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Ein Kind im virtuellen Raum
ОглавлениеUnsere Vorstellung von der Welt, unser Denken, unsere Art die Dinge zu verstehen, hängen eng mit der Erde und unserem Körper, unserer Körperlichkeit in der komplexen Vielfalt des Lebens zusammen. Unser Verstand, unser Bewusstsein, unser Gefühl da zu sein, unsere träge Masse zu spüren, entstehen nicht jedes Mal neu aus dem Nichts. Es werden nicht nur die Gene kopiert und Stück für Stück daraus ein Mensch zusammengesetzt, wie bei einer Maschine. Nein, der ganze Entstehungsprozess eines neuen Erdenbürgers, ist viel vielschichtiger und komplexer und dabei auf den tieferen atomaren Ebenen in einem Netzwerk verankert, das weit über unsere Vorstellungskraft hinausgeht und in dem auch die Geschichte der Menschheit und des gesamten Lebens auf der Erde mit enthalten ist.
Kinder brauchen eine inspirierende Umwelt. Die Erde, die Pflanzen, Tiere und Mitmenschen auf ihr, bieten eine genau zu unserem gewaltigen Geist passende Atmosphäre, so dass sich in den Gehirnen der Kinder, ein Abbild der Welt, mit seiner ganzen unbegreiflichen Vielfalt, formt. Und das sogar auf eine für sie fast lustvollen Art und Weise. Auch die Größe, der Maßstab der Gegenstände um uns herum, prägen unser Verständnis von der Welt. So können wir Körper nur begreifen, wenn wir sie als Kleinkind auch oft genug angefasst, ihre Masse, ihre Trägheit gespürt und dafür ein Gefühl entwickelt haben. Vielleicht ist es theoretisch denkbar, ein Kind nur im virtuellen Raum groß werden zu lassen. Es ist zwar sehr zweifelhaft, ob das wirklich funktioniert, doch hätte ein sich so entwickelnder Geist, ganz andere Vorstellungen von Realität. Für ihn könnten dann fantastische Welten viel mehr Wirklichkeit haben. Und seine Vorstellungen, sein Spektrum der Möglichkeiten woraus die Welt erschaffen sein könnte, wären viel breiter angelegt, als bei uns. Ein Mensch der als Basis seiner Realität nur Nullen und Einsen kennt, täte sich viel weniger mit dem Gedanken schwer, dass Alles aus dem Nichts entstanden ist oder dass es zwar unendlich viele mögliche Kombinationen von Nullen und Einsen gibt, sie aber dabei keine Festigkeit, keine Härte haben und die Wirklichkeit für ihn nur in ihrem Ordnungsschema liegt. Auch Tod oder Zerstörung hätten für einen Menschen im virtuellen Raum eine ganz andere Bedeutung. Bei ihm können ganze, vielschichtig zusammenhängende Welten, einfach gelöscht, als gesamtes Paket entfernt werden. Für uns, die wir im Schwerfeld der Erde groß werden, in der es feste Stoffe gibt die einen großen Widerstand haben und sehr schmerzvoll sich unseren Kräften entgegenstellen können oder Flüssigkeiten, die uns umschmiegen, wie Wasser oder Stofflichkeiten, wie Luft die man atmen kann, für uns ist das sich daraus ergebende Denken von diesen Erfahrungen geprägt. Wir spüren die Kälte, wir hören die Welt und sehen das Licht. Unser Körper und in Rückkopplung dazu unser Gehirn, ist optimal auf das Leben und Überleben in dieser Welt eingerichtet. Wir können die Flugbahn eines Pfeils so intuitiv berechnen, dass er ein weit entferntes Ziel auch tatsächlich trifft. Genauso können wir aus dem Wirrwarr von Geräuschen eine bekannte Stimme wiedererkennen. Wir haben in uns eine feste Vorstellung von Massen, Bewegungen und Kraftwirkungen. Eine Fülle von gespeicherten Abläufen, die uns Orientierung in der Welt geben. Um so fest mit der Erde verankert zu sein, brauchten wir als Kleinkinder die Wirklichkeit. Wir mussten die Dinge anfassen, beobachten und mit ihnen agieren. Damit schafften wir es, in kürzester Zeit uns auf die Lebendigkeit dieser Erde einzustellen. Was wir dabei verlieren, ist die Offenheit für vielfältige Weltensysteme, wie sie entstehen könnten und was ihre Basis ist. Falls die Grundlage allen Seins anders ist als unsere normale Wirklichkeit, hat das zwar keine Auswirkung für unser Leben, würde aber bedeuten, dass wir uns sehr schwer damit tun, solche, uns fremden Vorstellungen zu verstehen. Wir hätten weniger oder kaum Zugang dazu und könnten sie folglich nicht gut bewerten. Ergebnisse aus Experimenten oder theoretischen Überlegungen würden wir dann kritiklos einfach hinnehmen, weil uns in dem Bereich das Gefühl für die Zusammenhänge und die Richtigkeit fehlen. Wir würden sehr logisch rational argumentieren, was aber auch immer einseitig analytisch ist, weil wir auf der rational bewussten Ebene nicht komplexe Zusammenhänge als Ganzes erfassen können. Doch zum Glück haben wir es gelernt unser Wissen aufzuschreiben oder es anders weiterzugeben. So kann man sich jahrelang mit Wissen zu bestimmten Themen beschäftigen und dadurch langsam ein Gefühl für die Richtigkeit einer Idee entwickeln.
Wissen wird nicht vererbt, es muss von unseren Vorfahren weitergereicht und manchmal spielerisch, manchmal mühselig erlernt werden. Eigentlich wird es uns durch die Art wie das Gehirn angelegt ist leicht gemacht, Neues zu lernen. Unser Gehirn ist mit allen Muskeln, mit allen Organen und allen Sinnen körperlich vernetzt und erfasst spielerisch Dinge, begreift die Umwelt, lernt von anderen Wissen, um später komplizierte Probleme zu verstehen und selbständig Lösungen dafür zu finden. Die Schwierigkeit heute besteht nur darin, dass wir immer mehr Wissen lernen sollen, für das wir keinen Sinn sehen und sich das Gehirn umgekehrt auch massiv weigert etwas zu speichern, für das es kein Interesse, keine Begeisterung empfindet. Wir brauchen einen irgendwie gearteten emotionalen Bezug zu dem was wir lernen sollen, sonst nehmen wir das erlebte nicht nachhaltig auf.
Unser Gehirn kann aber nicht nur abspeichern, es kann auch Probleme lösen. Dabei ist es im bewussten Zustand jedoch sehr träge und langsam und wir tun uns mit äußerst verzwickt vernetzten Problemen entsprechend schwer. Einfach fällt uns das Begreifen der Welt im bewussten Zustand nur, wenn die Objekte in einer vertrauten Form vorliegen, wenn sie aus einer typischen Alltagslogik heraus, ohne Bruch erklärbar sind. Wir Menschen fangen zwar immer als Neugeborene mit einem ähnlichen Gehirnaufbau bei null an, erreichen aber über das angesammelte Wissen und die zunehmende Technik, eine immer ausgefeiltere Vernetzung der Nervenzellen und gelangen dabei potentiell zu einem immer höheren Niveaus an Intelligenz - moderner Intelligenz. Sich im tiefsten Dschungel des Amazonas zurechtzufinden und nur mit einem Pfeil und Bogen auf die Jagd zu gehen, Tiere zu erlegen oder die Wirkung der unterschiedlichsten Blätter, Pilze, Beeren oder was auch immer zu kennen, dazu gehört ganz klar auch eine eigene Form von Intelligenz, für die es aber in unserer hochtechnisierten Gesellschaft keine Verwendung gibt. Umso erstaunlicher ist es, dass das gleiche Gehirn in der Lage ist, abstrakte Rechnungen zu durchdringen und daraus einen Bezug zur Wirklichkeit herzustellen, wie sich in der Wüste zu orientieren. Entscheidend ist, wofür wir es tagtäglich in unserem Leben einsetzen.
Es mag ernüchternd sein, dass wir trotz all dem erreichten Niveaus nach einer angemessenen Zeit sterben müssen, die Natur kein Erbarmen kennt. Immer müssen wir unser Wissen der nächsten Generation mühselig aufs Neue mitteilen. Wir wachsen, aber wir altern auch und das wird uns mit in die Wiege gelegt. Anscheinend ist nur so wirklich gewährleistet, dass bei all dem Können sich nicht nur eine kristalline Intelligenz ausreift, die selbst wenn sie alles bisher an Machbaren verstanden hat, doch auf Dauer nur in diesen vertrauten Strukturen verharren würde. Jedes neu erworbene höhere Niveau muss an Wesen weitergereicht werden, die mit dieser Basis als Erkenntnis aufwachsen. Nur bei Kindern und Jugendlichen ist die Intelligenz noch so fluide, dass sie mit dem Neuen, wie mit einer Muttersprache groß werden, um dann von dieser vertrauten Basis wieder weitere kreative, also neue Wege gehen zu wollen und zu können. Bei all der Erfahrung und Weisheit die ältere Menschen haben können, ist Ihr Wille andere, fremde Wege auszuprobieren, durch das viele verinnerlichte Wissen und ihre große Lebenserfahrung blockiert. Es macht sie leicht arrogant, lehrerhaft und sie fühlen sich den jungen unerfahrenen Menschen gegenüber überlegen, doch bringen sie nicht mehr die Kraft auf, riskante Unternehmungen einzugehen, sich auf konfliktreiche, waghalsige Ideen einzulassen. Sie verteidigen Ihre Position und ihre Macht, auch wenn sie spüren, dass nicht alles so stimmen kann, wie sie es gerne hätten. Der Tod ist also auch ein Segen und unser Überleben, unsere Überlegenheit hängt mit dem zusammen, dass wir nicht in einmal geschriebenen Gesetzen erstarren.
Zwischen einem Leben im Urwald und dem modernen Leben in einer Metropole liegen Welten. Was früher die Götter waren sind heute die Götzen der Wissenschaft und Technik. Man mag es bedauern oder mit Freude eine technische Zukunft erwarten, doch wollen wir nicht auf ewig im jetzt-Zustand verharren, können nur unsere Kinder uns weiter bringen. Sie nur passen sich den ständig ändernden Bedingungen optimal an.
Damit wir uns von der eingeschränkten Logik hier auf der Erde im Alltag lösen können, müssen wir uns auch aus unserer gewohnten Umgebung entfernen. Ein Vormensch, der nur seinen Baum in seinem begrenzten Bereich im Urwald kennt, nur in seinem Clan lebt, isst, heranwächst und stirbt, wird keinen Blick für die Welt außerhalb des Urwalds, für vieles, dass es auch zu entdecken gibt, bekommen. Solange die Menschen in Europa noch dachten, die Welt ist eine Scheibe und an den Rändern fällt man herunter, solange verharrten das Wissen und das sich daraus ergebende Weltbild auf seinem Niveau. Doch mit der Entdeckung fremder Länder und Kontinente oder dem Interesse an gesetzmäßigen, logischen Zusammenhängen über den Alltag hinaus, erweiterte sich der Horizont und wir wurden zunehmend in die Lage versetzt, Zusammenhänge zu begreifen, die von universeller Natur sind. Gesetze, die in ihrer Reinform so auf der Erde nicht verwirklicht sind, die sich aber doch hinter der Vielfalt verbergen. So konnte Galilei mit seinem Fernrohr andere Gestirne beobachten, um die sich auch Körper drehten, genau wie in einem Planetensystem. Er sah als erstes den Jupiter und seine vielen Monde und keiner der kleineren und größeren Gesteinsbrocken, die von der Masse des Jupiters auf ihren Bahnen gehalten wurde, interessierte sich irgendwie für die Erde. Für uns hört sich das so belanglos an, doch für die Ohren der Menschen damals war das unerhört. Es gab also auch andere Gestirne, um die sich etwas drehte? Die Erde war damit nicht mehr der Mittelpunkt für alles, obwohl die Kirche dies über tausend Jahre hinweg gepredigt hat? Es waren zwar nur ein paar lächerliche Monde, die sich um den Jupiter bewegten, aber die göttliche Harmonie war damit angegriffen, die Perfektion der alten konstruierten Idee von der Welt zerstört. Galilei experimentierte und hinterfragte, einmal misstrauisch geworden, alles bisher Angenommene und stellte seine eigenen Gesetze auf. Doch entscheidend wirkte sich mit dem so neu gewonnenen Blick hinaus, eine Veränderung der Gesellschaft grundsätzlicher Art aus. Ihn konnte die Obrigkeit, trotz seiner Autorität als Wissenschaftler weit über Italien hinaus, noch verbieten seine Ideen hinauszuposaunen, doch den Wandel des gesellschaftlichen Denkens hielten sie nicht mehr auf. Global, zeitlich gesehen, spielen dabei ein paar Jahre früher oder später keine Rolle. Eine Generation weiter lässt sich niemand mehr die Richtigkeit einer Idee verbieten, für die die Gegenbeweislast unerträglich geworden ist. Für die heranwachsenden Kinder sind die Fundamente der Alten, einmal als falsch erkannt, nicht mehr akzeptabel. Ihre Macht schwindet mit dem Alter und die nachfolgenden Generationen sind ehrgeizig und voller Schwung und gehen ihre eigenen Wege. Und doch halten sich manche Irrtümer länger und andere haben nur eine kurze Lebensdauer. In komplex vernetzten Gesellschaften lässt sich nur vage die Zukunft voraussagen und sie verläuft nicht immer steil nach oben. So gehörte Deutschland vor dem Nationalsozialismus zu den führenden Ländern der Welt im Bereich von Kultur und Wissenschaft, speziell der Physik. Nach dem Krieg war nur noch wenig davon übrig und Amerika übernahm gerne die Lücke, die wir hinterlassen haben und hat sich bis heute, zum mit Abstand mächtigsten Imperium entwickelt, das auch in der Wissenschaft eine führende Stellung einnimmt. Gerade dieser hohe Grad an Komplexität führt umgekehrt dazu, dass potentiell jeder wie ein Schmetterling sein kann, dessen Flügelschlag in China, zu einem Orkan bei uns führt. Wer im richtigen Moment, das richtige sagt und denkt und weit nach oben gespült wird, lässt sich nicht vorhersagen. Entscheiden tut dies aber nicht die Richtigkeit seiner Ideen, sondern auch viele sekundär günstige Bedingungen, auf die keiner einen Einfluss hat, weil sie so schwer zu überschauen und zu viele Mechanismen mit beteiligt sind. Auch werden nicht immer die richtigen Ideen oder die richtigen Menschen erfolgreich oder sogar berühmt. Die Geschichte der Menschheit ist voll von falschen Herrschern und Wahrheiten. Der Mensch ist auch ein Meister im Lügen und im Intrigenspiel. So manches Mal würde man gerne die Zeit rückwärts laufen lassen um im Nachhinein das Geschehene zu korrigieren. Das wir das nicht können und nie können werden, ist trotzdem ein Segen, denn in all dem Bemühen nur Gutes und Richtiges gelten zu lassen, würden wir die Erde wahrscheinlich noch schneller zu Grunde richten als wir es so schon tun. Es ist nur eine schöne Idee, dass alle immer nur das Beste für alle Menschen wollen. Tatsächlich wollen die Meisten sich über ihre Mitmenschen erheben. Reichtum und große Macht ist auch immer ein Ausdruck von Ungleichheit. Solche Positionen erreicht man im Allgemeinen nicht durch Altruismus und übermäßige Menschenfreundlichkeit. Was also, wenn der machtvolle Mensch ganz oben, die Zeit zu seinen Gunsten einsetzen könnte?