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»Der weiße Dämon.«

Kapitel 4

»Wir erwarten dich!«

»Liebe Anna«, lauteten die ersten Worte des Briefes, den sie fest umklammert hielt und mit weit aufgerissenen Augen anstarrte.

»Schon während ich diese Zeilen schreibe, kann ich es kaum erwarten eine Antwort von dir zu erhalten. Mein Name ist Dr. Boris Grost. Ich bin ehemaliger katholischer Pfarrer und nun Buchautor. Ich beschäftige mich mit Okkultismus und übernatürlichen guten sowie bösen Mächten.

Ich habe von deiner Begegnung mit einem Wesen, der als weißer Dämon bekannt ist, gehört. Gerne würde ich mit dir darüber sprechen. Meine Kontaktdaten findest du in der Fußzeile dieses Briefes. Ich würde mich sehr über einen Anruf oder eine schriftliche Antwort von dir freuen.

Mit freundlichen Grüßen,

Dr. Boris Grost.«

Mit offenem Mund und fahrigem Blick ließ Anna den Brief auf ihren Schoß sinken.

»Was zum Teufel geht hier vor? Wer ist dieser Mann? Woher weiß er von dem weißen Wesen?«

Fragen rotierten in Annas Kopf. Niemand außerhalb ihrer Familie wusste von der Begegnung. Und die taten es als Albtraum ab. Machten sich darüber lustig. Hielten das hellhäutige Monster für ein Hirngespinst und Anna für bekloppt. Wie also hatte dieser Mann davon erfahren?

Annas Augenmerk fiel auf einen handgeschriebenen Satz, welcher am Briefende hinzugefügt wurde.

»P.S.: Entspricht diese Darstellung deiner Sichtung? (Bitte Blatt wenden!)«.

Sie folgte der Anweisung. Ungewiss und mit Sorge vor dem, was sie auf der Rückseite erwarten würde. Eine Art Phantombild des Wesens? Erstellt auf Grundlage ihrer Beschreibung? Zwar war Anna nicht klar, wie dieser fremde Mann an ihre Darstellung des Monsters hätte kommen sollen. Aber schon die Tatsache, dass er davon wusste, ergab für sie keinen Sinn.

Anna schrie auf. Sie stieß den Brief von sich. Tränen füllten ihre Augen.

Auf dem Rücken des Schriftstückes war die Kopie einer Buchseite abgedruckt. Allem Anschein nach handelte es sich um ein altes Buch. Viele kleine Risse säumten die Ränder, wodurch die Kanten des in dunkelgrauer Farbe gedruckten Blattes wie der Horizont einer Berglandschaft anmuteten. Die schuppenartige Beschaffenheit der Seite ließ darauf schließen, dass dieses Buch auf mittelalterlichem, aus Tierhäuten gewonnenem, Pergament geschrieben wurde. Ein in Frakturschrift verfasster Text umrandete eine große Zeichnung. Für Anna waren die schnörkeligen Buchstaben kaum zu entziffern. Doch sie erkannte es. Den dürren, spinnenartigen Körper. Die gestreckten, sehnigen Arme und Beine sowie die langen, knochigen Finger. Den gesichtslosen, gespaltenen Kopf. Anna spürte, wie es sie selbst durch die Zeichnung anglotzte. Das Wesen, das sie in ihrem Schlafzimmer heimsuchte. Welches ihr jahrelange Albträume und panische Furcht vor der Finsternis bescherte. Das Wesen, das Franks Verschwinden verantwortete. Dessen war Anna sich sicher.

»Was denkst du dir eigentlich?«, stieß Nina ein Brüllen entgegen, als sie die Haustür der Stadtvilla öffnete. Der Korpus des großen Hauses mit den weißen Außenwänden und den vielen hohen Fenstern wirkte von vorne wie ein riesiger Würfel. Oben thronte ein flaches, mit marineblauen Schindeln belegtes Spitzdach.

Nina trat in den ausladenden Flur. Der graue Marmorboden und das hellgraue Mauerwerk ließen den Raum fast wie einen OP-Saal wirken. Nur die Holztreppe, mit dem schwarzen wandartigen Geländern und der sandsteinernen Wand, welche an der linken Seite hochgezogen war, schufen einen erfrischenden Kontrast.

»Schon wieder musste ich aus dem Büro kommen, weil ich einen Anruf von der Schule erhalten habe.«

Bernd Klock stand mit verschränkten Armen vor seiner Tochter. Bedrohlich baute er sich vor ihr auf. Ninas Vater war ein . Mit breiten Schultern und ausladendem Bauch. Seine fast bis auf die Wurzeln geschorenen dunkelbraunen Haaren täuschten nicht darüber hinweg, dass sich eine kahle Fläche auf seinem Kopf bildete. Ein gestutzter Dreitagebart warf einen Schatten auf den kantigen, mit einem Doppelkinn unterlegten Kiefer. Er trug einen maßgeschneiderten, anthrazitfarbenen Anzug und ein weißes Hemd, unter dessen gestärkten Kragen eine hellblaue Krawatte gebunden war. Die grauen Lackschuhe vervollständigten sein Ensemble.

»Stimmt es, dass ihr Anna in die Trinkflasche gepinkelt habt?«

»Papa, ich hatte damit nichts…«.

Bevor sie ausreden konnte, polterte er ihr dazwischen.

»Was läuft nur verkehrt bei euch? Das arme Mädchen hat gerade erst ihren Bruder verloren und ihr habt nichts Besseres zu tun als sie zu quälen?«

»Aber ich war das…«.

»Hör auf mir irgendwelchen Bullshit zu erzählen. Du hast ihr vielleicht nicht selbst in die Flasche gepisst. Aber alle anderen Kids sagen einstimmig, dass es deine Idee war! Anna war deine beste Freundin. Was ist mit euch passiert? Ach, ich will es gar nicht wissen!«

»Ich…«

»Erst wirst du beim Stehlen von Schuleigentum erwischt, was du wirklich nicht nötig hast. Und jetzt das!«

Bernd wandte sich von seiner Tochter ab und stapfte einige Schritte den Flur hinauf. Nina holte Luft, die nächsten Worte schon auf der Zunge. Doch ihr Vater kam ihr zuvor.

»Eine Woche kein Taschengeld.«

»Was?«, schrie Nina auf. »Mein Geld von letzter Woche ist aber schon weg!«

»Wofür hast du in einer Woche dreihundert Euro ausgegeben?«

»Dies und das.«

»Egal, eine Woche kein Taschengeld. Und deinen Ferientrip zum Skilaufen kannst du auch vergessen, es sei denn, du finanzierst es dir selbst.«

»Das kannst du nicht…«.

»Das kann ich und das werde ich. Du solltest dich dankbar schätzen. Ich konnte den Schulleiter wieder mit einer kleinen Spende überreden, dir und deinen Freunden keinen Schulverweis zu geben! Wer weiß, wie oft er sich noch darauf einlässt!«

»Ja aber…«

»Deine Mutter ist schon irre geworden. Willst du, dass es mir genauso ergeht? Soll ich genauso enden wie sie? Dann mach nur so weiter.«

Er legte seine Hand an den Kopf seiner Tochter und gab ihr einen Kuss auf die Stirn.

»Ich liebe dich trotzdem«, sagte er mit erschreckend sanfter Stimme. »Magda kommt gleich und macht dir Essen. Danach kümmert sie sich um den Haushalt. Die Pfleger müssten auch jeden Moment wiederkommen.«

Er stiefelte an seiner Tochter vorbei, riss die Haustür auf und war verschwunden. Nina lauschte dem Motorengeräusch seines wegfahrenden Wagens, dass in der Ferne verhallte. Dann marschierte sie die hölzerne Treppe in das Obergeschoss hinauf.

»Wer ist da?«, ertönte eine piepsige, fast kindliche Stimme. Ein neckisches Kichern folgte.

»Ich bin es Mama«, antwortete Nina in genervtem Ton. Sie guckte zu dem Zimmer am Ende des mit blauem Teppich ausgelegten Flures. Die Tür stand einen Spalt offen. Dahinter war es finster. Nina schlich auf die Tür zu.

»Wer ist da?«, hallte es ein zweites Mal.

Das Zimmer erreicht, öffnete Nina die Tür etwas weiter und steckte ihren Kopf in den Raum.

»Ich bin es Mama!«

»Die kleine Fotze ist wieder da«, kicherte ihre Mutter wie ein Kind, dass zum ersten Mal ein böses Wort gesagt hatte. Laura Klock lag auf einem Krankenbett mit einer pfirsichfarbenen Matratze. Sie trug einen hellgrünen Schlafanzug. Und weiße Fesseln um ihren ganzen Körper. Sie war fest an die Liege fixiert. Neben ihren Armen und Beinen schlangen sich die breiten Nylongurte um ihren Oberkörper, zwischen ihren Beinen hindurch bis über die Schultern. Einzig ihr Kopf war frei, den sie dementsprechend ausschweifend bewegte. Sie wandte sich ihrer Tochter zu.

»Fotze, Fotze, Fotze«, stimmte Laura einen fröhlichen Singsang an. Ihre zerzausten blonden Haare wippten auf ihrem Schopf hin und her.

Anfangs war Nina erschrocken, wenn ihre Mutter solche Worte zu ihr sagte. Insbesondere der Vorfall mit Anna hatte seine Spuren bei ihr hinterlassen. Aber mit der Zeit hatte der Zustand ihrer Mutter seinen Schrecken verloren. Jetzt war sie für Nina nur eine arme verwirrte Frau, die geistlos irgendwelche Schimpftiraden losließ. Sie war gefesselt, so dass nichts passieren konnte. Und Nina hoffte, dass die Gurte halten würden. Denn sie war nicht imstande sich auszumalen, was geschehen würde, wenn sie freikäme. Das Bild des blutverschmierten Badezimmers aus der Nacht ihres Zusammenbruchs, hatte sich tief in Ninas Gedächtnis gebrannt.

»Ich will dich aufschlitzen und dein Fleisch kosten!« Laura verfiel in schallendes Gelächter. Mit ihren weit aufgerissenen pechschwarzen Augen glotzte sie auf ihre Tochter. Mit Ausbrechen der Geisteskrankheit war der grüne Schimmer aus ihrer Iris gewichen. Stattdessen nahm der gesamte Augapfel eine tiefschwarze Farbe an. Nina hatte keine Erklärung dafür, woher der plötzliche Wandel ihrer Augenfarbe kam. Im Internet hatte sie nichts über dieses Phänomen gefunden. Gerne hätte sie einen Arzt dazu befragt. Aber Nina war es nie gestattet, ihre Mutter bei Arztbesuchen zu begleiten. Ihr Vater war bemüht, dass sie ihre Mutter so selten wie möglich in diesem Zustand sah. Bis nach einigen Monaten die Arztbesuche ausblieben. Und ihre Laura an dieses Folterinstrument gefesselt wurde. Auch wenn er es ihr nie erzählte, Ninas Vater tat alles, um die Krankheit ihrer Mutter vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Die Pfleger, die ihre Laura betreuten, hatte ihr Vater privat angestellt. Er bezahlte sie gut. Dafür verpflichteten sie sich jedoch, über alles Stillschweigen bewahren, was in diesem Haus vor sich ging. Und mit einem Bündel Geldscheine in der Tasche des einen oder anderen Beamten, hielt er die Behörden auf Abstand und davon ab, lästige Fragen zu stellen. Allen anderen erzählte Bernd Klock, seine Frau hätte ihn verlassen. Und er wüsste nicht, wo sie sich aufhält. Nina fragte sich schon einige Zeit, wie lange das so weitergehen würde. Denn für sie war es eine enorme Belastung, immer dieses dunkle Geheimnis mit herumzuschleppen.

Laura leckte sich mit der Zunge über die Lippen. Speichel tropfte aus ihren Mundwinkeln.

»Du siehst so lecker aus«, krächzte sie.

»Ist klar Mama«, stöhnte Nina und winkte ab.

Sie verließ den Raum und schlenderte auf ihr Zimmer. Es war ein weiterer Tag im Irrenhaus, das sie Zuhause nannte.

»Doktor Boris Grost, guten Tag«, klang eine tiefe sonore Stimme durch den Lautsprecher ihres Smartphones.

Lange hatte Anna mit sich gerungen, ob sie die Nummer auf dem Brief anrufen sollte. Da war dieser Fremde, der ihr dunkelstes und am tiefsten in ihrer Seele vergrabenes Geheimnis kannte. Ein Geheimnis, für das ihre Mutter sie für verrückt hielt. Doch dieser Fremde schien ihr zu glauben. Mehr noch, er schien zu wissen, wovor Anna sich all die Jahre gefürchtet hatte.

»H - Hallo«, stammelte Anna nervös. Mit zitternder Hand drückte sie das Telefon fest an ihr Ohr. Unruhig wanderte sie in ihrem Zimmer auf und ab.

»Hier ist Anna!«

Stille setzte ein. Nur das Knacken der Fingernägel, auf denen Anna herumkaute, hallte durch den Hörer. Wildes Knistern ertönte am anderen Ende der Leitung. Gefolgt von hastigem Atmen und Keuchen.

»Entschuldige. Hallo Anna. Es freut mich, dass du meinen Brief erhalten hast und dich bei mir meldest.«

In Gedanken spann Anna eine Frage zusammen. Anspannung und Aufregung raubten ihr jedoch die Sprache. So dass ihr nur ein Wort über die Lippen drang.

»Woher?«

»Du willst bestimmt wissen, woher ich von dir weiß«, griff Boris Grost die kurzsilbige Frage auf.

Anna nickte. Wohlwissend, dass ihre gestikulierte Antwort ihn nicht erreichte.

»Das würde ich lieber persönlich mit dir besprechen. Dafür würde ich dich gerne Zuhause besuchen kommen. Wäre das möglich?«

Anna ließ das Telefon sinken. Sie atmete tief ein. Der Fremde fragte nach einem Treffen. Bei ihr Zuhause. Was würde ihre Mutter dazu sagen? Würde sie überhaupt etwas von sich geben? Seit Wochen hatte sie kaum gesprochen. Aber würde sie hören, weswegen der Fremde gekommen war, würde sie ihn mit Sicherheit zum Teufel schicken. Sie würde niemanden hereinlassen, der Annas Hirngespinste befeuerte. Schon gar nicht in dieser schwierigen Zeit. Doch Anna verlange es danach, es zu wissen. Woher der Fremde von ihr wusste? Und wie kam er an ihre Adresse?

Anna legte das Mobiltelefon wieder an ihr Ohr.

»Okay!«

Ein breiter Sonnenstrahl fiel durch die gelbe Ornamentglasscheibe der Haustür. Wie zu einem Block geschnitten beschien er die Mitte des kleinen Vorflures und ließ die Staubpartikel glänzen, welche gemächlich durch die Luft schwebten.

Stumm und wie in der Zeit gefangen, schien das Haus zu schlafen. Kein Ton, kein Lüftchen und keine Bewegung regten sich dort.

Bis das Surren der Türklingel die Stille zerriss. Die dunkle Silhouette eines Mannes verdeckte den Schein des Lichtes und ließ den Staub im Schatten verschwinden.

Anna stieg die Treppe zum Erdgeschoss hinunter. Sie öffnete die weiß lackierte Tür, die vom Flur in den kleinen Vorraum führte. Kurz verharrte sie. Mit prüfendem Blick musterte sie die Umrisse, welche sie durch die Tür erspähte. Der Besucher trug einen Hut, war in einen Mantel gehüllt und hielt einen Aktenkoffer in der Hand.

Anna trat an die Haustür. Ihre Stimme flatterte, als sie bei geschlossener Tür mit dem Besucher sprach.

»Hallo?«

»Hallo! Doktor Boris Grost mein Name. Hatte wir vor zwei Tagen telefoniert?« Seine basslastige Stimme klang dumpf durch die verriegelte Tür.

Anna öffnete den Eingang einen Spalt. Soweit, wie es die goldene Sicherheitskette am Rahmen zuließ. Ihr Gesicht wirkte gequetscht, wie sie es in die Lücke presste.

Der Herr vor der Tür nickte ihr freundlich zu und hob seinen Fedora. Darunter kamen zottelige graue Haare zum Vorschein, welche über die Wangen mit einem grauen, krausen Vollbart zusammenwuchsen. Hinter einer kantigen Brille mit breitem schwarzen Gestell grinsten ihr blaue Augen von oben herab entgegen. Der Mann vor der Tür war groß. Mindestens zwei Meter hätte Anna geschätzt. Unter dem geöffneten dunkelgrauen Mantel kam ein weißes, bis zum Hals zugeknöpftes Hemd zum Vorschein, dessen Knopfleiste von einer roten Krawatte verdeckt wurde. Hose, Schuhe und der Aktenkoffer teilten sich dasselbe dunkle Schwarz.

Anna entriegelte die Tür und ließ den Besucher ins Haus.

»Vielen Dank«, honorierte Boris Grost die Geste des Vertrauens. »Es freut mich, dass dieses Treffen so kurzfristig zustande kommen konnte.«

Anna verbarg ihre Nervosität hinter einer ausdruckslosen Mimik. Trotzdem der Herr Freundlichkeit ausstrahlte, konnte sie sich eines unguten Gefühls in seiner Gegenwart nicht erwehren. Etwas Düsteres umgab ihn und verlieh ihm eine unheilschwangere Präsenz.

Boris Grost ließ Mantel und Hut an der Garderobe und betrat mit Anna den großen Flur.

»Ist deine Frau Mutter auch Zuhause?«

»Nein, die ist wohl noch einige Stunden weg«, antwortete Anna, wohlwissend, dass ihre Mutter seit dem Morgen katatonisch in ihrem Schlafzimmer verweilte. »Wollen wir uns ins Wohnzimmer setzten?«

Anna deutete auf den abgedunkelten Raum. Doktor Grost warf einen prüfenden Blick hinein. Ein fragendes Summen auf den Lippen, musterte er das Zimmer von oben bis unten. Dann sah er Anna mit ernster Miene an.

»Wo hattest du die erste Begegnung?«

Annas Augen wanderten die Treppe hinauf. Mit einem Kopfnicken zeigte Boris Grost, dass er verstand.

»Dann sollten wir dort anfangen!«

Anna öffnete die Tür zu ihrem Zimmer. Licht fiel durch das Fenster und tauchte den Raum in einen warmen Schein. Die helle und freundliche Aura ließ nicht vermuten, dass dort finstere Wesen ihr Unwesen treiben würden.

Doktor Grost stützte sich mit den Händen in den Türrahmen und durchwanderte mit seinem Blick den gesamten Raum. Dann trat er hinein.

»Setzten wir uns erst einmal«, schlug er vor.

Anna folgte ihm. Als würde sie den Raum ebenfalls zum ersten Mal betreten, sah sie sich suchend um. Boris Grost deutete aufs Bett.

»Darf ich?«

Anna nickte. Während er Platz nahm, setzte sie sich im Schneidersitz vor ihm auf den Boden.

»Dein Vater«, begann Doktor Grost. »Er hatte mich kontaktiert. Als er von dem Verschwinden deines Bruders hörte, war er in Sorge.«

Annas Brauen legten sich tief über ihre Augen. Den Kopf leicht zur Seite geneigt lauschte sie, ob sie sich verhört hatte. Ihr Vater? Seit neun Jahren war er wie vom Erdboden verschluckt. Er hatte ihre Mutter, ihren Bruder und besonders sie im Stich gelassen. Ohne ein Wort des Abschieds war er von einem auf den anderen Tag verschwunden. Und nun nahm er Kontakt auf, über einen Fremden, weil er in Sorge war? Das konnte und das wollte Anna nicht glauben.

Stampfend sprang sie auf. Innerlich kochend, schoss ihr das Blut in den Kopf und ließ ihr Gesicht tiefrot anlaufen. Die Kiefer fest aufeinandergepresst, knirschten ihre Zähne unter dem Druck. Ihre Nüstern bebten.

»Und warum sind sie jetzt hier und nicht er?«, brüllte Anna.

Beschwichtigend hob Doktor Grost die Hand. Seine Mundwinkel hoben sich dezent zu einem Lächeln. Trotz der ungezügelten zur Schaustellung von Wut bewahrte der grauhaarige Mann seine Contenance und ließ ihren Ärger an sich abprallen.

»Bitte, wenn du dich beruhigst, dann werde ich versuchen es dir zu erklären.«

Schnaubend ließ Anna die Schultern hängen. Ihre Gesichtszüge entspannten sich. Das Rot wich von ihren Wangen. Mit resignierendem Stöhnen begab sie sich in ihren Sitz zurück. Der Herr hatte Recht. Bevor sie ausflippte, sollte sie sich anhören, was er zu sagen hatte. Vielleicht gab es ja eine befriedigende Erklärung. Einen nachvollziehbaren Grund, warum Doktor Grost anstelle von ihrem Vater gekommen war.

Boris Grost fuhr sich durch die zotteligen Haare. Mit seinem Zeigefinger rückte er die Brille auf seiner Nase zurecht.

»Ich würde sagen, ich sollte mich dir erst einmal vorstellen. Mein Name ist Doktor Boris Grost. Ich bin Theologe und Experte für Okkultismus. Letzterem widme ich mich die letzten 20 Jahre und habe bereits viele Bücher zu diesem Thema verfasst.«

»Dämonen«, warf Anna ungeduldig ein.

»Auch damit habe ich mich befasst.«

»Und was hat das ganze mit meinem Vater zu tun?«

Doktor Grost räusperte sich.

»Der weiße Dämon«, fuhr er fort. »Du warst nicht die Erste in deiner Familie, die eine Begegnung mit ihm hatte.«

Unglaube formte Annas Blick. Sie starrte auf den Mund des fremden Mannes. Die Worte, die er sprach, waren unmöglich die Wahrheit. Niemand hatte ihr nach der ersten Begegnung mit dem Wesen geglaubt. Sie war völlig allein, verängstigt und hilflos. Wenn das Monster auch ihren Vater heimgesucht hatte, warum hatte er ihr dann nichts davon erzählt? Oder ihr beigestanden in ihrer Angst? Er hätte die Aussagen ihrer Mutter entkräften können. Ihr nahelegen, dass es kein Albtraum war, sondern die Wirklichkeit. Doch all die Jahre stand sie nun alleine da.

»Nicht mein Vater.« Anna Stimme überschlug sich. »Hätte er das Gleiche gesehen, wie ich, dann wüsste ich das!«

»Dein Vater hatte geahnt, dass etwas Schreckliches passieren würde. Er war der Meinung, er wäre der Grund, warum der Dämon auch dich heimgesucht hatte. Deswegen sah er keinen anderen Ausweg, als euch zu verlassen.«

»Und warum so? Warum ohne ein Wort, ohne Abschied?« Wie die glänzenden Regentropfen, welche Anna so gerne beobachtete, rollten ihr Tränen über die Wangen. Genau wie der Regen tropften sie wie wässrige Perlen auf ihre Hände.

Boris Grost kniete sich vor Anna und legte ihr seine Hand auf die Schulter.

»Ich wünschte, ich könnte dir diese Frage beantworten. Das wünschte ich wirklich. Aber ich bin der festen Überzeugung, dass er es nicht mit böser Absicht getan hat.«

Annas Worte ertranken im Fluss ihrer Tränen.

»Was wollen Sie von mir?«

»Ich will dir helfen herauszufinden, warum der weiße Dämon gerade dich heimgesucht hat.«

Anna vergrub das Gesicht in ihren Händen. Tränen rannen zwischen ihren Fingern hindurch und prasselten in dunklen Flecken auf ihre helle Jeans.

»Magst du mir erzählen, was bei deiner ersten Begegnung passiert ist?«

Schniefend sah Anna auf. Ihr tränenüberströmtes Gesicht spiegelte sich verschwommen in den Gläsern seiner Brille.

»Nichts«, antworte sie knapp.

»Nichts?«, wiederholte Dr. Grost ungläubig. »Wenn Menschen mir von Begegnungen mit Dämonen berichten, tragen sie meist Verletzungen davon. Es werden Gegenstände beschädigt und auch Dinge zurückgelassen.«

Anna fuhr zusammen. Der Kummer wich aus ihrem Gesicht und ein Erwachen strahlte aus ihren Augen. Hastig schob sie ihre Hand in die Hosentasche und zog ihr Smartphone hervor.

»Als mein Bruder verschwunden ist, in der Nacht, habe ich etwas unter meinem Bett entdeckt.«

Mit kurzen, schnellen Schlägen wischte sie ihren Zeigefinger über das Smartphone. Dann steckte sie Boris Grost ein Foto darauf entgegen. Es zeigte die Schrift aus Asche.

ET ORP SON.

»Interessant«, entfuhr Doktor Grost gedankenverloren beim Betrachten des Bildes.

»Et Orp Son! Wissen sie was das bedeuten soll?«, fragte Anna hoffnungsvoll.

»Das steht dort nicht geschrieben!«

Anna drehte das Telefon zu sich und sah auf das Display. Verwirrt suchte sie nach Symbolen in der Asche, die sie falsch interpretiert haben könnte. Doch sie kam immer zu demselben Schluss: »ET ORP SON.«

Bevor es Anna möglich war, zu einer Erwiderung anzusetzen, ergriff der Doktor wieder das Wort.

»Um das zu verstehen, musst du wissen, woher die Dämonen kommen.«

Boris Grost nahm seinen Koffer vom Bett und setzte sich zu Anna auf den Boden. Sie zuckte zusammen, als das laute Klacken des Bügels ertönte, der durch sein Hochklappen das Schloss des Koffers öffnete. Beim Anheben des Deckels kam ein chaotischer Haufen zerknitterten Papiers zum Vorschein. Übersät mit bräunlichen, zerlaufenen Ringen, Anna vermutete Kaffee, lagen handschriftlich gefertigte Zettel vermischt mit gedruckten Dokumenten und kaum leserlichen Kopien von Buchseiten. Wie durch eine Explosion verteilt, hafteten bunte Klebezettel unterschiedlichster Größen und Formen überall zwischen dem Blattgewirr. Es wirkte wie die Folge eines Regens aus gigantischen gelben, pinken, neongrünen und hellblauen Konfettis, welche mit Kugelschreiber bekritzelt waren. Aus einer Netztasche im Inneren des Deckels funkelte Anna etwas an. Boris Grost griff hinein und zog einen rechteckigen Spiegel hervor.

»Unsere Welt ist nicht die einzige die existiert. Es gibt noch die Welt der Engel und die Welt der Dämonen. Sie werden im Volksmund irrtümlicher Weise auch als Himmel und Hölle bezeichnet.«

»Also hat der Teufel mir dieses Wesen geschickt?«, unterbrach Anna.

Mit einem Grinsen auf dem Gesicht seufzte Boris Grost.

»Das glauben viele. Aber so etwas wie den Teufel gibt es nicht. Genauso wie es keinen Gott gibt.«

Anna hob eine Augenbraue, während sie ihre Hände fragend reckte.

»Was für ein Pfarrer sind Sie eigentlich?«

»Ich habe das Amt des Pfarrers niedergelegt, als ich erkannte, dass ich jeden Tag eine Lüge predigte. Weder gibt es einen Gott noch eine andere höhere Macht, die sich für die Belange der Menschen interessiert. Für die Wesen der anderen Welten sind wir lediglich Vieh.«

»Vieh?«

»Du hast doch bestimmt schon einmal davon gehört, dass ein guter Mensch in den Himmel und ein Böser in die Hölle kommt. Aber gibt es Menschen die nur gut oder nur böse sind? Nein! Was passiert also nach unserem Tod?«

Boris Grost faltete die Hände wie zu einem Gebet. Anschließend streckte er sie zu beiden Seiten.

»Unsere Seelen werden gespalten. Der gute Teil kommt in die Welt der Engel, der böse Teil in die Welt der Dämonen. Es ist die Essenz, die diese Wesen zum leben brauchen. Davon ernähren sie sich. Und so vermehren sie sich. Denn in der Welt, die den größten Teil der Seele abbekommt, wird ein neues Wesen geboren.«

Das Lachen wich aus seinen Augen. Wie durch Blei beschwert zogen sich seine Mundwinkel nach unten. Der Bass in seiner Stimme erreichte den Tiefpunkt.

»Aber manchmal vermischen sich die Wesen der anderen Welten mit den Menschen. Und das Geschöpf, was dabei entsteht ist furchterregender und mächtiger als jeder Dämon.«

Stille. Anna saß dem grauhaarigen Mann gegenüber und stierte ihn an. Was er sagte, klang so fern jeder Realität, dass sie unter normalen Umständen über diese Geschichte gelacht hätte. Für sie wäre es ein nettes Märchen gewesen. Eine Gruselgeschichte, die man Kindern in Zeltlagern erzähle. Etwas, das als Indoktrination von Sprösslingen bibeltreuer Eltern diente. Um sie auf den Pfad der Tugend zu geleiten. Natürlich ohne den »Es gibt keinen Gott«-Teil.

Aber es waren keine normalen Umstände. Anna wusste, was sie gesehen hatte. Wovor sie sich seit einem Jahrzehnt fürchtete. Wie eine Zecke hatte sich das Bild des weißen Wesens in ihrem Kopf festgesetzt. Und nach all den Jahren war hier nun jemand, der sie ernst nahm. Der ihr glaubte. Und der Antworten zu haben schien. Doch für Anna war dieser Mann noch immer ein Fremder.

»ET ORP SON«, schossen Anna die Worte aus Asche wieder in den Kopf.

»ET ORP SON und eben auch nicht ET ORP SON!«

Anna blickte auf das Smartphone, in dessen mittlerweile dunklem Bildschirm sie die Reflexion ihres Gesichts sah. Der Spiegel. Anna hatte gar nicht gefragt, was es damit auf sich hatte.

»Und was wollen Sie mit dem Spiegel?«

»Ah ja«, sprach Boris Grost wieder in einer freundlichen Stimmlage. »Wenn du mir noch einmal das Bild zeigen würdest.«

Anna schaltete das Display ihres Handys wieder ein. Hell erleuchtet prangten dort die grauen Buchstaben.

ET ORP SON.

Boris Grost hielt den Spiegel vor seine Brust.

»So, jetzt halte dein Handy hoch.«

Anna hob ihr Smartphone auf die Höhe des Spiegels. Sie sah hinein. Die Wörter auf dem Bildschirm hatten sich in ihrem Spiegelbild gedreht.

»Nos Pro Te?«, las Anna vor. »Damit kann ich genauso wenig anfangen.«

»Das ist Latein!«

»Und was bedeutet Es?«

»Das ist schwer zu übersetzen. Aber sinngemäß bedeuten die Worte ›Wir warten auf dich‹ oder ›Wir erwarten dich‹.«

Kaum wurden die Worte ausgesprochen, stand er da. Bedrohlich und starr schwebte er wie eine finsterere Dunstwolke über dem Boden. Der Schattenriss eines dunklen Wesens.

Anna erspähte die dunstige Kreatur im Spiegel. Der Körper aus Nebelschwaden geformt, floss wie ein trüber Wasserfall. So schnell wie das dunstige Wesen erschienen war, verschwand es wieder. Wie eine Wolke, die für eine Sekunde die Sonne verdeckte, zog es vorüber.

»Was war denn das?«, fragte Anna verdutzt.

»Was meinst du?«

Sie sah den Doktor an. An seinen Augen las sie ab, dass er die Nebelkreatur nicht gesehen hatte. Vielleicht, weil sie gar nicht da war? War es nur ein simpler Schatten? Bei dem ganzen Gerede über Dämonen war es gut möglich, dass sie zu viel in ihre Sichtung hineininterpretierte.

»Schon gut«, winkte Anna mit einem Lächeln ab.

Dann schüttelte sie sich etwas, um sich von dem Krabbeln auf ihrem Rücken zu befreien. Sie schnaubte. Dieses kribbelige Gefühl verharrte. Ließ sich nicht abschütteln. Im Gegenteil. Es wanderte an ihrer Wirbelsäule hinauf. Wie Spinnen kraxelte es über ihre Schulterblätter. Sie kratzte sich am Rücken. Und stieß auf etwas. Kalt glitt es über ihre Finger. Annas Blick fiel in den kleinen Spiegel.

Kaum nahm Anna das Krabbeln auf ihrem Nacken wahr, sah sie die spitzen Klauen, welche sich von ihrem Rücken an den Schultern hocharbeiteten. Krallen aus schwarzem Nebel bahnten sich ihren Weg über ihren Körper. Hatten sie in ihren Fängen.

Unter panischem Geschrei schreckte Anna auf. Unkontrolliert schlug sie mit ihren Armen um sich und traf dabei den Spiegel, welchen Boris Grost in der Hand hielt. Das Glas zersprang in tausend Splitter, als es auf dem hölzernen Fußboden aufschlug.

Erschrocken wich der Doktor zurück. In Windeseile war er auf den Beinen. Er umklammerte Anna, die, noch immer wild um sich schlagend, weinend vor ihrem Bett zusammenbrach.

»Es hat mich!«, schrie Anna. »Es hat mich!«

Schweigend saß Boris Grost hinter dem Steuer seines blauen Wagens. Der alte Mercedes C200 stand noch immer vor dem Haus, in dem er das Mädchen besucht hatte. Seine Gedanken schwirrten um die Geschehnisse, die sich hinter den Mauern zugetragen hatten. War dort etwas gewesen? Eine finstere Präsenz? Oder hatte die Fantasie der jungen Frau einen Streich gespielt?

Das Läuten eines, für die Jugend von heute, vorsintflutlichen Telefons ertönte. Es war der Klingelton seines Smartphones. Er zog es aus der Hosentasche. Das Display zeigte einen Namen in Großbuchstaben. Pfarrer Markus.

»Hallo Markus«, meldete er sich, bei Annahme des Anrufs.

»Und, ist sie es?«, klang es durch den Lautsprecher, ohne die Begrüßung zu erwidern.

»Ich bin mir nicht sicher«, sage Boris Grost. »Es gab einen Vorfall.«

»Was für einen Vorfall?«, tönte eine schon fast schreiende Stimme durch den Hörer.

»Sie sagt, sie hätte etwas gesehen, was sie holen wollte. Einen Schatten. Aber ich weiß nicht. Das Mädchen scheint emotional sehr mitgenommen zu sein. Gerade wegen des Verschwindens ihres Bruders. Vielleicht hat ihr Verstand ihr einfach einen Streich gespielt.«

»Also, ist sie es nun, oder nicht?« Die Stimme am anderen Ende wurde immer ungeduldiger.

»Ich kann es nicht mit Bestimmtheit sagen. Vielleicht liegen wir doch richtig und machen hier jetzt nur die Pferde verrückt. Halte Andon und die anderen noch zurück.«

Kurz herrschte Stille.

»Weißt du, je mehr ich darüber nachdenke. Ich glaube sie ist es nicht.«

»Na gut«, raunte die Stimme am anderen Ende unzufrieden. »Aber wir behalten sie im Auge!«

Boris Grost legte auf. Er sah zu dem Haus. Lag er mit seiner Einschätzung richtig? War sie es nicht? Er dachte an den Schriftzug aus Asche. Und die Nachricht, die er verbarg. Wenn sie für Anna bestimmt war, warum war sie dann so verfasst, dass sie den Text nicht entziffern konnte? Vielleicht war es nur eine Täuschung. Eine List, um sie von David abzubringen. Alle Augen auf seine Tochter zu lenken. Und ihn so herauszulocken.

Boris Grost verlor sich in der Grübelei. Er musste seine Gedanken sammeln. Alle Anzeichen deuten und eine Einschätzung treffen. Doch das war hart. Wenn er sich irrte, würde es katastrophale Folgen haben.

Die Hände zur Kelle geformt, schöpfte sie Wasser aus dem weißen Porzellanbecken. Schwungvoll, bevor es durch ihre Finger geflossen war, spritze sie sich das frische Nass ins Gesicht. Das kalte Licht, welches ihr von der Lampe des Spiegelschranks entgegen schien, erleuchtete ihre blauen Iriden. Wie das Gewirr von Ästen in einer Baumkrone durchzogen rote Adern das Weiß ihres Augapfels. Dunkle Ränder säumten die unteren Lider und ließen ihre Augen eingefallen wirken.

Gedankenverloren starrte Anna in den Spiegel, während die Feuchtigkeit aus ihrem Gesicht bis zum Hals hinunterfloss. Was war heute nur passiert? In Anna fuhren die Gefühle Achterbahn. Erschöpfung, Angst, Wut und Neugier rotierten in ihrem Inneren.

Anna sah zurück auf den Augenblick, in dem Doktor Grost sie auf ihrem Bett zu beruhigen versuchte. Den Moment, nachdem die Schattengestalt sie packen wollte. Oder nicht? Nur eine Sekunde hatte Anna dieses finstere Geschöpf erblickt. Kaum hatte sie ihren Blick von dem Spiegel abgewandt, war es verschwunden. Boris Grost versicherte ihr, er hätte nichts gesehen. War dieses Wesen nur ihrem Geist entsprungen? Hatten die Geschichten des grauhaarigen Mannes sie so beeinflusst, dass sie diese in die Realität projizierte?

Anna stülpte sich ihr schwarzes Shirt über den Kopf und ließ es auf den blassblau gekachelten Boden fallen. Ein samtener beiger Büstenhalter kam darunter zum Vorschein, welcher auf ihrer blassen Haut einen recht dunklen Kontrast setzte. Mit klaren Kanten umschlang er ihren Brustbereich und wirkte in seiner glatten Form mehr wie ein Verband. Sie löste die metallischen Haken des Verschlusses, welche sich zwischen den schalenförmigen Körbchen befanden. Gemächlich steifte sie ihre Unterwäsche ab. Mit prüfendem Blick musterte sie ihre spärlichen, spitz zulaufenden Brüste. Immer wenn sie ihren Körper betrachtete, fühlte sie sich wie ein kleines Kind. Nicht wie eine junge Frau. Mit ihren weiten und dunklen Oberteilen versuchte Anna ihre geringe Oberweite zu kaschieren. Neiderfüllt sah sie auf die anderen Mädchen, die mit hautenger Kleidung ihre großen Brüste präsentierten. Und diese machten keinen Hehl daraus, dass sie Anna für ihren, wie sie meinte, knabenhaften Körper verachteten. Beleidigungen wie »Zwergentittchen« oder »hässlicher Junge« wurden wie verbale Kanonenkugeln auf sie geschossen. Allen voran war es Nina, die sich immer wieder neue demütigende Spitznamen für sie einfallen ließ.

Anna wünschte sich, sie wäre schlagfertiger. Oft fielen ihr passende Antworten auf die verbalen Hiebe erst Stunden später ein. Doch auch wenn sie die adäquaten Erwiderungen finden würde. Anna war allein gegen alle anderen.

Sie öffnete die Tür des Spiegelschranks über dem Waschbecken. Neben Zahnpasta, Seife und Deodorant waren dort weiße Waschlappen fein gestapelt. Anna nahm sich einen von ihnen und schloss die Tür.

Es dauerte den Bruchteil einer Sekunde, bis sie bemerkte, dass etwas anders war. Radikal anders. Als ihr Blick wieder in den Spiegel fiel, sah sie, wider Erwarten, nicht ihr eigenes Spiegelbild. Eine Unbekannte gaffte ihr entgegen. Mit krummer Nase, welche dem Rücken einer buckligen alten Frau glich. Die verfilzten Haare hatten ihre ehemals schwarze Farbe in einen gräulichen Schlammton gewandelt und klebten, von Feuchtigkeit durchtränkt, in ihrem Gesicht. Apathisch gafften die blassen Augen, die eine früher blaue Iris vermuten ließen. Der fahle Grauton verlieh ihrer Haut ein kränkliches, fast lebloses aussehen. Ihre Wangen wirkten aufgequollen und die Lippen waren blau angelaufen.

Zu einem stummen Schrei riss die Frau ihren Mund auf. Die Haut ihrer Wangen zerriss wie Papier und rutschte, wie das Stück einer abgerissenen Tapete, von dem Kieferknochen. Schlammiges Fleisch quoll darunter heraus. Große Löcher in den Wangen gaben den Blick auf die mit grünlichem Modder überzogen Zähne frei.

Gleich einem Sturzbach floss Wasser aus ihrer Kehle und rann über ihr Kinn herunter. Bräunlicher Schlamm, Pflanzenfasern und Kiesgestein wurden aus der Mundhöhle gespült. Anna hörte es, wie das Rauschen eines reißenden Flusses. Ein moderiger Gestank stieg ihr in die Nase. Wenn im Sommer die Gräben versiegten und in deren sumpfigen Grund die Kadaver der Fische verwesten, nahm Anna den gleichen Geruch wahr.

Das Wasser ebbte ab. Gurgelnd schossen einige Fontänen stinkender Flüssigkeit aus dem Rachen der Unbekannten. Dann kam der Strom zum Erliegen. Weiterhin waren die Kiefer der Frau weit aufgesperrt. Stille trat ein.

Vom Schock erstarrt gaffte Anna in das fremde Spiegelbild. Mit zitternden Händen hielt sie den Rand des Waschbeckens fest umklammert. In ohnmächtiger Panik schienen ihre Lider verschwunden und die Augäpfel drohten aus ihren Höhlen zu springen.

Ohne eine Bewegung des Mundes ertönte etwas aus der Kehle der Fremden. Wie das Dröhnen von Felsen, welche aufeinander gerieben wurden. Aus dem Lärm erwuchs eine Stimme. Und sie sprach etwas, was Anna einen frostigen Schauer durch ihren gesamten Körper jagte.

»ANNA!«

Ein Schreck durchzuckte sie und Anna sprang einen Schritt zurück. Gepackt von panischer Faszination vermochte sie nicht ihren Blick abzuwenden. Erneut verstummten die Geräusche. Nur der Atem, welchen Anna schwer durch ihre Lungen presste, klang durch das Bad.

Wie zu Eis erstarrt glotze die Frau im Spiegel mit weit aufgerissenem Mund auf sie zurück. Eine minimale Bewegung war es, die Anna zu Anfang erspähte. Ein kurzes Zucken, welches sich in der Kehle der Unbekannten rührte. Etwas Schwarzes bahnte sich seinen Weg durch den Hals nach draußen. Immer weiter kroch es hinauf.

Das Pulsieren ihres Herzens spürte Anna im gesamten Körper. Die Frequenz der pochenden Schläge vervielfältigte sich mit der Erkenntnis, was sich dort aus dem Rachen wand. Erst war es nur ein Finger. Dann folgte die ganze mit Hornklauen besetzte Hand. Wie eine Schlange, die ihre Beute hervorwürgt, dehnte sich der Hals, als eine weitere Pranke, gefolgt von borstigen Armen, aus der Kehle emporstieg. Die Gewalt der hervorbrechenden Glieder, ließ die Haut der Wangen zur Gänze bärsten. Risse schlugen sich bis zum Ansatz der Ohren. Begleitet von einem markerschütternden Knacken klappte der Knochen des Unterkiefers wie eine geöffnete Falltür herab.

Erschrocken wich Anna zurück. Ihr Schritt traf das auf dem Boden liegende Shirt. Auf den glatten Fliesen glitt es unter ihrem Fuß hinweg. Krachend prallte sie auf die Fliesen. Der Sturz raubte ihr den Atem.

Wie die glatte Wasserdecke eines Sees durchstießen die Klauen die Oberfläche des Spiegels. Was Anna bisher für eine stressbedingte Halluzination gehalten hatte, war dabei in ihre Realität einzutauchen. Immer länger wurden die Arme, welche sich aus der Kehle der geschundenen Frau hervorkämpften. Rot leuchteten die Augen des Kopfes, der den Armen folgte. Mit weiterem Vordringen versagten die Knochen und ein Brechen des Schädels der Unbekannten setzte ein. Unter dem Druck spaltete sich der Gaumenknochen. Wie eine Blüte öffnete sich der Oberkiefer und trennte den Schädel auf. Das Gemisch aus zerborstenen Knochen und Fleischfetzen knickte nach hinten weg und gaben den offenen Hals frei, an dessen Rücken blanke Wirbel herausragten. Wie aus dem Geburtskanal gepresst, stieg das schwarze Wesen immer weiter herauf. Die glühenden Augen glotzten Anna entgegen. Sein mit wulstigen Lippen umrandetes Froschmaul, war zu einem breiten Grinsen verzogen und entblößte eine Reihe scharfkantiger Zähne. Auch sie durchbrachen den Spiegel und reckten sich Anna entgegen. Mit den Klauen in das Porzellanbecken gekrallt, schlüpfte die Kreatur aus der reflektierenden Oberfläche.

Von Furcht gepeinigt, zog Anna sich am Griff der Badezimmertür herauf. Mit wackeligen Beinen, auf den Fliesen schlitternd, floh sie aus dem Raum.

»ANNA!«, hallte aus dem Bad. Ein stumpfes Platschen verkündete die vollständige Ankunft der dunklen Kreatur in Annas Welt.

»Wir erwarten dich!« Boris Grost bekam diesen Satz nicht aus dem Kopf. Er hatte schon viele angebliche Botschaften von Dämonen und Engeln gehört. Das jedoch klang geradezu wie eine Einladung. Und so etwas war dem erfahrenen Okkultismus-Experten neu. War es nur eine Ablenkung, wie er vermutete? Um das Augenmerk auf sie und weg von David zu lenken? Oder weswegen erwarteten sie Anna? Ihn packte die Neugier. Es war ein neues Rätsel, dass es zu knacken galt.

Nachdem die junge Frau sich von ihrer plötzlichen Panikattacke erholt hatte, machte Boris Grost sich wieder auf den Rückweg nach Hamburg. Das Gespräch würden sie zu einem späteren Zeitpunkt fortsetzten. Genau wie er hatte sie viele Fragen. Da war er sich sicher.

So wie er sein Büro betrat, stürzte er sich auf seine Bücher. Seite für Seite wälzte er Lektüren über Dämonen, Engel und andere Geschöpfe, die in der Welt der Mythen und Sagen ihr Zuhause fanden.

Unzählige bunte Klebezettel ragten als Markierungen zwischen den Seiten der Wälzer hervor. Wie umgestürzte Dominosteine zog sich eine Linie von ineinander verkeilten Büchern über den eichenhölzernen Schreibtisch. Nur eines lag aufgeschlagen vor ihm. Er hatte seinen Kopf darauf gebettet, als ihn die Müdigkeit beim Lesen übermannte.

Die Sonne war der Nacht gewichen und hatte dem Mond ihrem Platz überlassen. Wie ein Teppich aus Glühwürmchen funkelten die Sterne am klaren Nachthimmel über Hamburg. Vereinzelt rauschten Autos durch die nahezu menschenleeren Straßen.

Der blasse Schein einer bald verglühenden Kerze brachte das letzte bisschen Licht in das ansonsten düstere Büro von Boris Grost. Die Gläser seiner Brille waren von seinem Atem beschlagen, nachdem diese im Schlaf von seiner Nase gerutscht war. In das Land der Träume gereist, verharrte der grauhaarige Mann ruhend auf seinem Schreibtisch. Bis die Glocken klingelten.

Wie von einem Blitz getroffen schreckte er auf. Brille und Buch stürzten auf den Boden, während Boris Grost verschlafen nach der Quelle des Läutens suchte. Unter den gestapelten Büchern leuchtete der Bildschirm seines eingeklemmten Mobiltelefons auf. Er griff danach. Das Klingeln wurde lauter, als er es aus den Fängen der dicken Bände befreite. Er blickte auf den Namen, den das flimmernde Display anzeigte. »ANNA!«

»Hallo Anna?«, meldete er sich verschlafen.

»Es ist hier!«, drang ein Flüstern schluchzend durch den Hörer.

»Wer ist da?«, fragte er, noch immer mit dem Schlaf ringend.

»Das Monster!«, wisperte das Mädchen mit zitternder Stimme.

Boris Grost sprang auf. Die Müdigkeit war wie mit einem Schlag aus ihm gewichen.

»Das Weiße?«

»Nein, ein anderes.«

»Wo bist du jetzt?«

»Unter meinem Bett.«

»Ich erkläre es dir später, aber ich bin mir sicher, es wird dir nichts antun.«

Anna schluchzte. Obwohl Boris Grost nicht bei ihr war, spürte er ihr Zittern. Ihr keuchender Atem rauschte in Stößen durch das Telefon.

»Es kennt meinen Namen! Es ruft mich!«

»Wie sieht er aus?«

»Rote Augen…breiter Mund, wie…«

»Ein Frosch?«, warf Boris Grost ein. »Schwarze Haut und Borsten am ganzen Körper?«

»Ja«, stöhnte Anna erstaunt.

»Einen Augenblick!«

Boris Grost stockte einen kurzen Moment. Dann eilte er zu seinem Schreibtisch und kramte ein in nachtfarbenes Leder gebundenes Buch hervor. »Meister und Praktiken der schwarzen Magie« prangte in schnörkeliger Reliefenschrift auf dem Deckel. Wild blätterte er die Seiten durch, bis er in der Mitte stoppte.

»Leanne von Roth«, flüsterte er. Das Gemälde einer Frau war auf dem Blatt zu sehen. Mit buckeliger Nase, langen schwarzen Haaren und blauen Augen.

Er blätterte seine Seite fort. Ein weiteres Bild wurde aufgedeckt. Eine Zeichnung. Das Gesicht einer jungen Frau. Boris Grost schreckte zurück. Er hatte unrecht.

»Oh Gott«, hauchte er.

Der Pfarrer musste davon erfahren. Vorkehrungen waren nötig. Wenn es nicht schon zu spät war. Leannes Kreatur hatte Anna heimgesucht. Was nichts Gutes bedeutete. Die Zeit lief ihm davon.

Bevor er in der Lage war, einen weiteren Gedanken zu fassen, krachte ein ohrenzerreißender Schrei durch das Telefon.

»Anna?«, rief er.

Knirschen, Knistern, Zischen. Dann war es still.

»Guten Morgen mein Schatz.«

Mit einem Kuss auf die Stirn wurde Anna geweckt. Aus einem herrlichen Traum erwacht, öffnete sie mit einem Lächeln auf den Lippen die Augen. Sonne durchflutete ihr Zimmer. Das fröhliche Zwitschern der Vögel trug den Klang des Frühlings durch das aufgeklappte Fenster. Das Lächeln erwidernd sah ihre Mutter auf sie hinunter.

»Komm schon Liebling, du musst zur Schule!«

Anna setzte sich auf. Mit den Armen in die Luft gestreckt und einem weiten Gähnen presste sie die Müdigkeit aus ihrem Körper.

»Steh auf du hohle Nuss!«

Frank huschte kichernd an ihrer aufgesperrten Zimmertür vorbei.

»Selber hohle Nuss«, lachte Anna und sprang aus ihrem Bett. Ihrem Bruder folgend eilte sie die Treppe hinunter, direkt in die Küche.

»Guten Morgen Süße!«, begrüßte sie eine tiefe Stimme.

»Morgen Papa«, antwortete sie und gab ihm einen Kuss auf die Wange.

David saß am Küchentisch und las die Tageszeitung. Anna setzte sich dazu. Klirrend rieselten die Cornflakes in die Schüssel, die für sie auf dem Tisch bereitstand.

»Lass mir auch welche über«, forderte Frank.

Anna schob ihm die Packung hinüber. Gierig griff er sie und befüllte ebenfalls seine Schüssel.

»Papa, gibst du mir mal die Milch?«, fragte Anna ihren Vater.

Lautlosigkeit legte sich über das Haus. Alles erstarrte und wirkte wie in der Zeit eingefroren. David sah von der Zeitung auf, mit starrem Blick an die Wand. Auch Frank rührte sich nicht. Stagnierend stierte er in die Leere des Raumes.

»Papa?« Das Wort hallte in einem breiten Echo durch das stille Haus.

»Papa?«

Wie das Zahnrad einer rostigen Maschine drehte sich Davids Kopf stockend zu ihr. Seine Stimme klang anders. Dröhnend, knirschend, nicht menschlich.

»Anna!«

Erschrocken öffnete Anna ihre Augen. Und tauchte in ein finsteres Schwarz ein. Sie befand sich in ihrem Zimmer. Auf dem Boden. Bilder blitzen vor ihrem inneren Auge auf. Erinnerungen an das, was gerade geschehen war. Wie sie unter ihrem Bett Schutz suchte. Vor dem Monster, welches der Spiegel gebar. Das Telefonat, das sie im Flüsterton mit dem Doktor führte, kam ihr in den Sinn. Ihre letzte Erinnerung war ein Gefühl. Das Drohen eines Unheils, das über sie kommen würde.

Auf dem Rücken liegend, starrte Anna in die Dunkelheit. Aus der ihr das Unheil entgegen glotzte, welches über sie gekommen war. Die leuchtend roten Augen und gebleckten weißen Zähne der Kreatur schimmerten bedrohlich aus der Schwärze.

An ihrem Fuß hatte das Wesen sie unter ihrem Bett hervorgezogen. Und so lag sie schutzlos auf dem Rücken. Während sich das mit dicken Borsten übersäte Ding über sie beugte. Mittels der knochigen Arme mit den spitzen Klauen fixierte es Annas Händen direkt neben ihrem Kopf. Die grinsende Froschfratze unmittelbar über ihrem Gesicht schwebend.

»Sie will dich sehen!«, ratterte es zwischen den scharfen Beißern hervor.

Wer war Sie? Anna dachte sofort an die Frau im Spiegel. Schließlich war das Wesen aus ihr erwachsen. Aber was könnte diese Fremde von ihr wollen? War sie ein Dämon in M? Oder handelte es sich tatsächlich um eine weibliche Person? Ihre Gedanken fuhren Karussell. Während sie fieberhaft rätselte, wer die ominöse Sie sein könnte, fragte Anna sich ebenso, was diese Kreatur mit ihr tun würde.

Aus dem schwarzhäutigen Rumpf, welcher an eine Mischung aus Hyäne und Schwein erinnerte, ertönte ein Knacken. Anna spürte, wie etwas Schleimiges auf ihren nackten Oberkörper tropfte. Zäh glitt es über Brust und Bauch hinab zur Hüfte, wo es schließlich auf den Boden sickerte. Anna hob den Kopf und erblickte einen Spalt, der den gesamten Brustkorb des Wesens durchzog. Langsam wurde aus dem Spalt ein großes Loch, entstanden durch die weite Spreizung der Rippen der Kreatur. Mehr und mehr warmes, dickflüssiges Sekret leckte auf Anna herab. Sie begann zu schreien. Zappelnd versuchte sie sich zu befreien, konnte aber dem festen Griff des Monsters nicht entkommen.

»Nein!«, schrie Anna verzweifelt, als ihr ins Auge fiel, was sich den Weg aus dem Rumpf der Kreatur bahnte. Zwei dünne, mit je einer Klaue besetzte Arme tauchten daraus hervor. Durchsichtig wie milchiges Glas, mit roten Venen durchzogen. Die Glieder wirkten verkümmert, wuchsen jedoch immer weiter in die Länge. Schleichend bewegten sie sich auf Annas Gesicht zu. Ihr Atem überschlug sich. Hastig hob und senkte sich ihre Brust. Was hatte dieses verdammte Ding mit ihr vor? Wäre es so weit, würde sie jetzt sterben? Oder ebenso wie ihr Bruder ins Nirgendwo verschwinden?

Mit krabbelnden Bewegungen tasteten sich die mit Krallen besetzten Finger an ihren Wangen hinauf bis zu ihren Schläfen. Schockstarr fror Annas Körper ein. Nur ihre Augen schlugen wie Pingpongbälle hin und her. Die Berührung der kalten, schleimigen Glieder lösten in ihr einen Ekel aus, der sich durch ein trockenes Würgen bemerkbar machte.

Ein stechender Schmerz fuhr ihr durch den Kopf, als die Krallen in ihren Schädel eindrangen. Die Schläfen durchbohrt, drangen die Klauen immer tiefer in Anna ein.

»Ahhh«, stöhnte die Kreatur. Das blutige Rot in den Adern wich einem Pechschwarz, als eine dunkle Essenz durch die gläsernen Arme pumpte. Brennend floss etwas durch die Krallen in Anna hinein. Jeden Augenblick, den die Klauen in ihrem Schädel steckten, wuchs der Schmerz weiter heran. Zu einem unbeherrschbaren Ungetüm der Pein. Von Krämpfen geschüttelt zappelte sie wie ein Fisch auf dem Trockenen.

»Sie wird dich finden«, hauchte das borstige Monster, während es seine Klauen aus ihrem Körper riss. Mit der Schnelligkeit einer Chamäleonzunge zogen sich die kümmerlichen Klauen in den Rumpf der Kreatur. Wie die Zähne einer Venusfliegenfalle fassten die Rippen ineinander und schlossen den Brustkorb. Das dunkle Wesen löste seinen Griff um Annas Hände, machte auf allen vieren kehrt und rannte aus dem Zimmer.

Was war gerade passiert? Anna rührte sich nicht, als sie das Geschehene Revue passieren ließ. Hatte die Kreatur sie vergiftet? Ihre Schmerzen waren verschwunden und sie fühlte sich nicht unwohler als zuvor. Würde das Gift erst später wirken? Aber warum sollte die Kreatur sie töten, wenn diese etwas von ihr verlangte? Erschöpft drehte Anna sich auf die Seite. Unter dem Bett blinke ihr Smartphone auf. Sie hatte es fallen lassen, als die Kreatur sie darunter hervorzerrte. 18 Anrufe in Abwesenheit. Und erneut ging ein Anruf ein.

ANNA

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