Читать книгу ANNA - Christian Ehrhorn - Страница 10
ОглавлениеKapitel 3
Die Feinde
Drei Wochen waren seit dem Entschwinden von Frank vergangen. Noch immer bekam Anna den Anblick nicht aus dem Kopf, welcher sich ihr bot. Die kleinen Blutspritzer an der blassorangenen Wand hinter dem Bett. Das weiße Laken, das in Fetzen über die Matratze hing und wirkte, wie von einem wilden Tier zerrissen. Ihr hallte das Bellen der Hunde in den Ohren, mit deren Hilfe die Suchmannschaften den Ort durchkämmten. Ebenso das Rattern des Polizeihubschraubers, der mithilfe einer Wärmebildkamera die Wälder und Felder absuchte.
Sie erinnerte sich an Kommissar Köster. Den großen kräftigen Mann, mit dem tiefschwarzem Haar, den hellbraunen Augen und der langen Narbe auf der linken Wange, der ihr mit seiner beruhigenden tiefen Stimme Fragen zum Verbleib ihres Bruders stellte. Insbesondere das Rollen des R fiel ihr auf, wenn er sprach. Hörte er ihr zu, schrieb er Notizen auf einem kleinen Block und rieb sich den fein gestutzten Bart, der rund um seinen Mund verlief.
»Hast du Irgendetwas ungewöhnliches gesehen oder gehört? In der letzten Nacht? Oder davor?«, hatte Kommissar Köster sie gefragt.
»Nein!«, fiel Annas Antwort knapp aus.
Sie blickte zurück auf die Schrift aus Asche, auf das ausgeschaltete Nachtlicht, das Knarren und Knacken des Bodens im Flur. Und an die weiße Gestalt. Doch was sollte sie dem Kommissar erzählen? Würde er ihr abkaufen, dass sie davon überzeugt sei, ihr Bruder wäre von einem Monster verschleppt worden? Einem Monster, welches sie bereits vor 10 Jahren heimsuchte.
Anna war bewusst, es würde sich alles verrückt anhören. Vielmehr würde sie sich selber mit solch skurrilen Aussagen verdächtig machen. Und so behielt sie es für sich.
»Hatten du oder deine Mutter Streit mit deinem Bruder gehabt? Weißt du einen Ort, an dem er sich verstecken könnte?« Kommissar Köster bohrte weiter nach.
Anna zuckte mit den Schultern. »Vielleicht bei seinem besten Freund…«
Der Polizist unterbrach sie. »Tom Zier, das haben wir schon überprüft. Dort hält er sich nicht auf. Fällt dir noch etwas anderes ein?«
Sie schüttelte den Kopf.
Anna erinnerte sich, wie ihr ein kalter Schauer über den Rücken lief. Wie sie aus dem Augenwinkel das grelle Weiß der Schutzanzüge sah. Und das Knistern des beschichteten Stoffs hörte. Wie in einem Flashback schossen ihr die Bilder des weißen Monsters in den Sinn. Ließen sie innerlich zusammenzucken. Immer wieder huschten die Männer und Frauen der Spurensicherung durch das Haus, während Anna mit dem Kommissar im Wohnzimmer sprach.
Sie erinnerte sich auch an ihre Mutter, in ihrem weißen Nachthemd mit rosa Punkten. Wie sie gedankenverloren mit glasigen Augen auf ihrem Bett saß, unfähig ein Wort zu sagen. Und an den älteren glatzköpfigen Mann mit der blauen Weste, auf der »Polizeiseelsorge« geschrieben stand, der bei ihr saß.
Natürlich sinnierte sie auch oft über ihren Bruder. Das Lieblingskind ihrer Mutter. Wie Anna es nervte, dass sie Frank immer so sehr verhätschelte. Und ihr im Gegenzug kaum Beachtung schenkte. Lebten sie in einem Märchen, hätte Frank den Part des verwöhnten Prinzen innegehabt, dem jeder Wunsch von den Augen abgelesen wurde. Anna hingegen wäre die ungewollte Stieftochter, die man in das Verlies eines finsteren Turmes gesperrt hatte.
Anna verabscheute es zu sehen, wie sehr Frank es genoss, im Mittelpunkt zu stehen und die Privilegien zu genießen, die sie nie bekommen hatte. Wie oft er sie mit Schimpfwörtern wie »dumme Nuss« oder »blöde Kuh« belegt hatte.
Anna wunderte sich, dass es diese Unerträglichkeiten waren, die ihr am meisten fehlten. Frank brachte Leben in das Haus. Nerviges Leben. Aber es war immer noch besser als die Totenstille, die jetzt einen Großteil der Zeit im Haus herrschte. Anna vermisste sein dreckiges Lachen, nachdem er ihr mal wieder Zahnpasta unter die Türklinke schmierte. Sie trauerte dem Poltern und Donnern nach, wenn er seinen Fußball quer durch die Zimmer des Hauses kickte. Und sie sehnte sich regelrecht nach seinem Motzen, während er versuchte, seine Hausaufgaben zu erledigen.
Seit dem Verschwinden von Frank war Anna nicht mehr in der Schule gewesen. Man hatte sie freigestellt. Zu groß, glaubten die Verantwortlichen, war die seelische Belastung durch das plötzliche Entschwinden ihres Bruders. Doch welche Belastung es für Anna sein würde, alleine mit ihrer Mutter in dem ansonsten leeren Haus zu sein, ahnte niemand. Gepeinigt von der Sorge um ihren geliebten Sohn, kam sie dem Wahnsinn gefährlich nah. Ihr Gemütszustand wechselte willkürlich von katatonischer Starre über rasende Wut, bis hin zu von Krämpfen geschüttelten Heulanfällen. Anna wünschte sich schon fast die fiese, hinterlistige Furie zurück, die ihr zuvor das Leben schwermachte.
»Besser den Teufel, den du kennst, als den Teufel, den du nicht kennst«, sagte ein altes englisches Sprichwort. Wie viel Wahrheit in diesem Satz steckte, erlebte Anna derzeit am eigenen Leib. In ihren Augen war ihre Mutter schon immer ein Miststück gewesen. Aber sie war berechenbar. Jetzt aber war sie zu einem launenhaften Monstrum mutiert, welches mit unvorhersehbaren Anfällen tyrannischer Raserei über Anna herfiel. Hatte sie die Zeit in der Schule auch gehasst, so kamen ihr jetzt die mobbenden Arschlöcher in ihrer Klasse wie das kleinere Übel vor.
Nun stand sie wieder vor dem Tor des grauen, klobigen Gebäudes, an dessen Stirn in großen schwarzen Buchstaben der Name der Schule stand: »Gymnasium Schwarzenburg.«
Anna war bewusst, was sie dort erwarten würde. Sie kannte ihr Dorf. Tratsch war hier wie eine Seuche. Nichts blieb verborgen und jeder der zwölftausend Einwohner war ein offenes Buch. Es wurde gemauschelt und getuschelt. Selbstverständlich immer hinter dem Rücken der anderen. Es wurde sich echauffiert über das Verhalten seiner Mitmenschen, während man selber im vermeintlich Verborgenen das gleiche tat. Jeder war sich sicher, er hätte seine kleinen Geheimnisse. Die Wahrheit war, fast jedes Geheimnis in Schwarzenburg lag unter einer spiegelgläsernen Kuppel. Von innen hatte man das Gefühl, keiner würde es bemerken. Man sah nur sich selbst. Doch von außen gafften alle hemmungslos hinein. Und wenn man jemanden nicht mochte, stecke man ihn unter so eine Glaskuppel. Gemeinsam mit einer Lüge. Gerne verbreiteten die Schwarzenburger Gerüchte und Vermutungen. Ob diese der Wahrheit entsprachen, war zweitrangig. Hauptsache der primitive Vorstadtaffe hatte etwas, über das man sich das Maul zerreißen konnte. Worüber man sich so sehr aufregte, bis das Herz versagte. Wüten war die Volksdroge. Und jeder lechzte nach dem nächsten Schuss. Nach dem großen Skandal, dessen Einzelheiten man in die Stammtischrunde kotzen konnte. So war Schwarzenburg. Und Anna hasste es.
Ihren dunkelgrauen Rucksack geschultert, trat sie langsam den Weg in das Gebäude an. Sie betrachtete ihr Spiegelbild in der großen Glastür am Eingang. Durch das Schwarz ihres Shirts wirkte ihr Oberkörper in der Reflexion wie durchsichtig. Fast unsichtbar. So wie sie sich all die Jahre fühlte. Und bis heute hatte sich nichts dran geändert. Keiner der anderen Schüler würdigte sie eines Blickes beim Eintreten in das Gebäude.
Anna packte den massigen schwarzen Griff der Schwingtür und zog sie auf. Sie kam sich vor, wie der schuleigene Portier, als die anderen Jugendlichen wortlos durch die offene Tür liefen. Wiederholt setzte sie zum Hereintreten an, wurde aber stets abgedrängt.
Mit einem heftigen Stoß schlug etwas auf ihrer Schulter ein. Erschrocken wandte Anna sich um. Und erkannte ihn sofort. Sven hatte ihr mit der Faust einen Schlag verpasst. Eitel wie er war, fuhr er sich mit der Hand durch die kurzen schwarzen Haare. Der Polyester seiner dunklen Bomberjacke knisterte bei jedem Schritt. Anna bemerkte, wie er sie mit dem Blick seiner hellbraunen Augen löcherte. Er war ein großer Kerl, mit breiten Schultern und einer, selbst für einen Mann, schmalen Hüfte. Viele bewunderten Sven für seine enorme Sportlichkeit. Er war einer der bekanntesten Schüler. Nicht, dass ihn jeder leiden konnte. Er war der klassische Mobber, der alle anderen von oben herab betrachtete. Viele sahen in ihm das typische Alphamännchen. Für Anna jedoch war Sven das Musterbeispiel eines Vollidioten. Wenn er sprach, klang es für sie wie das Gebrabbel eines besoffenen Kleinkindes. Und seine Sätze waren ebenso gehaltvoll. Die Größe seines Körpers musste in einer krassen Unverhältnismäßigkeit zur Größe seines Gehirnes stehen.
»Hey Killer«, rief er ihr im Vorbeigehen zu.
Direkt dahinter folgte ihm Nina, die wie immer komplett in Pink gekleidet war. Selbst die Haarspangen, die ihre schulterlangen hellbraunen Haare schmückte, strahlten in einem Neonrosa. Unter ihrer pinken Jacke mit weißem Pelzkragen trug sie ein hautenges rosa Top, welches ihre schlanke Figur und die, für ihr Alter, großen Brüste betonte. Dabei gab das Oberteil den Blick auf ihren Bauchnabel frei. Ihre grünen Augen hob sie mit aufgeklebten Wimpern hervor. Nina war die Oberflächlichkeit in Person. Wer nicht ihrem Ideal von Schönheit entsprach, war es in ihren Augen nicht würdig, mit ihr zu reden. Zusammen mit Sven ergaben sie das perfekte Duo infernale.
»Na, wo hast du deinen kleinen Bruder verscharrt?«, frotzelte Nina im Vorbeigehen und lachte.
Schnellen Schrittes folgte sie Sven und gab ihm einen Kuss. Während die Beiden Hand in Hand fortgingen, drehte sich Nina zu Anna um und reckte ihr den Mittelfinger entgegen.
Da war es wieder. Das Ziehen im Magen. Der Druck im Bauch. Dieser schnürende Knoten im Hals. Es war, als würde ihr Organismus die Schule wie einen Fremdkörper abstoßen. Und ihre Mitschüler waren die Parasiten, welche diesen Fremdkörper bewohnten.
Anna atmete tief durch. Sie kramte mit ihrer Hand in der Hosentasche und zog einen zerknüllten Zettel hervor. Sie faltete ihn auf und ihr Stundenplan kam zu Vorschein. Es war Montag. Das bedeutete, der Tag würde mit Sport beginnen.
Anna musste den gesamten Schulhof überqueren, um zur Sporthalle zu gelangen. Neben anderen Schülern standen Nina und Sven schon dort. Anna trat zwischen den Stämmen der großen Eichen hervor, die den Eingangsbereich säumten. Eine leichte Brise strich durch deren Blattwerk. Leise wie das Flüstern des Windes wehte ein Getuschel durch die Gruppe von Schülern. Verhalten tönte Anna ein Raunen entgegen. Bis Nina das Wort ergriff.
»Ich bin überrascht dich hier zu sehen. Wir dachten du hättest dich bereits erhängt, weil du deinen Bruder umgebracht hast!«
Mit dem trügerischsten Lächeln, das Anna je gesehen hatte, grinste sie ihr entgegen. Wie vom Donner gerührt verstummten alle anderen Mitschüler. Nur Sven, der seinen Arm um Nina gelegt hatte, verfiel in lautes Gelächter.
»Was nicht ist, kann noch werden«, setzte er nach.
Ihr erster Tag in der Klasse und es wirkte, als wäre sie nie weg gewesen. Nicht nur, dass sie Zuhause den Launen ihrer Mutter ausgesetzt war. Kaum war sie wieder in der Schule, schlugen ihr Hohn und Spott entgegen.
Der Groll auf Nina quoll regelrecht aus Annas Augen. Sie fühlte, wie sich Wut in ihrem Bauch anstaute. In ihr brodelte es wie in einem Vulkan. Sie war kurz davor zu explodieren und ihr verbales Magma über Nina zu ergießen.
Immer wieder fragte Anna sich, was sie Nina getan hatte. Was mit der Zeit passiert war. Sie konnte sich nicht erinnern, was sie entzweit hatten. Die beiden Mädchen hatten sich im Kindergarten kennengelernt. Seitdem waren sie beste Freunde. Sie waren unzertrennlich. Hand in Hand erkundeten sie ihre Welt. Es war eine dieser Freundschaften, von der man dachte, sie würden ein Leben lang halten.
Doch heute war nichts mehr von der einstigen Einigkeit zu spüren. Aus Freundschaft wurde Feindschaft. Aus Liebe wurde Hass. Und Anna war es unerklärlich, wie es dazu gekommen war. Hatte es etwas mit Ninas Mutter zu tun? Mit dem Vorfall im Schlafzimmer? Aber Anna trug doch keine Schuld daran – was dort gesagt und getan wurde.
»Guten Morgen liebe Schüler«, tönte es von hinten, unterlegt vom Gerassel eines großen Schlüsselbundes. Herr Wiemann, der Sportlehrer, trat in die Menge und bahnte sich seinen Weg zum Tor der Sporthalle.
»Hallo Anna, schön dass du wieder hier bist!«, sagte er lächelnd, als er sie zwischen den anderen Schülern entdeckte.
Kurz war der Anflug eines Schmunzelns auf Annas Gesicht zu erkennen. Es war das erste freundliche Wort, das sie hörte, seit sie die Schule betreten hatte.
Eine der beiden Neonröhren, welche den fensterlosen Umkleideraum der Mädchen erhellten, durchzuckte ein intensives Flackern. Es verwandelte den Raum in einen Saal voll tanzender Schatten.
Die kleinen hellgrauen Kacheln des Fußbodens wirkten in heftigem Kontrast zu den dunkelbraun lackierten Holzbänken, welche die Wände an drei Seiten säumten.
Anna zog sich in die hinterste Ecke des Umkleideraumes zurück. Sie hängte ihren Rucksack an einen der Metallhaken, welche an einem Gerüst hinter den Bänken angebracht waren. Die dunkelgrüne Farbe war von einem Großteil des Metalls abgeblättert, was vermuten ließ, dass deren Pflege nicht zu den wichtigen Aufgaben des Hausmeisters zählten.
Anna schnürte das zu lang geratene Band ihrer verwaschenen roten Sportshorts zu einer Schleife und stopfte die überhängenden Schlaufen in den Bund der Hose. Hektisch streifte sie sich ihr schwarzes Shirt ab und tauschte es gegen ein Dunkelgraues. Sie war versucht, nicht zu viel von ihrem Körper preiszugeben. Um den anderen Mädchen nicht noch mehr Angriffsfläche für Beleidigungen zu bieten.
Diese waren kurioserweise alle mit sich selbst beschäftigt und achteten weder aufeinander noch auf Anna. Sie war verwundert und dennoch erleichtert. Waren die Mädchen sonst immer erpicht darauf, die Schwachstellen der anderen zu erkennen und gnadenlos offenzulegen, herrschte an diesem Tag eine schon fast meditative Stimmung. Ein Umstand, der Anna mit wohligem Grusel erfüllte.
Sie band sich ihre weißen, mit roten Streifen verzierten Turnschuhe und war bereit für den Sportunterricht. Auf dem Weg zur Tür, welche die Umkleidekabine mit der Sporthalle verband, raffte sie ihre Haare zu einem Pferdeschwanz. Dann verließ sie die Kabine und trat in die Halle. Knallend fiel die schwere Tür hinter ihr ins Schloss.
Nina blickte auf, nachdem Anna den Raum verlassen hatte.
»Geht an die Türen!«, forderte sie die anderen Mädchen in militärischem Befehlston auf. Diese stellten sich an die beiden Ausgänge, jeweils zum Flur und zur Sporthalle, und hielten diese zu. Nina eilte zu der Ecke, in der Anna ihre Kleidung abgelegt hatte. Sie öffnete ihren Rucksack und durchwühlte ihn vorsichtig.
»Ist Sven schon da?«, fragte Nina.
Die rothaarige lispelnde Lisa, mit der großen Zahnlücke und den krummen O-Beinen, öffnete die Tür einen Spalt.
»Ja, er steht schon da«, antwortete sie in ihrer hohen piepsenden Stimme.
»Ich hab’s!«, flüsterte Nina. Sachte zog sie eine weiße Trinkflasche aus Annas Rucksack. Sie hatte die Form einer langgezogenen Birne, mit einem runden, Knauf ähnlichem Deckel auf dem Hals. Mit der Flasche in der Hand eilte sie zu der Tür, welche zum Flur führte. Lisa öffnete sie. Sven, der ungeduldig dahinterstand, nahm die Trinkflasche von Nina entgegen.
»Beeilt euch!«, forderte Nina.
Sven blinzelte ihr mit dem linken Auge zu. Dann verschwand er in der Umkleidekabine der Jungen.
Mit schallendem Ploppen knallten die Fußbälle gegen die Wände, welche die ersten Jungs in Sporthalle durch die Gegend schossen. Immer wieder hörte man ein lautes Klatschen, gefolgt von einem schmerzverzerrten Stöhnen, während die Jugendlichen sich gegenseitig mit harten Schüssen traktierten.
Anna joggte langsam um den mit dunkelgrünem Linoleum belegten Platz. Sie wünschte sich, es würde so bleiben wie jetzt. Nur sie und ein paar Jungen in der Halle. Die meisten Kerle auf der Schule schenkten ihr keinerlei Beachtung. Keiner sprach mit ihr oder sah sie bewusst an. Doch das störte sie nicht. Es war ihr lieber ignoriert zu werden, als die Attacken zu ertragen, welche die Mädchen immer wieder auf sie abfeuerten.
Ein Knall. Heftiger Schmerz durchzog Annas Schädel. Ihr Kopf schlug stoßartig zur Seite. Sie taumelte. Hatte Mühe, sich auf den Füßen zu halten. Langsam sah sie den blauen Fußball wegrollen, der sie getroffen hatte.
»Was läufst du blöd im Weg herum?«, konnte sie dumpf verstehen. Unterdessen verschwamm das Bild vor ihren Augen zu einem Sumpf aus Farben.
Anna ging zu Boden. Sie atmete langsam und tief ein. Starr verharrte sie auf allen vieren. Zögernd schärfte sich ihr Blick. Die dumpfen Geräusche gewannen an Deutlichkeit.
»Ist alles in Ordnung?«
Sanft legte sich eine Hand auf Annas Schulter. Mit noch wackeligen Knien stand sie langsam auf. Klarheit kehrte in ihren Kopf und Kraft in ihren Körper zurück. Sie wandte sich um. Ihr Augenmerk fiel sofort auf das entzückende, von Grübchen umklammerte Lächeln. Gefolgt von einem Blick in die glänzenden, tiefblauen Augen.
»Ja, es geht schon wieder, danke«, antwortete Anna, sich mühselig ein Grinsen abringend.
»Ich bin Ralf«, stellte sich der Junge ihr gegenüber mit den raspelkurzen blonden Haaren vor. Anna wusste, wer er war. Seit Jahren besuchten sie dieselbe Klasse. Doch noch nie hatten sie ein Wort miteinander gewechselt. Und wie Anna jetzt bemerkte, hatte er sie nie wahrgenommen.
Eine kurze Phase der Stille folgte. Noch immer lächelte Ralf ihr entgegen.
»Darf ich fragen, wie du heißt?«
»Anna?«, antwortete sie und ertappte sich bei einem überraschend fragenden Tonfall.
»Das klingt, als wärst du dir nicht ganz sicher.«
Ein breites Lächeln zog sich über Annas Gesicht.
»Doch Anna!«
»Freut mich sehr Anna!«
Es klopfte an der Tür des Mädchenumkleideraums. Lisa klemmte sich die langen roten Haare, welche ihr ins Gesicht hingen, hinter die Ohren und öffnete. Sven stand im Flur, Annas Trinkflasche in der Hand.
»Hey Babe«, begrüßte ihn Nina, als sie auf ihn zuging. »Habt ihr es geschafft?«
»Sie ist randvoll«, antwortete Sven mit einem fiesen Grienen auf dem Gesicht. »Die Jungs haben alle geholfen.«
»Ist außen noch irgendwas dran?«, erkundigte Nina sich angeekelt, bevor sie die Flasche zaghaft mit Zeigefinger und Daumen packte.
»Kevin hatte die Idee sie nochmal abzuwaschen, bevor wir sie euch geben«, beruhigte Sven seine Freundin.
Erleichtert packte Nina die Flasche mit ganzer Hand.
»Das ist ja noch ganz warm!«
Sie begab sich zurück zu Annas Tasche. Behutsam schob sie die Trinkflasche hinein.
»Ich wette, dass ist das Härteste, was sie je gesoffen hat.« Ninas Worte verhallten im Gelächter der Mädchen.
Ein schriller Pfiff gellte auf. In einem hellgrauen Sportanzug mit roten Nähten betrat Herr Wiemann die Sporthalle. Seine große, runde Brille mit dem silbernen Rahmen saß etwas schief auf seiner Nase. Die letzten verbliebenen schwarzen Haare bildeten einen Kranz um den ansonsten kahlen Kopf. Er war ein großer, schlaksiger Mann, dessen Arme zu lang für seinen Körper wirkten.
»Zum Aufwärmen eine Partie Völkerball«, rief der Lehrer in die Runde. »Nina, Anna, ihr wählt die Teams. Anna, du fängst an.«
Verunsichert und verloren stand Anna mitten in der Halle. Nie war sie in der Position, die Mannschaften im Sportunterricht zu wählen. Im Gegenteil. Sie war immer die Letzte, die übrigblieb. Und selbst dann stritten sich die Teamkapitäne darum, sie nicht in ihr Team nehmen zu müssen.
»Anna, du stellst dich links an die Wand. Nina, du rechts. Und fangt an«, forderte Herr Wiemann.
Annas Atem wurde schwerer. Beim Weg zum Rand der Halle, wirkten ihre Füße wie aus Blei. Sie, die sonst keine Beachtung fand und für die das größte Kompliment komplette Ignoranz war, sollte plötzlich über die anderen Schüler bestimmen. Anna ließ ihren Blick durch die Halle schweifen. Alle Augen waren auf sie gerichtet. In Erwartung, dass sie den ersten Namen ausrief. Im Gewirr der bunten Sportkleidungen, deren Farben selbst einen Regenbogen blass aussehen ließen, entdeckte sie ihn wieder. Ralf. Er Stand dort, noch immer sein Lächeln aufgesetzt. Nickte ihr aufbauend zu.
Dann fiel Annas Blick auf Nina. Die am anderen Ende der Sporthalle ungeduldig ihre mit pinkem Lack überdeckten Fingernägel betrachtete und wartend mit dem Fuß wippte. Sie erkannte ihre Chance. Nina würde es nicht kommen sehen, denn keiner in der Klasse wagte es sich gegen sie zu stellen. Doch Anna hatte nichts zu verlieren. Im Gegensatz zu Nina.
»Sven«, schrie Anna durch die Halle.
Atemlose Stille trat ein. Niemand bewegte sich. Nur der Hall des Namens, den Anna rief, klang bedächtig aus. Die erstaunten Augen der Schüler wechselten zwischen Anna und ihrer Kontrahentin. Nina wandte ihre Aufmerksamkeit von den Fingernägeln ab und warf Anna einen vernichtenden Blick zu. Niemand hatte es zuvor gewagt, sie und ihren Sven zu trennen. Wüsste man nicht, dass die beiden ein Paar waren, hätte man sie fast für siamesische Zwillinge halten können. Immer nah beieinander, immer im Körperkontakt.
»Sven, geh zu Anna hinüber«, forderte Herr Wiemann, nachdem sich niemand bewegte.
»Nina, du bist dran!«
Mit einem lauten Donnern flog die Tür der Umkleidekabine auf. Wutentbrannt stürmte Nina herein. Drei weitere Mädchen folgten ihr.
Anna schlenderte unterdes durch die Halle und erhaschte einen Blick in die offene Kabinentür. Wie wildgeworden, durchwühlte Nina ihre pinke Tasche.
Herr Wiemann trat an Anna heran.
»Zieht bitte einfach beim Gehen die Hallentür zu. Ich muss schnell ins Lehrerzimmer«, bat er sie.
Mit einem kurzen Nicken antworte sie auf die Bitte ihres Lehrers.
»Und lass dich nicht ärgern«, fügte er beim Betreten der Lehrerkabine hinzu. »Schön, dass du wieder da bist!«
Nun wagte auch Anna den Weg in die Umkleidekabine. Nina und die meisten anderen Mädchen hatten den Raum längst verlassen. Einzig Kim und Paula, zwei wasserstoffblonde »Chicks«, wie sie sich selbst bezeichneten, waren in ein Gespräch vertieft und vergaßen dabei, sich umzuziehen. Die beiden Mädchen sahen sich so ähnlich, dass Anna sie anfangs für Zwillinge hielt. Oft hatte sie sich gefragt, ob bei ihnen dasselbe Phänomen griff, welches man angeblich bei Hunden und ihren Frauchen beobachten konnten. So wie Hund und Halterin sich mit der Zeit immer ähnlicher sehen sollten, so stellte sich Anna vor, dass auch Kim und Paula im Laufe der Jahre eine optische Einheit gebildet hatten. Vermutlich lag der Grund für die Gleichartigkeit der Mädchen nur darin, dass sie sich gleich kleideten und schminkten. So trugen beide kirschroten Lippenstift und hellblauen Lidschatten, der der Farbe ihrer Augen glich. Ihre Kleidung hatte jeden Tag, Anna glaubt nicht aus Zufall, den gleichen Ton.
Als Kim und Paula bemerkten, dass Anna die Umkleidekabine betrat, verstummten sie. Prüfend ließen sie ihre Blicke über sie wandern.
»Na da hast du dir ja was eingebrockt«, spottete Kim.
In ihrem Ton schwangen Arroganz und Schadenfreude mit. Was bei Anna immer wieder das Bedürfnis auslöste, ihr wie ein tollwütiger Puma das Gesicht zu zerkratzen. Aber sie beließ es bei einem gleichgültigen Schulterzucken.
»Nina wartet draußen auf dich«, setzte Paula nach. Beide Mädchen begannen zu kichern.
Anna ignorierte die »Chicks« und wandte sich ihrer Tasche zu. Nach dem großen Donnerwetter in der Sporthalle erwartete sie, ihre Kleidung nass, verschmutz oder gar zerrissen vorzufinden. Sogar die Möglichkeit, dass ihre Klamotten entwendet worden waren, zog sie Betracht.
Anna wusste, wie nachtragend Nina sein konnte. Schon als kleines Mädchen war sie »zickig«, wie sie andere Mütter heimlich über Nina reden hörte. Und tatsächlich, erinnerte sich Anna zurück, war ihre ehemals beste Freundin bereits im Kindergarten ungemein besitzergreifend.
Anna war ein ruhiges, zurückhaltendes Kind. Sie sprach nicht übermäßig und vermied es, in Konflikte zu geraten. Anders dagegen war Nina. Sie war fordernd, laut und wenn sie etwas wollte, bekam sie es auch. Nahm sie ein Spielzeug, war sie der festen Überzeugung, es würde nun ihr gehören. Und auch wenn sie es ablegte, gestattete sie keinem anderen Kind damit zu spielen. Genauso hielt sie es mit ihrer besten Freundin. Niemand durfte sich ohne Ninas Erlaubnis mit Anna beschäftigen. Kam jemand Anna zu nahe, stellte ihre beste Freundin sich demjenigen entgegen. Wie ein tapferer Ritter, der die holde Prinzessin vor dem bösen Drachen beschütze. Schaffte es aber doch jemand, einen Moment der Unachtsamkeit auszunutzen, und spielte mit Anna, strafte Nina dies tagelang mit einer Mischung aus Ignoranz, Beleidigungen und Brutalität. Sie war sogar so geschickt darin, Personen zu manipulieren, dass sie es schaffte, den Erziehern weiszumachen, der Gegenüber hätte ihr Gewalt angetan. Obwohl genau das Gegenteil der Fall war.
Heute war es Sven, den Nina in ihren Besitz nahm. Und Anna hatte gegen ihre oberste Regel verstoßen: Niemand stellt sich zwischen sie und ihrem Freund.
Verwunderung entfuhr Annas Blick. Ihre Kleidung lag so zusammengelegt auf der Sitzbank, wie Anna sie zurückgelassen hatte. Sie holte ihre weiße Trinkflasche aus dem Rucksack und stellte sie vor sich ab. Anschließend zog sie ihre Sportklamotten aus. Schweißperlen rollten ihr von der Stirn. Mit ihrem dunkelgrauen Shirt tupfte sie sich die Feuchtigkeit ab. Dann stopfe sie es in ihren Rucksack, gefolgt von der kurzen roten Hose und den weißen Sportschuhen. In Folge dessen streifte Anna sich ihre normale Kleidung über. Mit der Trinkflasche in der Hand und dem Rucksack auf dem Rücken verließ sie den Umkleideraum. Eine kühle Brise streichelte ihr vom Schweiß noch feuchtes Gesicht, als sie aus der Sporthalle heraustrat. Sie blieb stehen und genoss den kühlenden Wind auf ihrer Haut. Eine leichte Trockenheit legte sich in ihre Kehle. Durst überkam sie. Unter hohem Quietschen schraubte sie den runden Deckel von ihrer Trinkflasche. Anna setzte die Öffnung an ihre Lippen. Sie hob die Flasche über ihren Kopf. Hastig nahm sie einen Schluck. Gefolgt von dem Nächsten. Und wieder dem Nächsten. Es dauerte eine kurze Zeit. Dann ergoss sich ein salziger und bitterer Geschmack stechend in ihrem Mund. Erschrocken riss Anna die Flasche von ihren Lippen. In einem weiten Sprühnebel prustete sie den Rest der im Mund stehenden Flüssigkeit aus. Was zur Hölle hatte sie gerade getrunken? Es war kein Wasser. Nein, es schmeckte eher wie… Anna wollte gar nicht daran denken. Hatten sie das wirklich getan? Verachteten die anderen Anna so sehr?
»Wie schmeckt dir die Pisse?«, schrie Nina, die hinter einem der breiten Eichenstämme hervorkam. Gefolgt von Sven, Lisa und weiteren Schülern. Ein lautes Gelächter setzte ein. Tuscheltend zeigten sie mit ihren Fingern auf Anna.
Als sie begann zu husten und zu würgen, wurde das Lachen noch lauter.
Etwas krachte an Annas Kopf. Knackend prallte es von ihrer Schläfe ab. Es war hart, ein Stein, wie Anna im Nachhinein vermutete. Sie fiel zu Boden. Noch immer würgend, versuchte sie mit ihren Händen den Sturz abzufangen. Mit einem dumpfen Schlag prallte die Trinkflasche auf die Erde.
Nina trat an Anna heran.
»Selbst diese Pisse ist noch zu gut für dich«, fauchte sie fast flüsternd in einem aggressiven, zutiefst verachtenden Tonfall.
Anna erhob sich auf die Knie. Stetig hustend. Der penetrant in ihrem Mund schwebende Geschmack des Urins ließ ihren Magen verkrampfen. Die Übelkeit zeigte sich in aller Grausamkeit. Von den sengenden Hitzewallungen, die ihren Kopf fluteten. Über den monsunartigen Speichelfluss. Hin zum flauen Druck in ihrem Bauch.
Ihr Atem wurde schwerer. Sie versuchte, das Erbrechen zu unterdrücken. Sie würde ihnen nicht den Gefallen tun und sich übergeben. Anna ließ die anderen sich nicht noch mehr an ihrem Leid ergötzen.
Nina war zu weit gegangen. Spott, Häme, Beleidigungen. All das kannte Anna von ihr. Doch nun hatte die Schikane eine neue Dimension angenommen. Nahm sie bisher alle Attacken von Nina hin; diesmal nicht.
Anna griff nach der Trinkflasche. Ihr Gewicht verriet, sie war nicht leer. Noch gut die Hälfte des Urins schwappte darin herum. Fest umklammerte sie die Flasche.
»Du miese Schlampe«, schrie sie Nina entgegen. Während diese erneut anfing zu lachen und sich belustigt zu den anderen Schülern umdrehte, holte Anna aus. Mit einem kräftigen Schwung stieß sie die Flasche in Richtung von Nina. In einem breiten Schwall ergoss sich der Urin über die pinke Jacke und die pinke Hose. Ninas Lachen verstummte augenblicklich. Das Gelächter der übrigen Schüler kam ebenfalls zum Erliegen. Fassungslos blickten sie auf die Szene, die sich vor ihnen abspielte.
Nina spreizte ihre Arme vom Körper ab und sprang einen Schritt zurück, in der Hoffnung nicht von der gelben Flüssigkeit getroffen zu werden. Doch es war zu spät. Die Feuchtigkeit drang bis auf Ninas Haut. Angeekelt und erschrocken stierte sie auf die Flasche. Anna nutze den Augenblick der Verwirrung. Wutentbrannt sprang sie auf. Mit festem Griff packte sie Nina an den langen Haaren. Riss ihren Kopf ruckartig zurück. Sie holte mit der Faust der anderen Hand aus und ließ krachend drei wuchtige Hiebe in Ninas Gesicht einschlagen.
Die Welt um Anna verschwand zu einem Schleier aus verworrenen Schattierungen. Nur Ninas Miene hatte sie in ihrem Blick fokussiert. Die Zeit wirkte wie eingefroren. Als hätte jemand die Zeitlupe-Taste auf der Fernbedienung ihres Lebens gedrückt. Langsam sah sie ihre Faust auf Nina einschlagen. Die rohe Gewalt der Prügel ließ das Gesicht ihrer Kontrahentin erbeben und rollte in einer energetischen Welle über ihre Wange. All ihren Frust, ihre Wut, entlud sich auf dem Schädel. Es war eine Genugtuung, die Anna in vollen Zügen genoss.
Sie ließ von ihrer Feindin ab. Nina fiel und schlug mit dem Kopf auf den Boden. Keuchend robbte sie sich ein Stück nach vorne, weg von Anna. Bedrohlich stand diese über Nina gebeugt. Stieß ein erzürntes Schnaufen aus. Ihre Nüstern bebten. Man erwartete jeden Moment, dass schwarzer Qualm aus ihrem brodelnden Inneren über die Nase austreten würde.
»Stopp!«, ertönte ein wütender Schrei. Anna schaute auf. Rasenden Schrittes hetzte Sven auf sie zu. Unbeeindruckt richtete sie ihre Augen wieder auf Nina. Es war eine Befriedigung sie dort nass und dreckig kriechen zu sehen. Durch die Schläge hatte ihre Wange eine dunkelrote Farbe angenommen. Voller Schadenfreude malte Anna sich in Gedanken aus, wie diese sich im Laufe des Tages durch Einblutungen zu einem dunklen blaugrünen Veilchen entwickeln würde.
Wieder Sven spielte sich als Retter auf. Es war typisch. Bei jedem Konflikt, in den Nina geriet, musste er sich mit seinem Machogehabe aufplustern. Nina schien das zu gefallen. Doch für Anna war das nur primitiv.
Mit einem kräftigen Stoß schubste er Anna von seiner Freundin weg. Seine Pranken packten Anna am Halsausschnitt ihres Shirts. Er zog sie zu sich heran, so dass der einen Kopf größere Junge seine Nase an ihre presste.
»Was glaubst du eigentlich wer du bist?«, schrie er. Zwischen seinen Lippen schäumte der Zorn heraus. Spucketropfen überzogen Annas Gesicht.
»Ich sollte dir deinen hässlichen Schädel einschlagen!«
Ein kalter Schwall rollte durch Annas Körper. Das zittrige Gefühl von Panik stieg in ihr auf. Ihre Hände wurden flatterig. Hinter den Augenlidern quollen Tränen hervor. Mit aller Kraft versuchte sie den ungestümen Angreifer von sich zu stoßen. Doch sein Griff war zu fest. Lediglich der Stoff ihres Oberteils knirschte und gab somit zu verstehen, dass er beim nächsten Ruck reißen würde.
Drohend hob Sven seinen Arm, die Hand zu einer Faust geballt. »Jungs schlagen keine Mädchen«, war die allgemeine Parole unter den Jugendlichen. Doch Sven war anders. Ihm traute Anna alles zu. Er machte kein Unterschied zwischen den Geschlechtern. Er schlug, wer es seiner Meinung nach verdient hatte. In diesem Fall war sie es.
Anna kniff die Augen zusammen. Jeden Moment rechnete sie mit dem schmerzhaften Einschlag seiner Fingerknöchel in ihrem Gesicht.
»Genug, es reicht jetzt!«
Weiterhin die Augen geschlossen, bemerkte Anna, wie der Griff an ihrem Hals sich löste. Ihr Gleichgewicht wiederfindend, taumelte sie einen Schritt zurück.
Für eine Sekunde wirkte es wie eine frische, neue und bunte Welt, als Anna ihre Augen öffnete und die ersten Lichtstrahlen ihre Netzhaut erreichten. Ihr anfangs noch verschwommener Blick wurde klarer. Sie sah auf Sven, der schnaufend auf seinen Arm gaffte. Eine Hand hatte ihn umklammert und daran gehindert, Anna zu attackieren. Ihr Blick wanderte weiter. Dort stand Ralf, Svens Handgelenk fest im Griff, und starrte ihm in die Augen.
»Eure scheiß Aktion ging nach hinten los«, wütete Ralf. »Jetzt lasst sie in Ruhe und verpisst euch!«
Mit einem kräftigen Ruck riss Sven seinen Arm aus der Umklammerung. Empört prustete er, wandte sich dann aber von Ralf und Anna ab. Er half Nina auf die Beine. Den Arm stützend um seine Freundin gelegt, kehrten die beiden zu der Gruppe anderer Schüler zurück.
»Geht es dir gut?«, fragte Ralf. Erneut erfuhr Anna seine sanfte Berührung auf ihrer Schulter. Und da war es wieder, sein von Grübchen umklammertes Lächeln, welches so einige Mädchenherzen zum Schmelzen brachte.
Anna wusste nicht, wie sie mit der Situation umgehen sollte. Zum ersten Mal zeigte ein Junge Interesse an ihr. Und dann Ralf. Der Ralf, welcher von Mädchen der ganzen Schule umschwärmt wurde. Warum hatte er Interesse an ihr? Er hatte vorher nie ein Wort mit ihr gesprochen.
Nachdem sie ihm kurz in seine glänzenden Augen sah, in deren Blau sie sich verlieren konnte wie in dem ruhenden Wasser eines glasklaren Sees, überkam sie Verlegenheit und sie wandte ihren Blick ab.
»Ja, es geht schon«, murmelte Anna, gefolgt von einem kurzen Nicken.
»Das sind echte Arschlöcher!« Ralf legte seinen Arm um Annas Schultern. Ein Akt von ungewohnter Intimität, der sie zusammenzucken ließ.
»Du bist doch mit ihnen befreundet?«, entgegnete Anna.
»Schwarzenburg ist ein verdammtes Dorf. Hier ist jeder mit jedem befreundet. Und jeder hat doch Arschlöcher unter seinen Freunden!«
»Kann sein.« Anna zuckte mit den Schultern.
Eine unangenehme Ruhe beschlich sie. Die lautlosen Sekunden zogen sich hin wie Stunden. Das Rascheln der Blätter im Wind umspielte die peinliche Stille.
»Wir müssen in die Klasse«, durchbrach Anna das Schweigen.
Alle Augen waren auf sie gerichtet, als Anna und Ralf das Klassenzimmer betraten. Die aus hellgrünen Metallgestellen und hellen Holzsitzflächen bestehenden Stühle waren fast alle von den übrigen Schülern der Klasse besetzt. Auf den gleichfarbigen Tischen hatten sie dicke Bücher mit einem orangefarbenen Einband aufgeschlagen. In dieser Stunde war Mathe dran.
Anna und Ralf begaben sich zu ihren Plätzen. Während Ralf ganz hinten in der Klasse, direkt neben Sven saß, hatte Anna ihren Platz in der vordersten Reihe.
»Du nicht!«, ertönte die mürrische Stimme der Lehrerin, Frau Nolte. Sie war eine kleine, schlanke Frau. Die im Solarium zu Leder gedünstete tiefbraune Haut, warf tiefe Schluchten in ihr Gesicht. So stellte Anna sich den Grand Canyon vor, würde er auf einer Landkarte dargestellt werden. Das übertriebene Make-up, mit knallrotem Lippenstift und purpurnem Rouge, der wie mit einem Stempel aufgetragen wirkte, ließ sie weit älter aussehen, als sie tatsächlich war. Die kahle Stelle auf dem Kopf, zwischen den sonst vollen, langen, schwarzen Haaren, verstärkte diesen Eindruck.
Frau Nolte zeigte mit dem Finger auf Anna.
»Du gehst direkt zum Schulleiter«, befahl sie mit einem entrüsteten Kopfschütteln.
Die Sonne schien in das Fenster des hellen Büros. Die kahlen weißen Wände ließen es fast steril wirken, weswegen man sich eher zu Besuch bei einem Arzt wähnte, als beim Leiter des Schwarzenburg Gymnasiums. Nur ein kleiner schwarzer Aktenschrank und der dunkle Schreibtisch sorgten für etwas Kontrast.
Ungeduldig trommelte Herr Fieder mit den Fingern auf der Tischplatte. Das Licht reflektierte auf seinem haarlosen Kopf. Er war ein Mann von rundlicher Statur. Blickte man ihn an, wirkte es, als vergaß man beim Zusammenbauen seines Körpers den Hals. Sodass der Kopf direkt in den Rumpf überging. Seine gesamte Körperform glich der eines Eies. Weshalb Anna stets die Figur des Humpty Dumpty aus der Geschichte Alice im Wunderland in den Kopf schoss.
Er seufzte laut und schaute auf Anna, die ihm gegenüber auf einem wackeligen alten Holzstuhl saß. Beide schwiegen.
Anna holte Atem, um etwas zu sagen. Doch Herr Fieder kam ihr zuvor.
»Was sollen wir mit dir machen?«, seufzte er. Seinen Worten schwang eine merkliche Verzweiflung mit. »Das was heute vor der Sporthalle passiert ist, ist völlig inakzeptabel.«
Herr Fieder kramte einen mit Falten übersäten Zettel von seinem Schreibtisch.
»Ich habe mir ein paar Notizen gemacht. Du sollst Nina Klock mit einer Flasche voll Urin übergossen, sie dann an den Haaren gezogen und ihr mehrmals ins Gesicht geschlagen haben.«
Anna lugte unauffällig auf ihre Fingerknöchel. Sie waren dunkelrot angelaufen. Jetzt wo einige Zeit seit den Schlägen vergangen war, erfüllte sie ein heftiges Pochen.
»Es war ihre eigene Pisse«, rechtfertigte Anna sich entrüstet. »Sie hat mir in die Flasche gepisst, was ich dann nichtsahnend getrunken habe!«
»Hast du gesehen, wie sie in deine Flasche uriniert hat?«
»Dann hätte ich es ja wohl kaum getrunken.«
»Hat sie dir denn gesagt, dass sie es war?«
»Nicht direkt, aber…«
Herr Fieder fiel Anna ins Wort. Seine Stimme erhob sich.
»Also weißt du gar nicht, wer es war?«
»Es war Nina!« Auch Annas Ton wurde schärfer.
»Du hast es nicht gesehen und sie hat es dir auch nicht bestätigt. Also weißt du gar nichts.«
Herr Fieder stand von seinem Stuhl auf. Mahnend hob er seinen Zeigefinger in Richtung von Anna.
»Und selbst wenn sie es war, das rechtfertigt nicht diesen Ausbruch von zügelloser Gewalt. Eine solche Brutalität hätte ich gerade von dir nicht erwartet. Für Gewalt gibt es an dieser Schule keine Toleranz.«
Der Schulleiter atmete einmal tief durch. Er setzte sich wieder auf seinen Drehstuhl. Mit gekreuzten Armen lehnte er sich auf den Schreibtisch. Die angespannte Mimik löste sich. Sorgenvoll schaute er Anna in die Augen.
»Mir ist bewusst, dass deine Familie es gerade nicht leicht hat«, fuhr er in gemäßigtem Ton fort. »Wir sind alle bestürzt darüber, was mit deinem Bruder passiert ist. Natürlich hoffen wir alle, dass er schnell wieder wohlbehalten Zuhause ist. Und selbstverständlich haben wir volles Verständnis dafür, dass du gerade eine schwere Zeit durchlebst.«
Anna pfiff auf sein Verständnis. Nina sollte an ihrer Stelle hier sitzen und sich für ihre Taten rechtfertigen. Das Herr Fieder und die anderen Lehrer nicht kapierten, was für eine falsche Schlange Nina war, frustrierte Anna zutiefst. Sie fixierte seinen Eierkopf. Wie gerne wäre sie mit einem Hechtsprung über den Schreibtisch geschnellt und hätte seine fetten Wangen ebenfalls ihre Fäuste spüren lassen.
Herr Fieder ließ sich in die Lehne seines dunkelgrauen Stuhles fallen, der ein jammerndes Ächzen von sich gab.
»Angesichts der heutigen Ereignisse, müssen wir uns eingestehen, dass es wohl zu früh war, dich jetzt schon in die Schule zurückzuholen. Daher habe ich keine andere Wahl, als dich für eine Woche vom Unterricht auszuschließen.«
Herr Fieder stand von seinem Stuhl auf. Ein tiefer Seufzer entfuhr ihm. Er trat an das Fenster hinter sich und sah auf den Schulhof hinaus.
»Ich werde mit den anderen Schülern sprechen und versuchen herauszufinden, was genau bei der Sporthalle vorgefallen ist. Danach berate ich mich mit den Lehrern und der Schulbehörde. Anschließend werden wir entscheiden, ob du in der nächsten Woche wieder am Unterricht teilnehmen darfst oder ob wir den Ausschluss verlängern.«
Das Echo der Glocke hallte über den Schulhof und rief zur Pause. Wie Wespen aus ihrem Nest schwirrten die Schüler aus den Schulgebäuden in alle Richtungen. Lachen, Geschrei und ein Gewirr von Stimmen erfüllte das vorher von Stille beseelte Gelände.
Die dunklen Brauen hingen tief über ihren krampfhaft zusammengezogenen Augen, als Anna das Büro des Schuldirektors verließ. Ihre in den Hosentaschen versteckten Hände presste sie so fest zu Fäusten, dass sie jeden Moment mit dem Geräusch brechender Fingerknochen rechnete. Dumpf stampften ihre Schritte durch den langen Flur, welcher vom Büro zur Cafeteria führte. Vorbei an Lehrern und Lehrerinnen, die in Gespräche vertieft ihre Pause auf dem endlos wirkenden Gang verbrachten, fühlte Anna sich an den mittelalterlichen Weg zum Schafott erinnert. Sie wartete auf die Steine und das faule Obst, welches die pöbelnde Menge ihr entgegenschleuderte, bevor sie auf dem Richtblock enthauptet werden würde. Zu Unrecht verurteilt, erfolgte die Vollstreckung ihrer Strafe, während ihre Peiniger lachend dabeistünden.
Angetrieben von Wut stieß sie die Schwingtür zur Pausenhalle auf. Ein Schwall von Gerüchen schlug ihr entgegen. Die Aromen von Hühnersuppe, frisch gebackenen Kuchen und mit verschiedenen Aufschnitten belegten Broten vermischten sich zu einer Reizüberflutung des Geruchssinns. Als wäre das nicht schon genug, prasselte ein Gewirr aus Stimmen und Geräuschen aus dem vollen Saal auf sie ein. Es verkam zu einem dröhnenden Rauschen, das sich in ihren Schädel bohrte. Ein stechender Druck schwoll in ihrem Kopf heran. Gefolgt von einem Zittern. Erst ihre Hände, dann ihre Arme, bis der ganze Körper erschauderte.
Schreien. Anna wollte nur noch schreien. Ihnen allen entgegenbrüllen, sie sollten ihre verdammten Fressen halten.
»Anna!«
Der Hall ihres Namens löste sich aus dem Wortsturm, welcher wie ein rauschender Tsunami über sie hinwegfegte. Anna schaute zur Seite. Es war Ralf, der sie rief und ihr entgegeneilte. Er packte sie an den Schultern und blickte ihr in die Augen.
»Alles klar?«
Anna schüttelte den Kopf.
»Willst du raus?«
Sie nickte.
Ralf griff sie am Arm. Er führte sie zur Pforte, durch die Anna am Morgen gekommen war. Mit dem Schließen der Tür hatten sie den Lärm eingesperrt und waren hinaus, in die befreiende Ruhe getreten.
Anna nahm einen tiefen Atemzug. Die frische Luft war Balsam für ihre überlasteten Riechzellen. Mit dem Ausatmen stieß sie die Anspannung aus ihrem Körper. Erschöpft ließ Anna sich auf die Stufen der kurzen Treppe fallen, welche von der Tür auf den Fußweg führte. Ralf setzte sich neben sie.
»Was jetzt?«
»Ich gehe nach Hause!«
»Klar, nach so einem scheiß Tag«, bemerkte Ralf.
Anna seufzte.
»Der war nicht viel schlimmer als alle anderen!«
Die Minuten verstrichen. Beiden verharrten schweigend auf der Treppe. Das Klingeln der Glocke läutete das Ende der Pause ein.
»Du musst zurück in die Klasse!«
Anna wollte gerade ihren Rucksack schultern und sich auf den Weg machen. Doch etwas hinderte sie am Aufstehen. Fragend warf sie ihre Stirn in Falten, als sie Ralfs Hand auf ihrem Knie entdeckte.
»Ich bring dich nach Hause!«
Anna stieß seine Hand von ihrem Bein. Sie erhob sich und baute sich voller Grimm vor ihm auf.
»Was willst du eigentlich von mir?«
Mehr wie ein fragendes Schnauben brachte Ralf nicht hervor, da Anna nicht auf seine Antwort wartete.
»Du hast mich vorher mit dem Arsch nicht angeguckt. Und plötzlich willst du mein bester Freund sein? Oder was auch immer?«
»Ich fand es einfach scheiße wie die anderen dich verarscht haben.«
Ein verächtliches Prusten platze Anna heraus. Ihre Stimme wurde schroffer.
»Das hat dich früher auch nicht interessiert.«
Mit schnellen Schritten trat Anna ihren Heimweg an, ließ den verdutzen Ralf hinter sich. Das verzweifelte »warte«, welches er ihr hinterherrief, ignorierte sie. Was zur Hölle erwartete er von ihr? Dass sie ihm um den Hals fiel? Ihn wie ihren Retter feierte? Er hatte ihr geholfen. Dieses Mal. Die vielen Male davor stand er wie alle anderen in der grölenden Menge und sah zu. Warum er sich dazu aufraffte ihr zu helfen, war Anna ein Rätsel. Dieses Verhalten passt nicht, wirkte völlig skurril. Nach all dem, was sie erlebt hatte, fasste sie nicht schnell Vertrauen. Sie schützte sich selber. Auch wenn dies sie weiter in die Einsamkeit trieb.
Anna öffnete die mit gelbem Ornamentglas durchzogene Eingangstür ihres Hauses. Mit einem stumpfen Poltern ließ sie ihren Rucksack in den kleinen quadratischen Vorflur plumpsen. Unter der schwarzen Garderobe, die an der rechten Wand befestigt war, stand ein silbernes Regal, auf dem sie ihre Schuhe lagerte.
Durch eine weitere Tür betrat sie den Flur. Ihr Augenmerk fiel direkt auf den Eingang zum Wohnzimmer. Trotzdem es helllichter Tag war, herrschte dahinter Dunkelheit.
Anna öffnete die Tür der Stube. Eine dichte Wolke aus Tabakrauch schoss ihr entgegen. Der Geruch von verbranntem Papier und Teer stieg ihr in die Nase. Sie schaute um die Ecke. Auf dem weißen Sofa saß ihre Mutter. Ihr inhaltsloser Blick verlor sich in der Leere des Raumes. Rauchschwaden zogen von der Zigarette empor, welche in ihrer Hand glimmte. Der gläserne Aschenbecher auf dem hellen Marmortisch war unter einem Berg von Asche und Zigarettenstummeln begraben. Drumherum lagen unzählige leere, zerknüllte Zigarettenschachteln. Das große Panoramafenster, welches gegenüber des Sofas lag, war mit dunklen Decken abgehängt worden.
Langsam betrat Anna das Wohnzimmer. Mit ihren Ellenbogen stützte sie sich auf die Lehne des braunen Ledersessels.
»Hallo Mama.«
Ohne den geringsten Anflug einer Reaktion verlor sich der Blick ihrer Mutter weiter im Nichts. Anna wartete einige Sekunden, dann verließ sie das Wohnzimmer. Während sie sich entfernte, nahm Kelandra einen Zug von der Zigarette, stieß den Qualm aus und erstarrte wieder in ihrer ursprünglichen Position.
Anna stiefelte hinauf in ihr Zimmer. Stöhnend ließ sie sich auf das Bett fallen. Regungslos lag sie dort und starrte die weiße Decke an.
Aus dem Augenwinkel entdeckte Anna etwas Helles. Sie richtete sich auf. Da lag er, direkt auf ihrem Nachtlicht. Ein weißer Briefumschlag. Anna griff nach dem Papieretui. Sie wendete ihn. Auf der vorderen Lasche stand ein Absender.
»Dr. Boris Grost, Große Johannisstraße 10, 20457 Hamburg.«
Hastig riss Anna den Umschlag zur Hälfte auf. Gespannt auf seinen Inhalt, zerrte sie das Papier unsanft aus dem Spalt. Sie entfaltete das nun zerknickte Schriftstück. Der Text darin war maschinell geschrieben. Fettgedruckt sprang ihr sofort die Betreffzeile ins Auge.