Читать книгу Einführung in die evangelische Dogmatik - Christian Danz - Страница 11

2. Die Krise der altprotestantischen Dogmatik in der Aufklärung

Оглавление

Alt- und Neuprotestantismus

Die dogmatischen Lehrentwürfe des alten Protestantismus des 16. und 17. Jahrhunderts bieten eindrucksvoll geschlossene systematische Darstellungen des theologischen Stoffs mit einem hohen normativen Anspruch. Die theologische Dogmatik gab nicht nur die Glaubensgehalte vor, die von dem Einzelnen anzueignen und zu glauben waren, sondern sie konstruierte auch ein umfassendes verbindliches normatives Leitbild des Gemeinwesens. Die soziologischen Voraussetzungen dieser Form von theologischer Dogmatik liegen in einer noch wenig ausdifferenzierten gesellschaftlichen Einheitskultur, in der sich Religion und Sozialität stark durchdringen. In der europäischen Aufklärung kommt die altprotestantische Darstellung des theologischen Stoffs jedoch in eine fundamentale Krise. Die Gründe für diese Entwicklung sind außerordentlich komplex und vielschichtig, so dass eine rein binnentheologische Betrachtung, etwa der Lehrentwicklung, zu kurz greifen würde. Die in der frühen Neuzeit einsetzende und sich zunehmend beschleunigende gesellschaftliche Ausdifferenzierung wirkte im Zeitalter der europäischen Aufklärung in der Form auf die protestantische Universitätstheologie zurück, dass deren völlige Umbildung notwendig wurde. Die an die Aufklärung anknüpfende protestantische Theologie unterscheidet sich grundlegend von der protestantischen Theologie des 16. und 17. Jahrhunderts, so dass man in der Theologiegeschichtsforschung zu Recht zwischen einem Alt- und Neuprotestantismus (Ernst Troeltsch) unterscheidet (siehe: [130]; [6]). Während der Altprotestantismus eine kirchlich geleitete Einheitskultur voraussetzte, zeichnet sich der Neuprotestantismus dadurch aus, dass er sich konstruktiv auf die veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen einlässt. Wissenschaftsgeschichtlich sind es vor allem zwei Aspekte, die in Folge der veränderten gesellschaftlichen Lage zur Krise der Dogmatik in der Neuzeit geführt haben: zum einen die Herausbildung und Einführung der historischen Kritik in die protestantische Theologie und zum anderen die erkenntnistheoretische Kritik an der überlieferten Metaphysik und der auf diese aufbauenden theologia naturalis (natürliche Theologie). Beide Aspekte zusammen führten zu einer vollständigen Umbildung der dogmatischen Theologie, und zwar sowohl im Hinblick auf deren methodische Grundlegung als auch ihre Geltungsdimension.

Historische Kritik

Die Herausbildung der historischen Kritik und deren Anwendung auf die biblischen Grundlagen des Christentums ist eine Folge der Veränderungen des wissenschaftlichen Weltbilds in der frühen Neuzeit und sie vollzog sich nur schrittweise. Ihre Etablierung resultiert aus der zunehmenden Wahrnehmung der kulturalen Differenz zwischen der eigenen Gegenwart und der Bibel. Die Erfassung dieses zeitlichen Abstands führte in der protestantischen Theologie dazu, dass die Bibel in ihrem historischen Entstehungszusammenhang erforscht wurde. Für die theologische Dogmatik des Protestantismus ist mit dieser Entwicklung eine einschneidende Konsequenz verbunden. Sie besteht in der vollständigen Auflösung der methodischen Grundlage der dogmatischen Theologie des Altprotestantismus, nämlich der Lehre von der Heiligen Schrift.

Erkenntnistheoretische Kritik

Die überlieferte theologische Dogmatik wurde jedoch nicht nur durch die historische Kritik umgeformt, sondern auch durch die erkenntnistheoretische an der theologia naturalis (natürliche Theologie). Die Theologie des alten Protestantismus zeichnete die aus der Bibel gewonnene Offenbarungstheologie (theologia revelata) in den Rahmen einer natürlichen Theologie ein. Der natürlichen Theologie zufolge hat jeder Mensch von Natur aus ein Wissen um Gott und die göttlichen Dinge. Durch die Erkenntniskritiken von David Hume (1711–1776) und Immanuel Kant (1724–1804) wurde dieses natürliche Wissen des Menschen um die göttlichen Dinge einer vernichtenden Kritik unterzogen und der Bereich geltender Erkenntnis auf den Bereich der Erfahrung restringiert. Dadurch wurde sowohl der Bezugsrahmen der überlieferten Dogmatik als auch der Gottesgedanke als Abschlussgedanke der klassischen Metaphysik destruiert.

Das Zusammenspiel von historischer und erkenntnistheoretischer Kritik hat der überlieferten altprotestantischen Form der theologischen Dogmatik vollständig den Boden entzogen, so dass ein Umbau der Dogmatik notwendig wurde. Dadurch sollte in der Theologie auf die veränderten Erkenntnisbedingungen in der Moderne konstruktiv reagiert werden. Dies geschah in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durch eine Professionalisierung und Verwissenschaftlichung der Theologie. Zwar hat sich auch die Theologie des alten Protestantismus als Wissenschaft verstanden und methodisch gearbeitet, aber im Zuge der Entstehung des historischen Bewusstseins und der Professionalisierung des Wissenschaftsbetriebs seit ca. 1770 kommt es in der protestantischen Theologie zur Ausbildung eines Verständnisses von Theologie, das sich explizit als Fachwissenschaft versteht. Mit der Etablierung dieses gegenüber dem Altprotestantismus neuen Verständnisses von Theologie wird die von der alten Dogmatik vorgenommene Identifizierung von Theologie und Religion aufgelöst. Damit wird aber auch das überlieferte Verständnis von Theologie als ‚Gottesgelehrsamkeit‘, deren Voraussetzungen in der persönlichen Frömmigkeit des Theologen liegen, hinfällig. An die Stelle des überlieferten Theologiebegriffs, welcher an der Lutherischen Maxime oratio, meditatio, tentatio faciunt theologum orientiert ist, tritt ein Verständnis von Theologie als professioneller Fachwissenschaft, die als Wissenschaft von der gelebten Religion unterschieden ist. Die Unterscheidung von Theologie und Religion, die für den modernen Protestantismus geradezu konstitutiv ist, wurde von dem Halleschen Theologen Johann Salomo Semler (1725–1791) in die Theologie eingeführt. Semler unterschied im Interesse an der Ausarbeitung einer zeitgemäßen Theologie zwischen Theologie als professioneller Fachwissenschaft, die bestimmte Kenntnisse und Fertigkeiten voraussetzt, und der gelebten Religion und unterzieht die von der altprotestantischen Dogmatik vorgenommene Identifizierung von Dogmatik und Religion einer scharfen Kritik ([74], S. 160–179; [153]). Durch die Identifizierung von Religion und Theologie, welche Semler zufolge nach Melanchthons Tod in der protestantischen Theologie eingetreten sei, werden Theologie und dogmatisches Lehrsystem selbst in den Rang von verbindlichen Glaubensartikeln gehoben.

Dogmatik zwischen Wissenschaft und Glaubenslehre

Die Unterscheidung von Theologie und Religion führt zu einer Neubestimmung der beiden Begriffe. Semler selbst versteht die Theologie als Fachwissenschaft, welche als solche stets veränderlich und damit entwicklungsfähig ist. Im Unterschied zur Theologie gehört die Religion dem praktischen Leben an. In der individuell wahrgenommenen Religion konzentriert sich für Semler der übergeschichtliche Wahrheitsanspruch der christlichen Religion. Durch die Unterscheidung von Theologie und Religion wird die Theologie nicht nur professionalisiert, sondern auch im Interesse ihrer konstruktiven Weiterentwicklung angesichts sich ändernder gesellschaftlicher Rahmenbedingungen von religiösen Wahrheitsansprüchen entlastet. Damit wird von Semler auf der Grundlage der Einbeziehung des historischen Denkens die Theologie als eine historische wissenschaftliche Disziplin verstanden, der die Aufgabe obliegt, die gelebte Religion über sich aufzuklären. Die auf dieser Grundlage konzipierte theologische Dogmatik kann dann freilich auch nicht mehr als eine Wissenschaft verstanden werden, die ein überzeitliches göttliches Wissen systematisiert. Aus ihr wird eine als Theorie subjektiver Frömmigkeit verstandene Glaubenslehre.

Historismus

Dieser Wandel im Selbstverständnis der Theologie und der theologischen Dogmatik, durch den den sich ändernden soziokulturellen Bedingungen auf eine konstruktive Weise in der Theologie selbst Rechnung getragen werden soll, etabliert ein Verständnis der Dogmatik als einer geschichtlich bedingten und folglich wandelbaren Disziplin. Diese mit Semler einsetzende Historisierung der theologischen Dogmatik führte am Ende des 18. Jahrhunderts in den unterschiedlichen theologischen Lagern zur Herausbildung von biblischen Dogmatiken, die von der kirchlichen Dogmatik mit höchst unterschiedlichen Intentionen unterschieden werden (vgl. [71], S. 23; [38]; [39]; dazu: [82]).

Während die Einbeziehung der historischen Forschung in die Theologie zur Ausdifferenzierung der Theologie in unterschiedliche Einzeldisziplinen und zur Historisierung der sich nun als professionelle Fachwissenschaft verstehenden Theologie führte, war mit der Auflösung der überlieferten theologia naturalis eine andere Konsequenz verbunden. Die erkenntnistheoretische Kritik an der natürlichen Theologie führte am Ende des 18. Jahrhunderts zur Ersetzung der Metaphysik als methodischer Grundlage der Theologie. Deren Erbe trat die Religionsphilosophie an, die sich als Folge der erkenntniskritischen Auflösung der überlieferten natürlichen Theologie im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts als eigenständige akademische Disziplin etablierte. Allerdings wäre die Entstehung der Religionsphilosophie missverstanden, wollte man sie als eine bloße Ersetzung der natürlichen Theologie oder deren Fortführung mit anderen Mitteln verstehen. Mit der Konzeption von Religionsphilosophien am Ende des 18. Jahrhunderts sind gegenüber der überkommenen natürlichen Theologie völlig neue Fragestellungen und methodische Verfahren verbunden. Die Religionsphilosophie beschreibt nämlich nicht mehr wie die theologia naturalis und die Dogmatik des Altprotestantismus jenseitige metaphysische Gegenstände, sondern das Gottesbewusstsein des Menschen.

Begründung der Religionsphilosophie

Die sich infolge der modernen Erkenntniskritik als methodischer Grundlage der modernen Theologie etablierenden Religionsphilosophien knüpfen mit der Erfahrungsbezogenheit der Religion sowohl an genuin reformatorische Motive als auch an die von Semler vorgenommene Unterscheidung von Theologie und Religion an. Semler, dem der neuere Protestantismus die Unterscheidung von Theologie und Religion verdankt, differenzierte auch den Religionsbegriff weiter aus. So unterschied er zwischen historischer und moralischer Religion einerseits und Privatreligion und öffentlicher, gesellschaftlicher Religion andererseits. Mit dieser religionssoziologischen Unterscheidung versuchte Semler, die voranschreitende Ausdifferenzierung und Individualisierung der Gesellschaft in sein Religionsverständnis aufzunehmen. Während die öffentliche Religion den kirchlichen Lehrbegriff umfasst, wie er in den symbolischen Büchern der jeweiligen Kirchen verankert ist, zielt die Privatreligion auf die eigene Einsicht und Überzeugung des Christen und ist vom Bildungsstand des Individuums abhängig. Die Unterscheidung der Religion von der Theologie, die von Semler im Interesse der Emanzipation und Stärkung der gelebten individuellen Religion vorgenommen wird, zeitigt Konsequenzen für die theologische Dogmatik. Sie wird zu einer Theorie der protestantischen Religion, der die Aufgabe obliegt, unter den veränderten Bedingungen der Moderne die Identität des Christentums zu beschreiben.

Einführung in die evangelische Dogmatik

Подняться наверх