und schlug zu. Ich versuchte, mich zu wehren, aber es gelang mir nicht. Dann rückte wieder ein Lehrer an. Derselbe wie vom Vortag, diesmal war er genervter als am Tag davor und sagte etwas lauter: »Jetzt langt’s aba, Anton.« Wieder trottete Anton dem Lehrer mit dem Kaffeebecher hinterher. Wieder drehte er sich um und grinste mich fies an. Ich spürte, wie mir der Atem stockte und ich wieder losweinte. Ich hatte das Gefühl, der Lehrer war genervt davon, dass er schon wieder seinen Kaffee nicht in Ruhe auf dem Pausenhof trinken konnte. Ich wurde einfach nicht ernst genommen. Die ganze Situation wurde nicht ernst genommen. Die Konsequenz für Anton war, dass er zum Direktor gehen und eine Strafarbeit schreiben musste. Aber das war ihm ziemlich egal. Ich weiß bis heute nicht, ob er seine Strafarbeit geschrieben hat, jedenfalls war er am nächsten Tag wieder auf dem Schulhof, und ich musste mal wieder die Flucht ergreifen. Für ihn gab es keine richtige Bestrafung, es war ihm einfach egal.

Neben diesen wirklich schlimmen körperlichen Sachen, die Anton getan hat, war es aber auch so, dass er zum Teil einfach gemein war und Kleinigkeiten durchzog, die wirklich nicht nett waren. Er versteckte liebend gern unsere Hausschuhe. Vor der Klassenzimmertür mussten wir unsere Schuhe ausziehen und in unsere mitgebrachten Hausschuhe schlüpfen. Das fand ich eigentlich immer ganz cool. Es gab mir das Gefühl, dass hier einige Regeln herrschten. Aber Anton warf nicht nur meine Schuhe, sondern auch die von anderen regelmäßig durch den Flur, sodass wir diese immer suchen durften. Aber Anton inte­ressierte das alles herzlich wenig.

Meine Mutter bekam das natürlich mit. Sie holte mich zu diesem Zeitpunkt immer von der Schule ab und fragte sich, warum ich seit Anfang des dritten Schuljahres so schlecht gelaunt war. Missmutig nahm ich hinten auf dem Kindersitz Platz und schaute aus dem Fenster.

»Hey, Cheyenne! Erzähl doch mal, wie war es so in der Schule? Wie war der Tag?«

Aber ich hatte keine Lust, von der Schule und vom Tag zu erzählen. Weil das Einzige, was ich vom Tag behalten hatte, meistens die Erinnerung an die Pause und die Schläge und die Demütigung von Anton waren. Also schwieg ich oft oder antwortete immer nur einsilbig.

»Hm, war okay« oder »Ja, war gut«, antworte ich und schaute dann aus dem Fenster. Nachdem sie mich eines Tages wieder von der Schule abgeholt und ich mal wieder ihre Frage nach dem Schultag mit »Hmm, ja, war gut« beantwortet hatte, lenkte sie den Wagen in eine Parkbucht unweit meiner Grundschule, drehte sich zu mir nach hinten um, sah mir tief in die Augen und sagte ganz ruhig: »Hör mal, Cheyenne. So geht das nicht weiter. Ich spüre doch, dass dich da irgendetwas bedrückt. Das geht doch schon seit ein paar Tagen so. Jetzt tu mir bitte den Gefallen und sag, was los ist. Du darfst es mir sagen. Es ist okay. Oder …«, sie fragte weiter, »hast du etwa Unsinn gebaut?«

Ich erschrak. Das hatte ich natürlich nicht. Also fing ich an zu erzählen. Ich berichtete von Anton und seinen Bedrohungen und von dem, was passiert war, und ließ kein Detail aus. Auch von der Angst, die ich manchmal hatte, zur Schule zu gehen, erzählte ich ihr. Auf einmal fügte sich Mamas Bild in ihrem Kopf, denn sie ahnte, dass da etwas in mir brodelte. Jetzt wusste sie, was Sache war.

»Und deine Lehrer«, fragte Mama, »sagen die nichts dazu? Was machen die denn?«

Ich zuckte mit den Achseln. »Also er musste zum Direktor und eine Strafarbeit schreiben, glaube ich.«

Meine Mama schüttelte fassungslos den Kopf. »Das darf doch nicht wahr sein!«, sagte sie, und wir fuhren weiter nach Hause. Kurz war ich unsicher, was jetzt passieren würde, und stand etwas neben mir. Meine Mutter aber reagierte pragmatisch, telefonierte mit der Schule und sagte, was Sache sei. Sie bat darum, auf mich aufzupassen, doch es passierte nichts. Das Ganze ging wieder von vorn los.

Anton wartete, und ich wurde drangsaliert. Meine Mutter fuhr auch persönlich zur Schule und sprach vor, aber auch das half nichts. Der Junge wurde nicht bestraft, und es gab kein klärendes Gespräch oder Ähnliches. Wenn er auf frischer Tat ertappt wurde, musste er nachsitzen oder eine Strafarbeit schrei­ben. Mehr nicht. An seinem Verhalten änderte er nichts, wieso auch? Die Zusatzaufgaben interessierten ihn nicht, und es schien ihm egal zu sein, bei etwas Unrechtem erwischt zu werden. Heute weiß ich, dass meine Mutter dieses Nicht-Handeln vonseiten der Schule wahrscheinlich an den Rand des Wahnsinns getrieben hat. Aber das muss man sich auch einmal vorstellen. Ihre Tochter wird quasi vor ihren Augen gemobbt und bedroht, und die Lehrer reagieren nicht. Ich bin mir sicher, das bereitete ihr damals viele schlaflose Nächte.

Einige Tage nachdem ein weiteres Gespräch mit den Lehrern zu keinem Ergebnis geführt hatte, holte sie mich wieder von der Schule ab. Es lief wie immer. Mal waren die Quälereien ausgeprägter, mal wurde ich in Ruhe gelassen. Am heutigen Tag war es wieder schlimm gewesen. Ich schwieg und schaute aus dem Fenster. Ich spürte eine tiefe Traurigkeit in mir und hatte resigniert. Ich hatte keine Lust, über den Tag zu reden, auch wenn meine Mama mich danach fragte. Das hier, so dachte ich, wird jetzt erst mal der Normalzustand sein. Vielleicht wird es ja besser, wenn ich die Schule abschließe, vielleicht aber auch nicht. Das war jetzt eben so.

Nach einigen Minuten hielten wir an einer roten Ampel. Vor der Ampel befand sich eine Tramstation. Ein einziger Junge stand dort und wartete auf die nächste Tram. Ich erkannte ihn sofort. Es war Anton. Ich zuckte zusammen, weil ich direkt wieder Bilder davon im Kopf hatte, wie er mich schlug und anspuckte. Ich rutschte etwas den Sitz hinunter und stieß einen leisen Schrei aus.

»Was ist?«, fragte meine Mutter und drehte sich um.

Ich sah sie an und ihre starken Augen gaben mir plötzlich Mut. »Das ist er!«, sagte ich und schaute nach vorn. »Da ist er!« Ich zeigte auf Anton, der an der Tramstation wartete.

»Okay«, sagte meine Mama.

Als die Ampel auf Grün schaltete, fuhr sie rechts ran und hielt an einer Busspur direkt neben der Station. Sie aktivierte das Warnblinklicht im Auto, löste ihren Gurt und meinte: »Okay, Cheyenne, du kannst hier sitzen bleiben oder mitkommen, mir ist es egal, aber ich kläre das jetzt.«

Diese Worte meiner Mutter gaben mir Kraft. Sie wollte sich kümmern. Als wir uns der Tramstation näherten, fuhr die Bahn gerade ein. Die Tür öffnete sich, Anton stand vorn und wollte gerade einsteigen, aber da kam Mama auf ihn zu. Die Tür stand noch offen, aber als der Tramfahrer sah, dass Mama zu Anton ging, machte er die Tür zu und ließ ihn nicht rein. Er schaute aus dem Fahrerhäuschen zu Mama, und es war klar, dass selbst der Tramfahrer den Jungen kannte. Er schien sogar hier Mist gebaut zu haben.

»Hi, ich bin die Mutter von Cheyenne«, sagte Mama direkt. »Ich glaub, ich habe mal was mit dir zu klären. Also, ich würde sagen, du gehst zu weit. Denn das möchtest du auch nicht, dass einer mit dir so umspringt, wie du es mit den anderen Kindern tust. Und deshalb will ich dich bitten, meine Tochter in Ruhe zu lassen. Und auch alle anderen Schwächeren in der Schule. Denn jetzt stehe ich hier, und ich bin größer als du.«

Mama machte eine Pause. In dieser Pause, in der eigentlich nichts geschah, passierte eine ganze Menge. Ich spürte, wie Anton kleiner wurde. Auf einmal wirkte er gar nicht mehr so bedrohlich. Er schaute geradeaus. Sein Mund stand offen. Hatte er etwa Schiss?

»Und ich glaube, ich könnte dir jetzt eine richtige Ansage verpassen. Ich denke aber, dass du ein intelligenter Junge bist, und ich vertraue darauf, dass du mich verstehst und auch weißt, dass du Mist gebaut hast, dass du zu aggressiv vorgehst. Und wenn du ein Problem hast: Ich bin jeden Tag an der Schule und hole meine Tochter ab. Komm zu mir, rede mit mir, wenn du etwas klären willst. Dann kann ich dir vielleicht helfen.« Mama lächelte.

Anton sagte nichts.

Er dachte wahrscheinlich, dass meine Mama ihn jetzt packen und anbrüllen würde, aber das Gegenteil war der Fall. Mama war nett, aber deutlich und zollte ihm den Respekt, den er von anderen nicht bekam.

Meine Mutter nickte und ging wieder nach vorn zum Tramfahrer, reckte den Daumen hoch und sagte: »Alles klar, Sie können weiterfahren.«

Die Tür schloss sich, die Tram fuhr weiter, und wir gingen zurück zum Auto.

»So«, sagte sie und setzte sich hinters Steuer, »das wäre jetzt erst mal erledigt.«

Diese Aktion an der Tramstation war wie eine Art Befreiungsschlag für mich. Ich hatte das Gefühl, jetzt passierte da wirklich etwas. Ich glaube, Anton war eingeschüchtert vom Auftritt meiner Mama. Bis dahin hatte er sich sicher gefühlt. Bei den Lehrern wusste er ja, dass nie etwas passierte und er mit seinem Mobbing und seinen tätlichen Angriffen mir gegenüber durchkam. Oder anders gesagt: Er konnte sich eben darauf einstellen. Der Ablauf war immer derselbe. Er wurde ins Lehrerzimmer geholt, bekam Ärger, musste im schlimmsten Fall eine Strafarbeit schreiben, die er sowieso nicht schrieb, und am nächsten Tag ging es dann weiter. Er fürchtete die Konsequenzen nicht, weil er damit rechnete und sie fest einplante. Dass meine Mama irgendwann auftauchen und ihn zur Rede stellen würde, damit hatte er sicher nicht gerechnet. Und vielleicht hatte diese Aktion ihm auch erstmalig einen Spiegel vorgehalten, und er dachte darüber nach, was er falsch gemacht hatte. Vielleicht nicht direkt, sondern einige Stunden später, als er sich von dem Schock erholt hatte, dass eine erwachsene Frau, meine Mutter, ihn abgepasst hatte.

Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, glaube ich, dass meine Mama ihm damals einfach ein Stück Lebensrealität gezeigt und ihm beigebracht hat, dass alles, was er tut, eine Auswirkung und eine Konsequenz hat. Von sich aus wäre ihm das sicherlich nicht aufgefallen, und die Lehrer hatten auch kein Interesse bewiesen, ihn hierüber aufzuklären. Und das ist ja die eigentliche Tragik. Ich meine, sicherlich war Anton nicht nett zu mir und zu anderen, aber dadurch, dass ihn keiner auf sein Verhalten hinwies, gab es eben auch keine Möglichkeit zur Einsicht. Ihm machte es ja Spaß, andere zu mobben und fertigzumachen, und er verstand einfach nicht, dass er mit seinem Verhalten andere verletzte. Dadurch, dass meine Mutter ihm so eine Ansage gemacht hatte, wurde ihm das, zumindest kurzfristig, klar.

Bestimmt war die Aktion von meiner Mutter pädagogisch auch nicht ganz korrekt, aber was hätte sie denn machen sollen? Von den Lehrern war wenig gekommen, und eigentlich hat sie ihm ja auch nichts getan, außer mit ihm zu sprechen. Sie hatte ihn nur spüren lassen, dass ich nicht allein war und er mich nicht einfach so behandeln konnte. Es war die letzte Möglichkeit gewesen, die Mama nach all den Wochen und Monaten, in denen sie die Schule angerufen hatte und sogar hingefahren war, gesehen hatte, und die einzige Maßnahme, die wirklich langfristig etwas bewegt hatte.

Wehr dich!

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