Читать книгу ANNA - Christian Ehrhorn - Страница 8
ОглавлениеKapitel 1
Das Nachtlicht
Prasseln. Anna Frey liebte das Prasseln. Sie öffnete das Fenster und lauschte der sanften Melodie der Regentropfen. Mit einem tiefen Atemzug genoss sie den erdigen Duft, den das Gemisch aus Regen und Erde freisetzte. Sie streckte ihre Hand aus und beobachtete die Tropfen, wie sie sanft auf ihre Haut fielen. Gebannt sah Anna auf das Nass, das ihre Finger hinab floss. Ihre Gedanken gingen auf Wanderschaft und reisten in die Vergangenheit. Vor ihrem inneren Auge erblickte sie sich selber. Sie war ein Kind. Nicht älter als vier Jahre. Lachend rannte sie durch einen Vorhang aus Tropfen, den der Regen beim Hinabfallen spann. Die kleine Anna hatte immer wieder versucht, die Regentropfen mit ihrem Mund zu fangen. Während sie voller Freunde in ihren rosa Gummistiefeln von Pfütze zu Pfütze hüpfte. Wie gerne sah sie dabei zu, wie das Wasser zu allen Seiten spritzte, wenn sie in die Lachen sprang.
Heute mit sechzehn Jahren vermisste sie diese unbeschwerte Zeit. Die Zeit ohne Sorgen und ohne Angst.
»Das Essen ist fertig«, tönte es durch die geöffnete Zimmertür.
»Ja Mama, ich komme«, antwortete Anna.
Auf dem Flur war das Trampeln ihres jüngeren Bruders zu hören, der die steinerne Treppe des kleinen Reihenhauses mehr herunterfiel, wie lief.
Anna wischte ihre nasse Hand an ihrem weiten, schwarzen T-Shirt ab, auf dessen Brust ein weißer Totenkopf prangte, und schloss das Fenster. Sie raffte ihre langen braunen Haare am Hinterkopf zusammen und band sie mit dem dunklen Gummi, welches um ihr Handgelenk gelegt war, zu einem Zopf. Anna liebte ihre Haare. Hätte man sie gefragt, würde sie antworten, dass sie das Beste an ihr waren. Sie empfand sich selber als hässlich. Trotzdem sie einen schlanken Körper hatte, wurde ihr Gesicht von kleinen Pausbäckchen umrandet. Noch grässlicher fand sie nur die hellbraunen Sommersprossen, die darauf verteilt waren und sich in einer Spur über ihre Nase zogen. Der Herbst brach an und die Sonne war selten zu sehen. Wodurch man die Pigmentflecke nur leicht erahnen konnte. Doch, genau wie ihr Name es schon verriet, kam der Sommer, kamen sie wieder in ihrer ganzen Pracht zum Vorschein.
Sie nahm ihr Smartphone vom Nachttisch und steckte es in die Tasche ihrer hellen Jeans, auf deren Knien zwei große Risslöcher klafften. Dann schlüpfte sie in ihre schwarz-weißen Sneaker und begab sich aus dem Zimmer.
Anna seufzte. Ihr grauste es jeden Tag vor den Tischgesprächen mit ihrer Mutter. Denn selten verliefen diese friedlich und harmonisch. Von cholerischem Geschrei bis zu körperlicher Gewalt schlug Anna alles von ihrer Mutter entgegen. Und auch dieses Mal würde es nicht anders verlaufen. Da war sie sich sicher.
Seitdem sie alleine mit den Kindern war, hatte ihre Mutter sich verändert. Wut, Frust und Überforderung vergifteten ihr Gemüt, wodurch ihre Nerven gespannt waren wie Drahtseile. Wurde nur ein bisschen daran gezupft, rissen sie und entfesselten einen tollwütigen Dämon in ihrem Inneren. Doch während sie ihren jungen Sohn vor ihren Ausbrüchen bewahrte, wurde Anna regelmäßig von ihrem Groll überrollt.
Anna betrat die Küche, in der der buchenhölzerne Esstisch bereits gedeckt war. Zwei Räume weiter lag zwar ihr Esszimmer, aber dies wurde nur genutzt, wenn sie Besuch hatten.
In einem roten Plastiksieb, welches auf einen silbernen Topf gestellt war, befanden sich Spaghetti. Daneben stand eine weiße Schale mit Tomatensauce. Drumherum platziert waren drei Teller aus hellem Porzellan mit einem blauen Rand. Ihr Bruder Frank war dabei das Besteck auf dem Geschirr zu verteilen. Seine zotteligen braunen Haare fielen ihm bis ins Gesicht und vor seine Augen, weswegen er immer wieder seinen Kopf schüttelte. Er trug ein weißes Shirt mit dem Logo von Superman darauf.
»Eine schlechte Wahl«, dachte Anna, in Anbetracht der Tomatensauce und der Essgewohnheiten ihres kleinen Bruders.
»Du könntest auch mal ein bisschen helfen«, fuhr die Mutter Anna an, sowie sie sich an den Tisch setzen wollte.
Sie wandte den Blick von ihrer Tochter ab, hin zu ihrem Sohn.
»Du bist super mein Spatz«, sagte sie lächelnd und warf eine Kussgeste hinterher.
Frank sah zu seiner Schwester und grinste verschmitzt. Anna stöhnte genervt und verdrehte die Augen, während sie sich auf den Stuhl setzte. Wie Frank es genoss, der Liebling ihrer Mutter zu sein, kotze sie an. Dieser Schleimer ließ keine Gelegenheit aus, um zu beweisen, dass er das bessere Kind war. Nicht dass Anna sonderlich bemüht war, ihm diesen Rang streitig zu machen. Die Verachtung ihrer Tochter gegenüber, stand wie eine massive Steinmauer zwischen Anna und ihrer Mutter. Über die Jahre hinweg hatte diese Mauer an Substanz gewonnen. Weswegen es schier unmöglich für Anna war, sie einzureißen. Sie vermutete, der Hass ihrer Mutter rührte daher, dass sie ihr die Schuld für das Verschwinden ihres Ehemanns David gab. Zwar hatte Kelandra Frey es nie offen zugegeben. Doch hin und wieder ließ sie Sätze fallen, aus deren Kontext Anna diese Vermutung ableitete.
Ihre Mutter stellte eine kleine Schale mit Parmesankäse auf den Tisch, dann setzten auch sie und Frank sich.
»Es ist Freitagabend, habt ihr etwas für das Wochenende geplant?«, fragte Kelandra in die Runde, mit der Nudelkelle Spaghetti aufnehmend.
»Ich gehe morgen zu Tom, wir wollen zocken«, antwortete Frank kaum verständlich mit dem Mund voller Nudeln.
»Schläfst du auch dort?«, fragte die Mutter.
»Weiß nicht«, murmelte Frank nur wenig verständlicher.
»Ich würde gerne morgen Abend ausgehen. Es wäre schön, wenn du dort schlafen könntest.«
Die Mutter strich ihm durch sein braunes Haar. Frank sowie Anna hatten ihre Haarfarbe von ihrem Vater geerbt, während der Schopf ihrer Mutter hellblond war. Insgesamt sahen die beiden Kinder ihrer Mama kaum ähnlich. Lediglich die leuchtend hellblauen Augen hatten sie alle gemeinsam.
»Ich frag«, sagte Frank kurz und knapp, auf das Bändigen der langen Nudeln auf seinem Teller konzentriert.
Der Blick der Mutter wanderte zu Anna.
»Was ist mit dir?«
Anna starrte auf ihren Teller, die Spaghetti in einem Strudel um ihre Gabel rollend.
»Ich wollte morgen ein neues Buch anfangen.«
»Lesen?« Kelandra klang verwundert. »Du bist sechzehn. Geh raus, geh zu deinen Freunden. Mach Party.«
»Welche Freunde?«, murmelte Anna genervt.
»Du hättest sicher mehr Freunde, wenn du nicht immer so eine miese Laune haben würdest. Und lauf nicht immer herum wie ein Junge. Zieh dir mal ordentliche Klamotten an. Mal ein bisschen sexy. Dann findest du auch Freunde. Wäre ich in deinem Alter, würde ich so auch nichts mit dir zu tun haben wollen.«
Anna zuckte mit den Schultern.
»Und wenn wir schon einmal dabei sind«, fuhr ihre Mutter fort. »Wir müssen dringend mal über dein Nachtlicht reden. Du bist kein kleines Kind mehr. Selbst dein Bruder kann ohne Licht schlafen und der ist zwölf.«
Frank setzte ein mit Tomatensauce beschmiertes Grinsen auf, während ihm Spaghetti bis zum Kinn aus dem Mund hingen.
»Du hattest als Kind einen Albtraum. Das ist zehn Jahre her. Komm darüber hinweg. Das ist bestimmt auch ein Grund, warum du keine Freunde hast.«
Zornig blickte Anna zu ihrer Mutter.
»Das mit dem Licht ist meine Sache und geht dich rein gar nichts an«, fauchte sie mit erhobener Stimme.
Das Klatschen hallte durch die gesamte Küche, als die flache Hand ihrer Mutter auf Annas Wange einschlug.
»Du entsorgst das Licht am Wochenende, sonst tue ich das, während du in der Schule bist!«, drohte die Mutter.
Tränen sammelten sich in Annas Augen. Klirrend schmiss sie ihr Besteck auf den Teller.
»Du hast keine Ahnung wie es mir geht!«, schrie Anna.
Kelandra schlug mit der Faust auf den Tisch. Frank zuckte zusammen.
»Ich habe mein eigenes Leben«, schrie sie zurück. »Ich will mich nicht mehr um eine Fünfjährige im Körper einer Sechzehnjährigen kümmern. Es reicht. Werde endlich erwachsen!«
Anna vergrub ihr Gesicht in den Händen. Schluchzen drang darunter hervor.
»Guck dir deinen Bruder an«, wütete die Mutter weiter. »Ich kann ihn nicht einmal bei dir lassen, wenn ich mal ausgehen will, sondern muss ihn zu anderen Leuten geben. Er ist erst zwölf und ich traue ihm viel mehr zu als dir. Das ist doch erbärmlich!«
Während Frank und ihre Mutter weiteraßen, rannte Anna mit tränenverschmiertem Gesicht die Treppe hinauf. In einem lauten Knall gipfelnd, schmiss sie ihre Zimmertür zu. Sie atmete tief durch, das wohlig klingende, metallische Klicken des Türschlosses in den Ohren. Anna zog den Schlüssel aus dem Schloss und legte ihn auf ihren Nachttisch. Dann stellte sie sich an das Fenster.
Gedankenverloren folgten ihre Augen den Regentropfen, wie sie die Scheibe hinunterliefen, sich trafen und vereint ihren Weg fortsetzten. Anna wünschte sich, sie wäre eine dieser Wasserperlen. Jede wurde von den anderen empfangen. Egal wie groß oder klein, langsam oder schnell, schmutzig oder sauber. Alle Tropfen harmonierten.
Nur ein Mensch würde ihr schon reichen. Ein Mensch wie ein Tropfen. Der sie annehmen würde, wie sie ist. Mit all ihren Macken und Fehlern. Und mit allem, was sie erlebt hatte.
Die Nacht brach ein. Anna lag in ihrem Bett. Das Flackern des Fernsehers spiegelte sich in der mit Tropfen gesprenkelten Fensterscheibe. Auf dem Bildschirm lief der Abspann einer Dokumentation über die Löwen in Afrika, welche sie sich bei Netflix angesehen hatte. Neben ihrem Bett auf dem Nachttisch brannte das Nachtlicht. Es sah aus wie eine Laterne aus dem 19. Jahrhundert. Das schwarze, angelaufene Metall vermittelte den Anschein, es würde sich um ein antikes Stück handeln. Die kleine Glühbirne im Inneren und das Stromkabel auf der Unterseite trübten diesen Eindruck etwas.
Anna schaltete den Fernseher aus. Anschließend begab sie sich hinüber zum Fenster. Sie verharrte einige Sekunden davor. Blickte durch das Glas, in ihr Spiegelbild. In diesem Moment sah sie nur ihr eigenes Gesicht. Doch was wäre, wenn ihr dort ein anderes entgegengaffen würde? Das eines Monsters? Anna war bewusst, dass es die irrationale Angst eines Kindes war, die sie trieb. Dass sie sich im Obergeschoss des Hauses befand. Dort war es mehr als unwahrscheinlich, dass jemand vor ihrem Fenster erscheinen würde. Dennoch fühlte sie sich sicherer, wenn die Vorhänge es verdeckten. Sah sie das Monster nicht, würde es sie auch nicht sehen. Anna ertappte sich immer wieder bei diesem kindischen Gedanken. Doch er bot ihr freies Geleit in den Schlaf. Und so zog sie die Vorhänge ruckartig zu.
Wieder im Bett, nahm sie das Smartphone von ihrem Nachttisch und schaltete das Display ein. Das Hintergrundbild zeigte einen rot-weißen Leuchtturm, an dem eine große Welle brach. Anna liebte das Meer. Die Sicht auf die endlose See erfüllte sie mit einem Gefühl von innerem Frieden. Oft stellte sie sich vor, wie sie auf ein Schiff sprang und ohne einen Blick zurück hinaus auf das offene Meer segelte. Gespannt, wohin sie Wind und Wellen tragen würden.
Gedankenverloren sah sie auf den Bildschirm des Telefons. Darauf prangte in schwarze Zahlen die Uhrzeit. 22:45 Uhr. Anna seufzte. Sie war froh, dass ein weiterer anstrengender Tag sein Ende fand. Sie rückte ihr langes weißes Shirt zurecht, das sie zum Schlafen trug. Schlüpfte unter die mit blauer Bettwäsche bezogene Decke. Und schmiegte ihren Kopf an das blaue Kissen, wie an die wohlig weiche Mutterbrust, die sie nie zu spüren bekommen hatte. Sie starrte an die Decke, die vom warmen Schein der Lampe in ein orangenes Licht getaucht wurde. In Gedanken friedlich über das Wasser des offenen Meeres gleitend, setzte sie die Segel in Richtung des fantastischen Landes der Träume.
Anna öffnete die Augen. Und starrte in die Dunkelheit. Hätte sie den Mond nicht hinter den Vorhängen versteckt, würde er sein silbriges Licht durch das Fenster scheinen lassen. Doch so sah sie nur eines. Unendliche Finsternis.
Ein kalter Schauer zog über ihren Rücken. Ihr Innerstes schnürte sich krampfhaft zusammen. Leicht begann sie zu zittern. War sie wach? Oder träumte sie von der Dunkelheit? Nie war es in ihrem Zimmer so düster gewesen. Sie mied die Schwärze der Nacht. Vertrieb sie mit hellem Leuchten.
Anna blickte zur Seite. Auf das Nachtlicht. Ihre Rettung vor der Finsternis. Es war erloschen.
»Warum ist es aus?«, war ihr erster Gedanke.
Es war nicht von ihr ausgeschaltet worden. War es ihre Mutter? Ihr Zimmer war verschlossen. Wie hätte sie das machen sollen?
Sie griff ihr Smartphone. Es war zwei Uhr und 45 Minuten in der Nacht. Anna tastete nach dem Schalter des Nachtlichts, welcher sich am Stromkabel befand. Klick. Nichts geschah. Sie betätigte den Schalter erneut. Erst jetzt bemerkte sie, dass das Kabel ungewöhnlich lose hing. Sie schaltete die Taschenlampe an ihrem Smartphone ein. Dann beugte Anna sich über den Rand des Bettes. Sie spürte, wie die Innenflächen ihrer Hände plötzlich feucht wurden. Ihr Puls begann sich zu beschleunigen, er hämmerte regelrecht. Anna hatte das Gefühl, ihr Herz würde jeden Moment den Brustkorb durchbrechen. Sie schluckte schwer, als sie sich der Düsternis näherte.
Würde etwas unter dem Bett auf sie lauern? Würde es sie packen und unters Bett ziehen? So wie sie es in vielen Vorschauen zu Gruselfilmen gesehen hatte.
Das Licht des Smartphones erhellte das erste Stück unter dem Bett. Anna verfolgte das Kabel des Nachtlichts, welches in der Finsternis verschwand. Der Schein drang weiter in die Dunkelheit vor. An der Wand unter ihrem Bett entdeckte sie die Steckdose, in die das Nachtlicht eingesteckt war. Wie zwei schwarze Augen glotzten sie die Löcher des leeren Anschlusses an. Lose lag das Kabel der Lampe davor.
Hektisch leuchtete Anna den restlichen Teil unter dem Bett ab. Um sich sicher zu sein, dass dort nicht jemand oder Etwas auf sie lauerte. Sie entdeckte ein rosa Haargummi, ein paar rote Socken, einen kleinen blauen Ball und jede Menge aufgetürmten Staub. Jedoch nichts, was ihr gefährlich erschien.
Anna rollte aus dem Bett und ließ sich auf den Boden fallen. Sie schob das leuchtende Smartphone unter das Bett. Ihre Hand griff nach dem Kabel des Nachtlichts.
Ein Knarren. Anna schreckte auf. In Sekundenschnelle schoss ihr Puls in die Höhe. Ihr Atmen wurde schwerer und wandelte sich in ein Keuchen. Sie holte das Smartphone unter dem Bett hervor und durchleuchtete den Raum. Annas Blick wanderte durch das Zimmer. Immer dem Punkt folgend, den der Lichtkegel der Lampe erhellte. Kantige Schatten türmten sich wie gruselige Scherenschnitte an den Wänden auf und wanderten mit dem Licht. Nie hatte sie ihre Zimmereinrichtung so furchteinflößend wahrgenommen.
Mit einem erleichterten Schnauben wandte Anna sich wieder der Steckdose unter dem Bett zu. Doch die Entspannung währte nicht lange. Trotzdem sie im Zimmer nichts entdeckt hatte, hatte sie ein ungutes Gefühl dabei, dem offenen Raum den Rücken zu kehren. Ruhelosigkeit überfiel sie.
Hektisch griff Anna nach dem Kabel. In der Eile rutschte es ihr aus den schweißnassen Fingern. Als sie es endlich fest in der Hand hielt, verband sie es wieder mit der Steckdose. Der warme Schein des Nachtlichts verdrängte die Dunkelheit. Anna atmete tief durch. Sie ließ ein erlösendes Seufzen los.
Mit der Ruhe kam die Erkenntnis, dass etwas anders war. Erst nahm Anna den Geruch wahr. Nur leicht, aber dennoch stechend drang ihr das Aroma von Schwefel und verbranntem Fleisch in die Nase. Gefolgt von einem merkwürdig stumpfen Gefühl in ihren Händen. Fahles Grau hatte sich auf ihren Fingern und der Handinnenfläche ausgebreitet. Sie rieb das feine Pulver zwischen ihren Fingerspitzen.
»Asche?«, stieß Anna verwundert aus.
Sie nahm das Smartphone und leuchtete erneut unter das Bett. Dieses Mal sah sie genauer hin. Sofort fielen ihr die Aschehaufen ins Auge, welche sie zuvor fälschlicherweise für Staub gehalten hatte. Sie waren in Linien aufgehäuft. Ein Muster. Doch Anna konnte es vom Boden aus nicht erkennen.
»Fuck!«, entfuhr es ihr.
Sie kroch unter dem Bett hervor. Die staubigen Finger klopfte sie an ihrem Nachthemd ab. Graue Abdrücke ihrer Hände blieben darauf zurück.
Anna griff die hinteren Pfosten ihres Bettes. Keuchend begann sie mit aller Kraft zu schieben. Elendig heulte der hölzerne Boden, während die Füße des Gestells über ihn kratzten.
Einen Augenblick erstarrte Anna. Trotz der Anstrengung ruhte ihr Atem für einen kurzen Moment. Totenstille herrschte, während Sie betrachtete, was sie freigelegt hatte.
Große, aus Asche geschriebene Lettern gafften ihr entgegen.
ET ORP SON.
Mit wirrem Blick betrachtete Anna die Worte, angestrengt einen Sinn in den Buchstaben zu finden. In Gedanken ordnete sie die Zeichen neu. Wie ein Scrabble-Spieler tauschte sie hin und her. Doch die Lettern ließen keine Bedeutung erkennen.
Ein helles Licht blitzte auf, als sie mit ihrem Smartphone ein Foto von der Ascheschrift machte.
Ihr Herzschlag überschlug sich schlagartig beim Geräusch des erneut krachenden Fußbodens. In Windeseile fuhr ihr Körper herum. Während sie einen Blick in den leeren Raum warf, stöhnte der Boden erneut.
»Der Flur«, kam ihr in den Sinn. Von dort ertönte es, das Knarren, welches ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. Schon oft war Anna aufgrund des Geräusches in der Nacht hochgeschreckt. Zu ihrer Beruhigung waren die Erklärungen dafür meist schnell gefunden. Der nächtliche Toilettengang ihrer Mutter oder das Plündern des Kühlschrankes durch Frank für einen Mitternachtssnack versetzten sie immer wieder in Todesangst. Die rotgetigerte Katze, welche sich mit Vorliebe nachts in ihr Haus verirrte, tat das übrige, um Anna in Panik zu versetzen.
In Gedanken führte sie es sich vor Augen. Wie sie Frank oder ihre Mutter auf dem Flur antraf. Und wusste, dass alles in Ordnung war. Dieses Mal würde es wieder so sein. Dessen war sich Anna sicher. Fast sicher. Wäre da nicht ein Detail, welches nicht in das heile Bild passte. Die Buchstaben aus Asche.
Wieder krächzte der Boden.
Anna nahm ihren Zimmerschlüssel vom Nachttisch. Bedachten Schrittes bewegte sie sich zur Tür des Raumes. Sie erstarrte bei jedem metallischen Klicken, welches das Schloss von sich gab.
Der orangene Schein des Nachtlichts ergoss sich in den Flur und durchbrach die Schwärze der Nacht. Anna trat mit einem Fuß aus ihrem Zimmer hervor. Sie blickte geradeaus. Auf die Treppe, welche in das Erdgeschoss führte. Mit jeder weiteren Stufe hinab verlor das Nachtlicht seine Kraft, bis das Ende der Treppe wieder völlig in der Finsternis verschwand.
Ein Knacken.
Annas Kopf schoss nach links. Es befanden sich zwei weitere Räume im ersten Stock des Hauses. Einen Raum weiter war das Schlafzimmer ihrer Mutter. Und am Ende des Flures lag das Zimmer von Frank. Dessen Tür stand offen.
Anna erspähte etwas. Eine Bewegung. Das Fragment eines Körpers. Rasch war es in Franks Zimmer verschwunden. Es bewegte sich zu schnell, um zu erfassen, was es war. Nur eines konnte Anna erkennen. Klar und deutlich. Und es ließ ihr einen kalten Schauer über den Rücken laufen. Weiß.