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ОглавлениеKapitel 2
Frank
Verdutzt blickte Frank seiner Schwester nach, wie diese wütend und weinend davonstürmte. Das Grinsen wich von seinem mit Tomatensauce verschmierten Mund.
»Das war jetzt krass!«, bemerkte Frank, während er sich eine weitere Gabel mit Spaghetti in den Mund steckte.
»Die beruhigt sich wieder«, sagte seine Mutter.
Er zuckte mit den Schultern.
»Mag sein.«
»Willst du ihren Rest haben?«, fragte mit Annas Teller in der Hand, den sie vom Tisch räumen wollte.
»Ich hab noch«, quoll undeutlich aus Franks vollen Mund.
Nachdenklich sah er auf seinen Teller, noch immer auf der Masse aus Nudeln und Tomatensauce kauend.
»Und wenn es kein Albtraum war?«
»Bist du bescheuert?«, entgegnete seine Mutter, von der Frage sichtlich überrascht.
»Na ja, sie wird immer echt aggro, wenn man sagt es war nur ein Albtraum. Sie sagt immer, es war keiner.«
»Hat sie dich jetzt schon mit ihren Hirngespinsten angesteckt?«
Frank schüttelte langsam den Kopf.
»Ich meine ja nur. Sie scheint zu glauben, es war keiner.«
Seine Mutter beugte sich zu ihm herunter, mit ihrem Gesicht dicht an seines heran.
»Ein weißes Spinnenmonster, bohoo«, sagte sie mit tiefer, kratziger Stimme und begann zu lachen. Sie formte ihre Finger zu Krallen und fuchtelte mit ihren Händen vor seinem Gesicht.
Fragend hob Frank seine Arme.
»Du glaubst an Gott, ist das nicht genauso bescheuert?«
Das Lachen wich aus dem Gesicht seiner Mutter. Und wechselte in Franks.
Das bläuliche Licht des Fernsehers flackerte im sonst dunklen Wohnzimmer und ließ die Schatten über die weiße Raufasertapete tanzen. Schüsse dröhnten aus den Lautsprechern des Gerätes. Auf dem Bildschirm tobte ein wilder Schusswechsel.
Frank schreckte auf. Von der Müdigkeit benebelt blickte er orientierungslos im Raum umher. Erst nach kurzer Zeit erinnerte er sich, dass er im Anschluss an das Abendessen ins Wohnzimmer ging und sich vor den Fernseher gesetzt hatte.
Frank saß in einem klobigen Sessel. Auf den Armlehnen des kastanienbraunen Lederbezugs klafften mehrere tiefe Risse. Mit der verblassten Farbe der Rückenlehne konnte das in die Jahre gekommene Möbelstück sein Alter nicht verbergen. Das Knacken und Knarren, welche es bei jeder Bewegung darauf von sich gab, klang wie das Knurren eines griesgrämigen alten Mannes.
Der Sessel war das Einzige, was Frank von seinem Vater geblieben war, seit dieser sie vor neun Jahren verlassen hatte. Auch wenn Frank seinen Vater kaum kannte, ohne ihn fehlte ein wichtiger Teil in der Familie. Er merkte oft, dass es seiner Mutter ebenso erging. Dennoch war der Verbleib von David ein Thema, das nicht angesprochen werden durfte. Hatte Frank das Bedürfnis über seinen Vater zu reden, erhielt er meist dieselbe Antwort: »Es ist besser, dass er weg ist!« Frank hatte keine Ahnung, wo sein Vater war. Warum er ging. Und er bekam keine Antworten. Diese Ungewissheit fraß sich durch Franks Seele wie ein Krebsgeschwür. Sie nagte an ihm, zermürbte ihn förmlich. Nach Außen zeigte er es kaum. Für seine Mutter spielte er das unbekümmerte Kind. Jeden Tag focht er einen elendigen Kampf, um zu verhindern, dass sein leidvolles Innerstes nicht die vor Glück strotzende Fassade bröckeln ließ, die er sich mühsam aufgebaut hatte.
Frank rutschte von dem Sessel herunter. Noch immer lag ihm das Abendessen schwer im Bauch. »Deine Augen sind größer als dein Magen«, bekam er immer wieder von seiner Mutter zu hören. Und auch bei diesem Essen war der letzte Bissen einer zu viel gewesen.
»Aua«, stieß Frank aus. Schlaftrunken war er mit dem Knie gegen den massiven, hellen Marmortisch geknallt, dessen kurze Seite direkt zum Sessel ragte. Die mit Ornamenten umrandete Tischplatte stand auf einem dicken Sockel. Es war ein alter Tisch, der seinen Großeltern gehört hatte. Er thronte vor einem Stoffsofa. Der ehemals weiße Bezug, welcher durch den Tabakgenuss seiner Mutter eine gelbliche Färbung angenommen hatte, stand in intensivem Kontrast zum dunklen Sessel.
Frank schaltete den Fernseher aus. Er rieb sich die Augen und gähnte beim Heraustreten aus der Wohnzimmertür. Schlaftrunken erreichte er die Treppe. Kurz war er unentschlossen, ob er für den Weg hinauf die Lampe, welche auf mittlerer Höhe des Aufgangs hing, anschalten sollte. Doch als die hellen Strahlen in seine Augen stachen, entschied er sich rasch, das Licht wieder auszuschalten. Mit gemächlichen Schritten stapfte er Stufe für Stufe in das obere Stockwerk des Hauses.
Vorbei an Annas Raum ging er direkt auf sein Zimmer zu. Verwundert blieb er stehen und drehte sich um, kurz bevor er seine Tür erreichte. Er sah zurück. Es war dunkel. Warum war es dunkel? Frank konnte sich nicht erinnern, ob er schon einmal gesehen hatte, dass kein Lichtschein unter der Tür von Anna leuchtete.
»Hatte Anna auf Mama gehört?«, fragte sich Frank. Es wäre für ihn etwas Neues gewesen. Die Diskussion über das Nachtlicht wurde in ihrer Familie mindestens einmal die Woche geführt. Und auch die Drohung, es zu entsorgen, stieß ihre Mutter öfter aus, als Frank es zählen konnte.
Nun war das Licht aber aus. Frank zuckte mit den Schultern. Das war mal eine Abwechslung. Vielleicht würden die gemeinsamen Essen in Zukunft friedlicher und mit weniger Geschrei ablaufen. Also langweilig.
Noch etwas war merkwürdig. Frank konnte nicht erfassen, was es war. Es war einfach da. Ein Gefühl, eine Ahnung. Die Luft hatte sich verändert. Sie war drückender, zum Schneiden dichter. Sie roch fremd, schmeckte anders. Ein beißendes Aroma traktierte seine Riechzellen. Ein fauliger Geschmack legte sich auf seine Zunge. Schwefel. Frank kannte diesen Geruch. In der Schule hatten sie damit experimentiert. Doch hier hatte er es noch nie gerochen. Frank witterte etwas Finsteres. Ein ungutes Gefühl stieg in ihm auf. Das Gefühl, er wäre nicht alleine in der Dunkelheit der Nacht. Doch, als er sich umsah, stand er einsam auf dem Flur.
Frank betrat sein Zimmer. Das silberne Mondlicht schien durch das blanke Fenster. Der reflektierte Schein des Erdtrabanten stand Annas Nachtlicht in puncto Helligkeit kaum nach. Zum Schlafen bereit, streckte er unter Gähnen seinen Körper in voller Länge aus. Mit einem Schwung schlug er die schwarze Decke auf seinem von einem grauen Metallgestell umrandeten Bett zurück. Geschmeidig ließ er sich auf das weiße Laken gleiten und legte seinen Kopf auf dem ebenfalls schwarzen Kissen ab. Dann drehte er sich. Frank war ein Bauchschläfer. Weder Seite noch Rücken fand er bequem.
Seine Gedanken wanderten wieder zu seinem Vater. Er hatte nicht viele Erinnerungen an ihn. Jedoch wusste er noch, dass David ebenfalls gerne auf dem Bauch schlief. Als er jünger war, sprang Frank seinem Vater mit Vorliebe auf den Rücken, um ihn am Morgen zu wecken. Sie spielten und rauften anschließend im Bett, bis sie zum Frühstück gerufen wurden. Lebhaft erinnerte sich Frank an den vollen braunen Bart, den sein Papa im Gesicht trug. Gerne vergrub er seine kleinen Finger darin und hielt sich an den Haaren fest. Frank genoss die Zeit mit seinem Vater.
Er dachte an die Erzählungen über David. Seine Großmutter hatte ihm viel über seinen Vater erzählt. Nachdem er verschwand, erfuhr Frank einzig von seiner Oma Einzelheiten über ihn. David und Frank hatten eine besondere Beziehung zueinander. Eine Verbindung, wie nur Vater und Sohn sie teilten. Als Vater hatte er ein Gespür dafür, wie Franks Befinden war. Auch wenn der kleine Junge noch kaum sprach. Selbst wenn er nicht bei seinem Sohn war. Als Vater wusste er genau, wann sein Sohn ihn brauchte. So merkte er es, dass Frank eine Krankheit ausbrütete, noch bevor das Kind es tat. Er war immer zur Stelle. Wie ein Superheld ohne Kostüm. Bis er eines Tages nicht mehr kam.
Frank seufzte leise. Je länger sein Vater fort war, desto öfter dachte er an ihn. Immer wieder begegnetem ihm Bilder, Geräusche oder Gerüche, die ihm einen kleinen Augenblick den Eindruck vermittelten, David wäre bei ihm. Wenn die anderen Kinder aus der Schule abgeholt wurden, starrte er oft hoffnungsvoll auf das Eingangstor. In der Erwartung, dort seinen Vater zu sehen. Mit seinem beruhigenden Lächeln würde er auf ihn warten. Ihm einen Kuss auf die Stirn geben und mit ihm nach Hause fahren. Doch Tag für Tag wartete Frank vergeblich.
Gerade jetzt hätte er seinen Vater gebraucht. In diesem Moment. In dem das Gefühl eines lauernden Unheils sich noch immer in ihm rekelte.
Von Müdigkeit übermannt schloss er die Augen. Atmete tief ein. Und riss sie wieder auf. Was war das? Dieses Geräusch? Es klang wie das Knarren des Fußbodens. Das Ächzen der Holzdielen ging ihm durch Mark und Bein. Frank lauschte in die Stille. Machte die unheimliche Aura dieser Nacht ihn überempfindlich? Spielte sein Kopf ihm diese Geräusche nur vor? Annas Gerede von ihrem Albtraum spukte mit Sicherheit noch in seinem Kopf herum. Und projizierte fiktive Monster in seine Gedanken. Doch warum spürte er dann erneut diese drückende Luft? Diese Schwere, die ihn plötzlich wieder umgab? Der Geruch von Schwefel schwoll abermals an, wie der Odem des Todes. Einmal mehr ein Knarren. Nein, es war keine Einbildung. Das Geräusch war da. Er war hellwach und hörte ihn. Den hölzernen Boden, der schrie. Jemand war in seinem Zimmer. Die Schritte auf den stöhnenden Dielen verrieten ihn.
»Mama? Anna?«, fragte Frank leise. Doch der Eindringling hüllte sich weiter in Schweigen.
Ein feuchtes Zischen fauchte durch den Raum. Gefolgt von einem Knurren. Definitiv, jemand war in seinem Zimmer. Jemand oder … Etwas.
Ein Schatten legte sich über das Bett, dessen Dunkelheit die Wand zu seinem Kopfende verhüllte. Die Last der Finsternis ließ die Luft noch schwerer werden. Sie erdrückte Frank regelrecht.
Er drehte sich auf den Rücken. Nicht Anna, nicht Mama, es war das Etwas, was dort vor seinem Bett lauerte. Das Erste, was er sah, war die leuchtend weiße Haut der riesigen Gestalt. Dann bemerkte er die glänzenden, spitzen Zähne, welche aus einer weit geöffneten Falte lugten, die sich vom Kinn bis zur Stirn über den gesamten gesichtslosen Kopf zog. Und Frank erkannte, dass Annas Albtraum nie einer gewesen war.