Читать книгу Deutscher sein !? - Christer von Lindequist - Страница 6
I. Die Ruhe vor dem Sturm
ОглавлениеDas Licht der Sonne blendete ihn, als sich die Tür zum Rollfeld öffnete. Gleißendes Licht schien hindurch. Seine Augen hatten sich an die Dunkelheit der langen Gänge gewöhnt, die sie bis hierhin durchquert hatten. Schemenhaft erkannte er im Gegenlicht die Umrisse eines Helikopters. Die Rotorblätter begannen sich langsam zu drehen, wie ein schläfriger Drache, der seine Flügel streckt.
„Wollen wir?“
Herr Schulze-Wegener, der Pressesprecher des Bundespräsidenten, lächelte ihn an und machte eine einladende Bewegung in Richtung des schläfrigen Drachen. Von Wollen konnte keine Rede sein. Am liebsten wäre er die Startbahn entlang in die untergehende Sonne gelaufen, aber das Einsatzteam der GSG 9, das ihn bis hierher begleitet hatte, hätte ihn sicher daran gehindert. Widerstand war zwecklos. Er fühlte sich allein und etwas hilflos. Zumindest trug er keine Handschellen mehr.
Er hielt sich eine Hand vor Augen und folgte einem der Polizisten. Unter anderen Umständen wäre es ihm eine Ehre gewesen, den Hubschrauber des Bundespräsidenten zu besteigen. Aber das mulmige Gefühl, sein Schicksal nicht selbst in der Hand zu haben, wollte seinen Bauch nicht zur Ruhe kommen lassen. Noch wusste er nicht, dass seinetwegen die ganze Republik zum Stillstand gekommen war.
Die Kabine des Helikopters war sehr geräumig, wie ein Arbeitszimmer mit kleinen Bullaugen, einem Tisch und sechs komfortablen Ledersesseln. Ein weiterer Mann in Uniform, vermutlich der Kopilot, wies ihm einen Platz zu und bedeutete ihm, sich anzuschnallen und einen der großen Lederkopfhörer aufzusetzen.
„Fehlt nur noch eine Stewardess, was?“
Herr Schulze-Wegener hatte neben ihm Platz genommen. Seine Kommentare wurden nicht besser. „Schulze“, wie alle ihn nannten, tat ihm irgendwie leid. Er war als Wachhund für ihn abgestellt worden. Doch Schulze hatte mehr von einem Schoßhündchen als von einer Bulldogge.
Sie hatten zusammen lauwarme Pizza gegessen. Auch die lag ihm schwer im Magen. Es war keine gute Idee, etwas zu essen, wenn man leichte Flugangst hatte und dann in einem Hubschrauber unterwegs war. Aber Schulze hatte ihm versichert, es sei wie Busfahren in der Luft. Er setzte seinen Kopfhörer auf. Der Lärm von draußen war nun deutlich zu hören und machte ihn zusätzlich nervös. Seine Fensterscheibe vibrierte leicht. Der Pilot drehte sich zu ihm um, hob seinen Daumen und lächelte. Dann setzte sich der fliegende Bus langsam in Bewegung. Die Vibrationen wurden schwächer. Langsam gewannen sie an Höhe.
Durch das Fenster der Kabine sah er zum ersten Mal den Menschenauflauf am Ende der Startbahn von Tegel. Das Dröhnen der Rotoren war zu laut, um den Jubel der Menschen zu hören, aber er las die Worte „Patriot“, „Freiheit“ und „Skandal“ auf mehreren Transparenten, die unter frenetischem Beifall in den Himmel gehalten wurden. Ein Wall aus grünen Polizeitransportern schützte die Zufahrt zum Flughafen.
„Mit dem Auto kommen Sie keine zwanzig Meter weit!“, hatte der Polizeichef gesagt.
„Am sichersten ist der Hubschrauber!“
Gespannt hatte er den Erläuterungen des Polizeichefs zugehört. Die Situation in Berlin war am Vormittag eskaliert, ohne dass er davon etwas mitbekommen hatte. Polizei und Demonstranten hatten sich auf der Leipziger Straße eine massive Straßenschlacht geliefert, mit zahlreichen Verletzten und hohen Sachschäden am Potsdamer Platz. Der Verkehr im Zentrum war komplett zum Erliegen gekommen. Zu viele Menschen waren auf die Straße gegangen. Sogar mehr als beim Fall der Mauer. Viel mehr. Aus ganz Deutschland waren sie in langen Autokorsos nach Berlin gefahren. Niemand wollte diesen historischen Moment verpassen.
Er machte sich Vorwürfe, weil er wusste, dass er zwar nicht der Grund, aber der Auslöser für die Demonstrationen gewesen war. Viele sahen in ihm einen lebendigen Märtyrer.
Die Regierung hatte ihm keine direkten Vorwürfe gemacht. Sie wollte seine Bedeutung in diesem politischen Pokerspiel nicht höher bewerten als nötig. Er sollte nur ein kleines Rad in diesem Getriebe bleiben. Insgeheim hoffte der Bundeskanzler, dass er der Schlüssel für eine friedliche Lösung sein konnte. Ihm war jetzt klar, warum sie ihn verhaftet hatten, aber eine Entschärfung der Situation war ohne das Einlenken der Regierung nicht möglich.
Oder doch? Er schloss die Augen, um besser nachdenken zu können.