Читать книгу Säkulare und religiöse Bausteine einer universellen Friedensordnung - Christian J. Jäggi - Страница 6

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Einführung

Am 6. August 2020 – dem 75. Jahrestag der Atombombenabwürfe in Hiroshima und Nagasaki – gab es auf der Welt laut Angaben des Stockholmer Friedensforschungsinstituts Sipri insgesamt 13’400 Atomwaffen (vgl. Kölling 2020:4). Zusätzlich zu den bestehenden neun Atommächten planten oder arbeiteten weitere Länder daran, eigene Atombomben zu entwickeln oder atomar aufzurüsten, so unter anderem Nord-Korea, Iran, Süd-Korea und Japan.

Im Jahr 2020 verliessen die USA unter Trump das Open Sky-Abkommen mit Russland, das die NATO-Staaten mit Russland 1992 geschlossen hatten und das den USA und Russland bis zu 42 gemeinsame Beobachtungsflüge pro Jahr über dem Territorium der Unterzeichnerstaaten erlaubte. Bis 2020 wurden über 1500 gemeinsame Beobachtungsflüge gemacht. Der Vertrag galt als wesentlicher Baustein der vertrauensbildenden Massnahmen und der europäischen Friedens- und Sicherheitsarchitektur (vgl. DW 2020). Im Januar 2021 verabschiedete sich auch Russland – kurz vor Joe Bidens Amtsübernahme – vom Open Sky-Abkommen (vgl. t-online 2021).

Im südchinesischen Meer verschärfte sich 2020 die politische und militärische Spannung weiter. Zwei ETH-Forscher verglichen im Mai 2020 die Situation im südchinesischen Meer mit dem Spannungsfeld im Persischen Golf (vgl. SRF 2020).

All dies zeigt, dass die Friedensthematik weltweit drängende ist denn je.

Maximilian Zech (2019:43) hat die Ansicht vertreten, dass in der heutigen Zeit „die politische Ordnung auf Prinzipien beruhen [muss], die allen Bürgern – Gläubigen und Nichtgläubigen – einsichtig seien“. Das trifft zweifellos zu, wenn sich der Staat nicht einseitig entweder auf die religiösen Vorstellungen von Gläubigen einer bestimmten Denomination oder auf eine ausschliesslich säkulare Sicht des Lebens ausrichten will. In beiden Fällen droht eine zu enge Ausrichtung auf ein partielles Staatsverständnis wesentliche Teile der Bevölkerung zu ignorieren oder gar zu marginalisieren.

Der israelische Historiker Yuval Noah Harari (2018) hat die Meinung vertreten, dass heute die liberale Demokratie vor zwei grossen Herausforderungen steht: auf der einen Seite vor der Zunahme autoritärer Regimes weltweit und sogar im Rahmen der Europäischen Union, und auf der anderen Seite vor der zunehmenden Dominanz von Big-Data-Algorithmen und künstlicher Intelligenz, welche ihrerseits den politischen Prozess immer mehr beeinflussen – oder wenn man will – verzerren. Dabei vertrat Harari die Meinung, dass in vielen Ländern – so etwa in den USA – die ideologische Kluft zwischen den Parteien deutlich abgenommen habe, vor allem wenn man mit den 1930er oder 1970er Jahren vergleiche. An die Stelle weltanschaulicher Auseinandersetzungen sei der zunehmend polarisierende Versuch getreten, „Emotionen zu entfachen, um die öffentliche Debatte und damit die Basis der liberalen Demokratie zu zerstören“ (Harari 2018). Das ist vielleicht ein Grund, warum im politischen Diskurs – nicht nur in den USA – mehr und mehr Demagogie, Beleidigungen der Gegner, Lügen, Fake News und Verschwörungstheorien an die Stelle von politischen Debatten und Auseinandersetzungen um Sachfragen getreten sind. Emotionalisierende Politiker drängen der Wahrheit verpflichtete Sachpolitiker in den Hintergrund und werden gar von den Wählenden mit Stimmen belohnt, während eine auf Konsens und Gemeininteresse ausgerichtete Politik uninteressant geworden ist. Gleichzeitig – so Harari 2018 – habe das demokratische System die Fähigkeit verloren, sinnvolle Visionen für die Zukunft zu entwerfen. Anstelle des politischen Diskurses sei heute die Praxis gerückt, menschliche Schwächen durch Einflussnahme von Algorithmen auszunutzen und Desinformation zu verbreiten, die oft auch geglaubt wird.

Im Buch „Hidden Agendas: Geopolitik, Terror und Populismus“ (vgl. Jäggi 2017a) habe ich die Hintergründe von geopolitischem Hegemonialismus, Terrorismus und Populismus anhand politikwissenschaftlicher Modelle und Erklärungsansätze diskutiert. In diesem Text geht es darum, hinter die politischen Interessen, Zusammenhänge und Bestrebungen zu schauen und neue Perspektiven für eine länder- und weltanschauungsbergreifende Friedensordnung zu diskutieren. Im Zentrum stehen dabei ethische, aber auch theologische und weltanschauungsbezogene Fragestellungen.

Bruno Latour (2018:11) hat in seinem „terrestrischen Manifest“ die These vertreten, dass die Welt spätestens mit der Wahl Trumps zum US-Präsidenten 2016 an das Ende einer auf ein angebbares Ziel ausgerichteten Politik gekommen sei: „Das ist keine ‚postfaktische‘ Politik mehr, sondern vielmehr eine postpolitische, das heisst buchstäblich gegenstandslose Politik“. Doch stimmt das tatsächlich – oder anders herum gefragt: Waren die früheren ideologischen Auseinandersetzungen zwischen „rechten“ und „linken“ Postulaten nicht häufig lediglich Spiegelfechterei, welche – oft sehr erfolgreich – einzig eine machiavellistische Politik versteckten oder wie die Politologen sagen: eine „realistische Politik“ zum Ziel hatten? Dann wäre der einzige Unterschied zu früheren Zeiten, dass heute die Politik ihre – je nach Standpunkt – weltanschaulichen bis ideologischen Feigenblätter verloren hat. Somit wäre die politische Auseinandersetzung heute einfach ein gnadenloser Macht- und Verteilungskampf aller mehr oder weniger mächtigen Gruppen und Institutionen. Die Frage ist, was das für eine globale und ethisch zu verantwortende Politik heisst.

Federico Ignacio Viola (2014:105) hat mit Blick auf Emmanuel Levinas zur Frage einer ethischen Grundordnung geschrieben: „Die Ethik bezieht sich … auf keine Ordnung, sondern sie besteht gerade darin, die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, was jede Ordnung verwirrt, nämlich auf die Andersheit des Anderen. In diesem Sinne vollbringt die Ethik einen wirklichen Umsturz der ontologischen vernunftmässigen Ordnung. Aber dieser Umsturz kann nicht als Gewalt gedeutet werden. Denn er geht nicht aus einer Konfrontation von entgegengesetzten Mächten hervor, sondern kommt vielmehr gerade aus der Begegnung mit dem, was sich jedem Versuch von Beherrschung entzieht“. Viola (2014:107) spricht in diesem Zusammenhang vom „subversiven Charakter“ der Ethik, aber nicht in dem Sinne, dass es darum geht, irgendetwas zu verbieten oder sich gegen etablierte Institutionen zu wenden, sondern darum, „nach dem Menschlichen in Gestalt einer Beziehung mit dem Anderen“ zu suchen“ (Viola 2014:107). So gesehen hat die Ethik etwas „An-Archistisches“ (Viola 2014:146), also etwas „Unordentliches“ oder „Anti-Hierarchisches“ – aber nur dann, wenn sie nicht einfach die Entscheidung von Gut und Böse, Richtig oder Falsch auf eine äussere Instanz auslagert, etwa ein „göttliches Gesetz“ oder „die Vernunft“ oder ein – wie auch immer definiertes – „Gemeinwohl“. So verstandene Ethik bedeutet immer wieder, gängige Modelle, Vorstellungen und Verhaltensweisen zu hinterfragen, zu ändern, zu verbessern oder gar zu ersetzen. Aber trotzdem ist es immer wieder notwendig, ethische Erkenntnisse institutionell und normativ umzusetzen und zu standardisieren. Wenn man so will besteht darin ein eigentliches ethisches Dilemma: Ethik ist damit dynamisch und rebellisch, aber gleichzeitig auch regulativ und herrschaftsstabilisierend.

Aus theologisch-ethischer Sicht stellt sich die spannende Frage, ob eher eine demokratische Regierungsform im Sinne eines vernunftbasierten Konsensstaates oder eine – in welcher Form auch immer – von Gott geoffenbarte Heilsordnung und theokratische Regierungsform dem geistigen Fortschritt der Menschheit zuträglicher ist. Beide Regierungsformen unterliegen eigenen, spezifischen Gefahren: Auf der einen Seite ist jeder demokratische Staat von der ethischen Integrität der Politiker, vom guten Willen, dem rationalen Verhalten und von der Bildung der Wählenden abhängig. Gerade in jüngster Zeit hat sich gezeigt, dass Demagogen, Populisten oder machtbesessene Autokraten ihre Anhänger und darüber hinaus sogar Bevölkerungsmehrheiten dazu bringen können, ihre Lügen zu glauben, diskriminierenden Massnahmen gegen andere Menschen oder sogar ungerechtfertigten Kriegen zuzustimmen. Auf der anderen Seite hat die Geschichte bis in die jüngste Gegenwart gezeigt, dass „Gottesstaaten“ jeglicher Provenienz immer wieder vereinnahmt, zu Diktaturen umfunktioniert oder von Anfang an zur Legitimation von Tyrannei missbraucht wurden.

Stimmt deshalb die Aussage von Christian Felber (2015:21) in seiner Schrift über Spiritualität, Freiheit und Gemeinwohl: „Gott als politisches Argument taugt nicht und sollte zu Recht aussortiert werden“?

Beide Regierungsformen leben von ethischen Mindeststandards sowohl der Regierungen als auch der Regierten. Letztlich gilt das alte Webersche Diktum, dass sich letztlich keine Herrschaft längerfristig ohne Zustimmung der Beherrschen halten kann (vgl. Weber 1973:144ff.), immer noch. Wenn Menschen guten Willens und mit geistiger Inspiration herrschen, können beide Regierungsformen religiösen Menschen helfen, sich dem Göttlichen anzunähern – ohne deswegen Atheisten oder Agnostiker auszugrenzen oder abzulehnen. Allerdings scheint es, dass in der heutigen Zeit demokratisch-säkulare Regierungsformen eher angebracht sind, unter anderem, weil immer mehr moderne Menschen eigenverantwortlich und autonom leben und handeln. Jedoch kann die konkrete Ausgestaltung einer Demokratie sehr unterschiedlich sein. Es ist auch durchaus denkbar, dass sich in Zukunft demokratisch-theokratische Mischformen entwickeln werden.

Aus ethisch-theologischer Sicht können wir sagen, dass die aktuellen, Gewalt, Hass und Krieg rechtfertigenden sozio-kulturellen Codes (vgl. Jäggi 2009) durch neue sozio-kulturelle Codes ersetzt werden sollten, die auf folgenden Grundprinzipien beruhen:

– Bedingungslose und grundsätzliche Liebe zu allen Menschen, unabhängig von ihren weltanschaulichen, religiösen oder politischen Vorstellungen, unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit;

– Ächtung jeglicher Gewalt, besonders auch von weltanschaulich, politisch oder religiös begründeter Gewalt;

– Frieden als universelles Ziel und Beschränkung der Konfliktaustragung auf gewaltlose Mittel;

– Diversität, Heterogenität und sozio-kulturelle Partikularität als individuelles Recht und als Grundlage der Weltgesellschaft; sowie

– umfassende geistige Entwicklung der Menschheit und der einzelnen Menschen als strategisches Ziel.

Säkulare und religiöse Bausteine einer universellen Friedensordnung

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