Читать книгу Säkulare und religiöse Bausteine einer universellen Friedensordnung - Christian J. Jäggi - Страница 8

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Teil 1: Transsäkulare und transreligiöse Friedensethik

Gertrud Brücher (2002:159) hat vorgeschlagen, die unterschiedliche säkulare und religiöse Sicht als „Generaloptik durch Ein- oder Ausschluss des Immanenz/Transzendenz-Schemas“ zu definieren. Doch trifft das zu? So kann auf der einen Seite auch eine säkulare Sicht eine immanente Transzendenz beinhalten, nur dass diese nicht auf ein Jenseits ausgerichtet sein muss, sondern auch auf ein diesseitiges Kollektiv hin orientiert sein kann, wie etwa im Marxismus auf die „Arbeiterklasse“ oder in einer republikanischen Vision auf „das Volk“. Umgekehrt gibt es nicht wenige religiöse Sichtweisen, welche das Diesseits ins Zentrum stellen – etwa die klassische jüdische Sicht oder auch befreiungstheologische Strömungen im Christentum.

Der Säkularismusbegriff gewinnt dann seine Schärfe, wenn es um die Begründungsstruktur geht: Religiöse Ethiken nehmen in der Regel Bezug auf eine ausserhalb des Menschen gedachte oder vorgestellte und kommunizierte Heilsstruktur, während säkulare Ethiken vom Axiom der Eigenverantwortlichkeit und Autonomie des Menschen ausgehen. Die Unterscheidung verläuft also weniger zwischen Transzendenz und Immanenz, sondern eher zwischen Heteronomie und Autonomie des Menschen. Historisch bezeichnet der Begriff des Säkularismus auch die Entflechtung von religiösen und weltlichen Machtstrukturen, weshalb der Säkularismus immer auch eine religionskritische Dimension hatte oder gar zu einer Art „nicht-religiöser Quasi-Religion“ (vgl. Jäggi und Krieger 1991:138ff. sowie 143ff.) wurde, also zu einer mit den Religionen konkurrierenden Weltanschauung. Entsprechend schwang und schwingt bei allen „legitimen und illegitimen“ Kindern der Aufklärung – also vom Humanismus über den Liberalismus bis zum Marxismus – eine religions- oder besser theokratiekritische Denkweise mit.

Interessant ist in diesem Zusammenhang der Ansatz des iranischen Theologen Mujhahid Shabestari (z.B. 2012:196ff.), der – so Vahdat 2015:166 – versuchte, göttliche und menschliche Subjektivität zu versöhnen (vgl. auch Jäggi 2021a:38).

Dabei ist zu bedenken, dass religiöse Zugänge zu ethischen Überlegungen oft andere sind als Zugänge säkularer, also nicht religiöser Ethik. Dagmar Fenner (2016:62) hat das wie folgt formuliert: „Typisch für den hermeneutisch-verstehensorientierten Zugang religiöser Ethik sind Erzählungen, denen in vielen Religionen eine entscheidende Rolle für die Heranbildung und Festigung des religiösen Ethos zukommt. Religiöse Moral und Ethik sind statt begründungsorientiert wesentlich narrativ, also erzählend. Sie manifestieren sich in den von Generation zu Generation weitergegebenen rituellen Zeremonien, erzählten oder inszenierten Geschichten, Gleichnissen und Bildern. Im Unterschied zu einem nüchternen, möglichst knappen und präzisen Argumentationsstil philosophischer Ethik fehlt religiösen Texten zu ethischen Themen ein systematischer Aufbau …“ (Fenner 2016:62). Doch diese Tatsache hat auch einen entscheidenden Vorteil: Narrative Texte sprechen im Unterschied zu logisch-rationaler Argumentation besonders das Gefühl und die Empathie an, die oft tiefer gehen und nachhaltiger wirken als logisch-vernunftmässige Begründungen – die übrigens nicht selten nachträgliche Rationalisierungen spontan entschiedener Gefühlsentscheide darstellen.

Umgekehrt kann eine Ausschaltung vernunftmässiger Reflexion auch zu Fehlentscheidungen führen, wie man etwa aus der Vorurteils- und Stereotypieforschung kennt. Deshalb ist wohl – wie oft – die Kombination von beidem optimal: narrative und gefühlsbezogene Geschichten und rationale Reflexion der entsprechenden Texte, und zwar immer im Sinne und vor dem Hintergrund autonomer Moral.

Jedoch soll damit nicht einer blinden Gefühlsethik (vgl. Fenner 2016:64) das Wort geredet werden, welche „gute“ oder „richtige“ Entscheide nur auf ein allgemeines Gefühl – etwa ein vages „Wohlwollen“, „Mitleid“ oder „Güte“ – zurückführen wollen und dieses als „Quelle und Gradmesser von Moralität“ (Fenner 2016:64) sehen. Positive Gefühle sind zweifellos wichtige Träger von moralischen Handlungen, aber sie helfen oft in konkreten Situationen, etwa in ethischen Dilemmata, nicht weiter.

Das grosse Problem glaubensgestützter Ethiken besteht darin, dass die Unterscheidung von grundlegenden ethisch-moralischen Prinzipien und situativ-praktischen Normen oft nur schwer zu machen ist – insbesondere, wenn die Gläubigen die gesamte Schrift wortwörtlich nehmen, ohne daran zu denken, dass – gerade narrative Texte – oft metaphorisch gemeint sind und Meta-Aussagen enthalten, die weit über die anwendungsorientierte, direkte Übertragung einer religiösen Aussage hinaus gehen. Diese Problematik kann auf der einen Seite zu religiösem Fundamentalismus und auf der anderen Seite zu einem religiösen Relativismus führen (vgl. dazu auch Fenner 2016:71).

Franz Segbers (1999:71) hat die Forderung aufgestellt, dass christliche Ethik einen doppelten Anspruch habe: Sie wolle einerseits Christen in ihrer theologisch-ethischen Handlungsorientierung unterstützen und anderseits einen Beitrag für den übergreifenden gesellschaftlichen Diskurs leisten. Das gilt im Grunde für jede religions- oder weltanschauungsbasierte Ethik2.

Die gut dokumentierten Diskurse (vgl. Fornet-Betancourt 1992, 1993a, 1993b und 1994) zwischen Vertretern der Befreiungstheologie und der Diskursethik3 haben eines klar gezeigt: Die beiden Ansätze gehen von einem unterschiedlichen Rationalitätsverständnis aus (vgl. Segbers 1999:74). Rationalität kann formal-prozedural – wie in der Diskursethik – oder inhaltlich-strukturell – wie in der Befreiungstheologie – verstanden werden. Dazu kommt, dass jedes Rationalitätsverständnis auch eine wichtige sozio-kulturelle Komponente hat. Das zeigt sich etwa daran, dass die Heiligen Schriften kontroverse und widersprüchliche Haltungen zur Gewaltfrage enthalten (vgl. Fenner 2016:76, aber auch Jäggi 2019a:248ff.; 2020a:169ff. und 2021a:62ff.).

Ein besonderes Problem in einer global gedachten Ethik stellt die Frage dar, was eine „globale Ethik“ überhaupt ist und wo sie sich bewegt. Heather Widdows (2011:7) schreibt dazu kurz und bündig: „For global ethics the frame within which decision-making occurs must be global: the ethical locus is ‚the globe‘. In any ethical analysis it is the globe that constitutes the sphere of concern and thus the needs and perspectives of all global actors are relevant“. Doch was bedeutet das? Ist „globale“ Ethik einfach nur eine „weltweite Ethik“ – ist globale Ethik nicht vielmehr auch eine umfassende, universelle Ethik? Denn „global“ ist nicht nur territorial zu verstehen, sondern auch als Grad hoher Komplexität. Globale Ethik schliesst auch einen permanenten Perspektivenwechsel mit ein, die Fähigkeit zur Erweiterung und Verengung des Blickwinkels, der Autonomie und Entscheidung, sich auf einzelne Aspekte zu fokussieren. Das wird vor allem im Falle von globalen Friedensthemen und Gerechtigkeitskonzepten relevant.

Gleichzeitig ist Frieden – wie der Ethiker Adrian Holderegger (2017:307) betonte –, „nicht bloss ein politisches, sondern zuerst und zuletzt ein moralisches Projekt“. Also muss die Friedensthematik sowohl von der politischen Seite als auch von der Ethik her angegangen und diskutiert werden.

In einem weiteren Sinn stellt sich damit auch die Frage des Guten. Saur (2016:22) hat darauf hingewiesen, dass das Gute nicht unmittelbar zu erkennen ist und dass „das Profil des Guten an den Rändern Unschärfen aufweist“. So werde etwa in der alttestamentlichen Weisheitsliteratur das Böse oft als Gegenpol zum Guten verstanden. Allerdings erschliesse sich auch das Böse meist nicht unmittelbar, sondern könne „nur mittelbar, situativ und dynamisch erfasst werden“ (Saur 2016:22).

Die Weltethos-Theorie als Antwort?

Hans Küng (1990:14) hat in seinem Buch „Projekt Weltethos“ festgestellt, dass „eine Welt, in der wir leben, nur dann eine Chance um Überleben hat, wenn in ihr nicht länger Räume unterschiedlicher, widersprüchlicher oder gar sich bekämpfender Ethiken existieren“. Diese eine Welt brauche ein verbindendes Grundethos, jedoch nicht in Form einer Einheitsreligion und Einheitsideologie, sondern in der Gestalt von verbindenden und verbindlichen Normen, Werten, Idealen und Zielen. Weiter weist Küng (1990:13) darauf hin, dass ohne Religionsfrieden kein Weltfrieden möglich sei – umgekehrt aber auch kein Religionsfrieden ohne Weltfrieden. All das ist zweifellos richtig.

In der wissenschaftlichen Ethik wird „Ethos“ im Allgemeinen im deskriptiven Sinn als Beschreibung der Gesamtheit der bestehenden ethischen Werte und Normen in einer Gesellschaft oder einer Religion verstanden. So spricht etwa Mir (2015:65) von einem öffentlichen Ethos („the public spirit ethos“). Alfons Auer (1995:78 und 96) thematisiert ein alttestamentliches und ein jesuanisches Ethos. Demgegenüber benutzt Küng (1990:46) den Begriff des „Weltethos“ in einem normativen Sinn: „Die katastrophalen ökonomischen, sozialen, politischen und ökologischen Entwicklungen sowohl der ersten wie der zweiten Jahrhunderthälfte machen zumindest ex negativo ein Weltethos um des Überlebens der Menschheit auf dieser Erde nötig“ (Hervorhebungen durch Küng).

Doch das Problem liegt darin, herauszuarbeiten, wie ein solches normatives „Weltethos“ aussehen sollte und wie ein solches „Weltethos“ erreicht werden kann. Diese beiden Fragen stehen auch im Zentrum der nachfolgenden Überlegungen.

Wenn auch das Wort „Weltethos“ sehr hoch gegriffen erscheint – ich spreche lieber von überkontextuellen und religions- sowie weltanschauungsüberschreitenden ethischen Bausteinen – hat Küng den Finger auf den wohl wundesten Punkt der heutigen Menschheit gelegt: Die Menschheit sollte als Ganzes gesehen und gedacht werden, als Einheit, und nicht mehr als Konglomerat verschiedenster oder gar sich bekämpfender Nationen, Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaften oder Ethnien und Gruppen – und dazu braucht es klare Visionen und praktikable Modelle. Das bedeutet aber auch klare, verbindliche und durchsetzbare ethisch-normative Standards und verbunden damit Institutionen, welche die Einhaltung dieser Standards überwachen und garantieren. Obwohl zwar die Welt davon heute noch weit entfernt ist – früher oder später wird dies unumgänglich sein.

Hans Küng (2010:158) hat eine klare Hierarchie von Ethik (Ethos), Politik und Ökonomie vorgeschlagen: Erstens müsse das Ethos grundsätzlich über Ökonomie und Politik stehen, zweitens sei der Politik ein Primat gegenüber der Ökonomie zuzugestehen und drittens müsse der Markt wirtschaftsfreundlichen ordnungspolitischen Rahmenbedingungen unterstehen, die er aber nicht selber schaffen könne.

In ihrer ausführlichen Auseinandersetzung mit der Weltethos-Theorie von Hans Küng kommt Dagmar Fenner (2016:199) zum zweifellos richtigen Schluss, dass Küngs Ansatz eine aufklärererische und damit säkulare Grundhaltung voraussetzt: „Religiöse Menschen müssen bereit sein, ein ‚Weltethos‘ vom ‚Heilethos‘ abzukoppeln und eine Säkularisierung im Sinne der Ausdifferenzierung in verschiedene Wertsphären wie die des Guten und Heiligen zu akzeptieren“. Das bedeutet, dass das Weltethosprojekt im Grunde eine säkulare Antwort auf Religionskonflikte ist, so wie der Säkularismus im Grunde die europäische Antwort auf das Problem der Religionskriege darstellte. Damit ist aber das Weltethosprojekt nur bedingt tauglich für die Entwicklung einer umfassenden und globalen Friedensethik. Denn säkulare Ethiken und religiöse Ethiken müssen sich auf Augenhöhe begegnen können – im Sinne eines Diskurses, in den sich alle gleichermassen einbringen können. Dazu kommt, dass – wie ich verschiedentlich gezeigt habe (z.B. in Bezug auf den säkularen Staat vgl. Jäggi 2016b:134) – der Säkularismus als eine mit religiösen Weltanschauungen konkurrierende „Quasireligion“ verstanden werden kann.

Doch was bedeutet eigentlich Säkularismus? Rajeev Bhargava (2007:21) definierte Säkularismus als „Trennung organisierter Religion von der politischen Macht, inspiriert durch einen spezifischen Set von Werten“. Mit anderen Worten: Säkularismus ist ohne Trennung von Religion und Staat nicht denkbar, aber ebenso wenig ist Säkularismus ohne die durch ihn vermittelten Werte zu verstehen. Bhargava (2007:22) weist auch darauf hin, dass Säkularismus mitnichten mit „westlich“ gleichzusetzen ist: Für ein umfassendes und adäquates Verständnis von Säkularismus müsse man überprüfen, wie sich die säkulare Idee über die Zeit und die nationalen Grenzen hinweg entwickelt habe4. Hier besteht auch eine Parallele zu den grossen Religionen: So wie das Judentum, der Buddhismus, das Christentum und der Islam Sprach- und Kulturregionen sowie spätere nationalstaatliche Grenzen durchquert und überschritten haben, genauso hat sich die säkulare Weltanschauung in ganz verschiedenen Regionen der Welt verankert. Damit besteht eine Parallele – aber auch eine Konkurrenz – zu den grossen Religionen, die lokal entstanden sind und sich später ausgebreitet haben, ebenso hat auch der Säkularismus ausgehend von Westeuropa längst alle Länder und Kontinente erreicht. Als zentrale Werte des Säkularismus gelten heute: innergesellschaftlicher Friede und Verhinderung von Barbarei, Schutz der Verletzlichkeit der Individuen, Religionsfreiheit und Anerkennung der Mitwirkung des Einzelnen in Staat und Gesellschaft in Form der Staatsbürgerschaft (vgl. Bhargava 2007:29ff.).

Der Säkularismus schliesst unter anderem Agnostizismus, Atheismus und verschiedene Formen des säkularen Humanismus ein (Hiorth 2009:124). Funktionell gesehen übernimmt der Säkularismus durchaus religiöse Aufgaben. Für Ericson (1988:1f.) ist ethischer (säkularer) Humanismus ein moralischer Glaube, der auf dem Respekt vor der Würde und dem Wert des menschlichen Lebens beruht. Er sei eine „praktische, funktionierende Religion, dem ethischen Leben gewidmet, ohne rituelle Verpflichtungen oder einen Glauben an das Übernatürliche vorzuschreiben“ (Hiorth 2009:129f.).

Für den Ansatz des Weltethosprojekts bedeutet das, dass dieses im Grunde nur funktionieren kann für Menschen, die sich zu einer säkularen Weltanschauung bekennen – oder anders gesagt: Wenn der Säkularismus als eine über den grossen religiösen Weltanschauung stehende und eigenständige Weltanschauung verstanden wird. Daraus entsteht aber die Frage, ob säkulare Weltanschauungen funktional-weltanschaulich den einzelnen Religionen übergeordnet sind oder als konkurrierende Weltanschauungen sozusagen auf gleicher Ebene neben den grossen Religionen anzusiedeln sind. Anders gesagt: ob der Säkularismus über den Religionen steht oder neben ihnen. Zweifellos gibt es für beide Sichtweisen Argumente. Doch es sollte aus den vorangehenden Ausführungen klar geworden sein, dass eine übergreifende Ethik sowohl säkulare als auch religiöse Sichtweisen und Anliegen aufnehmen muss – und es ist durchaus denkbar, dass auch nicht säkulare Staatsformen die Grundrechte garantieren und demokratische Selbstverwaltung garantieren können.

Wenn es stimmt, wie Peter Antes (2001:19) meint, dass Religionen „ethische Instanzen der Kritik und des schlechten Gewissens für die Gesellschaft im Zeitalter von Modernisierung und Globalisierung“ darstellen, dann bedeutet das, dass auf der einen Seite Religionen selbst einen transnationalen bzw. transkulturellen Charakter haben, um entsprechende Antworten zu generieren, und auf der anderen Seite die Religionen selbst der traditionellen konfessionellen Sicht abschwören müssen, weil sie sonst weder als glaubhafte Vermittler ethischer Antworten noch als Alternativen zu weltanschaulich enggeführten Akteuren auftreten können. Gleichzeitig darf aber eine entsprechende weltanschauliche Öffnung nicht auf Kosten der Verbindlichkeit religiöser Aussagen gehen – vielmehr muss die Verbindlichkeit wachsen.

Es stellt sich die Frage, ob der Weltethos-Ansatz tatsächlich eine genügend breite Basis darstellt, um eine gleichzeitig transsäkulare, interreligiöse und globale Ethik zu entwickeln. Barbara Lukoschek (2013:32ff.) hat die Einwände gegen den Weltethos-Ansatz wie folgt zusammengefasst:

Zu starke Ausrichtung auf eine christliche bzw. westlich-abendländische Sicht. Diese Kritik haben unter anderem Paul Hedges (2008:159ff.) und Sallie B. King (1995:213ff.) vorgebracht. Reinhard Hummel (1993:7) hat diesen Einwand wie folgt formuliert: „Den fundamentalistischen Gegnern wird es nicht verborgen bleiben, dass der Küngsche Text trotz aller Absprachen in seiner Substanz westlich-christlich konzipiert und an der zweiten Tafel der Zehn Gebote orientiert ist. Die anderen Religionen werden prüfen müssen, ob ihre eigene Tradition hergibt, was die Erklärung als gemeinsames Weltethos formuliert hat“.

Zu hoher Abstraktheitsgrad und zu starke Anbindung an eine makroperspektivische Sicht. Hans J. Münk hat diese (zu?) starke Ausrichtung auf „universale Grundmaximen“ als mögliches Problem bezeichnet, weil „ein gleich liegender Wortlaut vorschnell tiefer liegende Spannungen, Unterschiede und Gegensätze überspringt“ (Münk 2004:108). Dabei entstehe die Gefahr, nicht nur wesentliche Unterschiede zwischen den Religionen, sondern auch innerhalb der einzelnen religiösen Symbolsysteme – also „den jeweiligen Binnenpluralismus“ (Münk 2004:108) – zu unterschätzen.

Dazu kommt ein noch grundsätzlicherer Einwand, den ich an anderer Stelle ausführlich diskutiert habe (vgl. Jäggi 2016a:273).

Statische bzw. „substantialistische“ Ausrichtung des Ethoskonzepts und eine additive Aufzählung kulturspezifischer Teilethiken. Diese Kritik beinhaltet zwei Aspekte: Auf der einen Seite erscheint eine rein deskriptive Umschreibung und Aufzählung verschiedener kulturspezifischer (Minimal-)Ethiken als ungenügende Grundlage, um gestützt darauf eine universell gültige Ethik zu begründen. Auf der anderen Seite verändern sich die kulturspezifischen ethischen Vorstellungen und die darauf basierenden Normen laufend. Eine universelle Ethik muss deshalb als kommunikativer Prozess konzipiert werden, der nach vorne offen und nie abgeschlossen ist5 – sozusagen als Work in Progress.

Aus meiner Sicht sind die ersten beiden Kritikpunkte kaum zu vermeiden, aber sie sind auch nicht entscheidend: Erstens geschieht jede wissenschaftliche wie populäre Aussage vor dem Hintergrund eines weltanschaulich-semantischen Rahmens – letztlich ist keine ethisch-moralische Aussage ohne entsprechende anthropologisch-sprachlich-philosophische Einbettung möglich – ausser vielleicht für den lieben Gott. Wichtig ist, dass der eigene semantische Bezugsrahmen mitreflektiert wird und dass versucht wird, diesen Rahmen zu erweitern. Mehr kann man wohl aus einer interkulturellen Perspektive nicht erwarten. Zweitens sind wissenschaftliche Aussagen immer durch eine bestimmte Abstraktheit und Verallgemeinerung gekennzeichnet. Deshalb besteht bei wissenschaftlichen Erkenntnissen immer auch eine gewisse Gefahr des Reduktionismus. Aber auch hier gilt: Die Art der Reduktion und der Verallgemeinerung muss reflektiert, begründet und plausibel sein, und das inhaltliche Ergebnis darf nicht willkürlich oder beliebig sein. Entscheidend bleibt deshalb der dritte Kritikpunkt: Eine globale, universelle Ethik kann nur als permanenter Kommunikationsprozess, nach vorne offen, zugänglich für alle und mit entsprechender institutioneller Abstützung gelingen.

Aus dieser Sicht erscheint der Versuch von Lukoschek (2013:71ff.) richtig angelegt, zwei Religionsgemeinschaften – in diesem Fall den Buddhismus und das Christentum – aus einer dynamischen Perspektive, nämlich der Befreiungstheologie, zu vergleichen. Dabei geht es darum, einen religions- oder weltanschauungsübergreifenden Diskurs über zentrale Themen zu führen – etwa über die Bedeutung von Frieden, eine demokratische Weltregierung oder eine Weltverfassung mit für alle Menschen verbindlichen Grundrechten.

Theologie der Befreiung als Ansatz?

Gustavo Gutiérrez (1992:68ff.) hat drei Aufgaben der Theologie formuliert: Erstens Theologie als Weisheitslehre, zweitens Theologie als Wissensgebäude und drittens Theologie als kritische Reflexion geschichtlicher Praxis (vgl. auch Lukoschek 2013:127). Dabei zielte die Befreiungstheologie darauf ab, den dritten Punkt wieder stärker ins Bewusstsein zu rufen: „Gegenstand der kritischen Reflexion sind sowohl Theologie und Kirche selbst, einschliesslich ihrer Grundlagen, als auch die gesellschaftlichen, d.h. wirtschaftlichen, sozialen und politischen Rahmenbedingungen des Lebens der christlichen Gemeinde“ (Lukoschek 2013:127). Entsprechend konzentrierte sich die Befreiungstheologie darauf, die Vorstellung der Erlösung auf die kirchliche und gesellschaftliche Praxis hin zu hinterfragen und zu konkretisieren. „Denn Heil ist nicht mehr etwas ‚Überirdisches‘, dem gegenüber das gegenwärtige Leben nur eine Prüfung wäre. Rettung als Gemeinschaft der Menschen mit Gott und Gemeinschaft der Menschen untereinander ist etwas, das schon jetzt real und konkret wirksam wird, die gesamte menschliche Seinsweise umgreift, verwandelt und in Christus zu ihrer Vollendung führt“ (Gutiérrez 1992:208; vgl. auch Lukoschek 2013:128). Entscheidend für die Befreiungstheologie ist der Zusammenhang der – sozialen, politischen und wirtschaftlichen – Befreiung und des Heilsanspruchs6: „Wer von Theologie der Befreiung spricht, hat eine Antwort auf die Frage zu suchen: ‚Welche Beziehung besteht zwischen der Erlösung und dem historischen Prozess der Befreiung des Menschen?‘“ (Gutiérrez 1992:109; vgl. auch Lukoschek 2013:128).

Dabei ist im Sinne von Gutiérrez (1992:242) „jeder Kampf gegen Ausbeutung und Entfremdung … im umfassenden Zusammenhang der einen Geschichte ein Versuch, den Egoismus als Negation der Liebe zu bannen. Deshalb wirkt jedes Bemühen um eine gerechte Gesellschaft befreiend … und ist schon Erlösungstat, wenn auch nicht Erlösung im umfassenden Sinn“.

Die von der Befreiungstheologie überarbeitete und erneuerte Erlösungslehre enthält – im Sinne von Gutiérrez (1992:241f.) – drei verschiedene Dimensionen von „Befreiung“: Erstens die Ebene wirtschaftlicher, sozialer und politischer Befreiung, zweitens die Schaffung eines neuen Menschen in solidarischer Gemeinschaft und drittens die Befreiung von der Sünde durch die Schaffung einer neuen Gemeinschaft mit Gott und anderen Menschen7 (vgl. Lukoschek 2013:142). Dabei ist die Idee der „Königsherrschaft Gottes“ und die Befreiung durch Jesus Christus von der Sünde sozusagen die Grundlage für die Schaffung eines neuen, solidarischen Menschen. In ihrer ersten Phase war in der Befreiungstheologie vor allem die Ebene der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Befreiung stark von der Dependencia-Theorie8 geprägt – und von den Erklärungen der Lateinamerikanischen Bischofskonferenz von Medellín 1968 und Puebla 1979 (vgl. Lukoschek 2013:130).

Theologisch gibt es nach Gutiérrez (1992:349ff., vgl. auch Lukoschek 2013:151) eine dreifache Begründung für die von der Befreiungstheologie vertretene „Option für die Armen“: Erstens widerspreche Armut dem Grundanliegen der mosaischen Religion, weil die jüdische Religion selbst aus dem von Mose angeführten Akt der Befreiung aus der Sklaverei entstanden sei (vgl. Ex 22,20; 23,9; Dtn 10,19 und Lev 19,34); zweitens stehe Armut im Gegensatz zum Auftrag der Genesis (Gen. 1,26 und 2,15), wonach der Mensch als Abbild Gottes aufgefordert sei, gestalterische Arbeit in der Natur zu leisten und in schöpferische Beziehung zu anderen Menschen zu treten; und drittens – als wichtigster Punkt – sei die Unterdrückung der Armen eine Verletzung von Gottes Gerechtigkeit und eine Schädigung des Menschen als Sakrament Gottes (vgl. Lukoschek 2013:151).

Von diesem Anspruch der Befreiung her steht die Befreiungstheologie selbstredend dem marxistischen Freiheitsansatz nahe, wie auch Gutiérrez (1992:75, vgl. auch Lukoschek 2013:131 ) selbst nicht verschweigt: „In der Tat befindet sich die zeitgenössische Theologie in einer unumgänglichen und fruchtbaren Konfrontation mit dem Marxismus. Ihm ist es auch zum grossen Teil zu verdanken, dass das theologische Denken im Rückgriff auf seine eigenen Quellen sich auf die Frage nach dem Sinn der Umgestaltung der Welt und der Tätigkeit des Menschen in der Geschichte besinnt“. Diese Nähe zum marxistischen Denken hat denn auch die Glaubenskongregation veranlasst, die Befreiungstheologie vehement zu verurteilen9 und ihr „totalisierenden Charakter“ (Kongregation für Glaubenslehre 1984:X,2) zuzuschreiben, mit dem gleichzeitigen Hinweis, dass ein Dialog mit der Befreiungstheologie nicht möglich sei (vgl. Kongregation für Glaubenslehre 1984:X,3). Ausserdem wurde der Befreiungstheologie vorgeworfen, anstelle der Volkskirche eine „Klassenkirche“ aufbauen zu wollen (vgl. Kongregation für Glaubenslehre 1984:IX,12) und die Eucharistie in eine „Feier des Klassenkampfs“ (Kongregation für Glaubenslehre 1984:IX,1) umwandeln zu wollen. Entweder ist das Ausdruck eines grundsätzlichen Missverständnisses oder eine böswillige Unterstellung an die Befreiungstheologie. Doch sind die beiden von der Römischen Glaubenskongregation an der Befreiungstheologie kritisierten Punkte, nämlich „unkritische Anleihen bei der marxistischen Ideologie und der Rückgriff auf die Thesen einer vom Rationalismus geprägten biblischen Hermeneutik“ (Kongregation für Glaubenslehre 1984:VI,10) tatsächlich Schwächen? Sind sie nicht vielmehr eine grosse Ressource für eine interreligiöse Auseinandersetzung mit Fragen der Armut und Existenzsicherung? Eine Stärke des Marxismus war immer seine Kritik der sozialen Ungleichheit. Und was die „Hermeneutik des Rationalismus“ anbetrifft, ist das im Grunde eher eine Stärke als eine Schwäche – es sei denn, man liest die Bibel aus dem Blickwinkel einer engen, normativen Glaubensethik.

Im Zusammenhang mit der Befreiungstheologie stellen sich zwei Fragen: Erstens: Inwieweit ist das theologische Befreiungskonzept geeignet, die Dichotomie zwischen Diesseits und Jenseits zu überwinden, welche nicht nur das christliche Denken, sondern auch andere religiöse Traditionen – wie etwa den Islam – über Jahrhunderte hinweg gelähmt und zu politischem Konservativismus geführt hat? Zweitens: Lässt sich das befreiungstheologische Konzept des Heils und der zu errichtenden Heilsordnung als historisch-sozial-politisch gedachte Befreiung interreligiös denken und transreligiös umsetzen?

In Bezug auf den ersten Punkt – der Trennung von Diesseits und Jenseits – ist zu sagen, dass alles davon abhängt, wie „Befreiung“ verstanden wird, und wer von wem (wovon), oder genauer zu wem (wozu) befreit werden soll. Wenn damit die Befreiung von Machtabhängigkeit, Diskriminierung, Ausbeutung und Armut in dieser Welt und Befreiung zu ganzheitlicher geistig-spiritueller Entwicklung sowohl der einzelnen Menschen als auch der Menschheit als Ganzes gemeint ist, kann dagegen aus biblischer Sicht überhaupt nichts eingewendet werden. Vielmehr bewegt sich eine solche Sicht durchaus in der hebräischen Tradition und auch in der Tradition des Neuen Testaments – beide haben sich immer gegen die Trennung des Leben in zwei getrennte Sphären, nämlich in eine als jenseitig verstandene geistige Sphäre der Vertröstung und in eine diesseitige Sphäre des Leidens und der materiellen Not gewehrt. Schon die Hebräische Bibel macht in Dtn 15,11 eine doppelte Aussage zur Armut: „11 nicht ausgehn wird der Arme im Land; darum gebiete ich dir und spreche: Öffnen sollst du deine Hand deinem Bruder, deinem Armen und Elenden in deinem Land“ (Tur-Sinai-Übersetzung). Damit betont die Tora einerseits, dass Armut nie (völlig?) verschwinden wird, und anderseits, dass die Menschen die Pflicht haben, armen Menschen zu helfen. Diese doppelte Sicht der Armut wird durch eine dritte, sozusagen heilsordnungsbezogene Aussage ergänzt: „4 Nur daß bei dir kein Armer sein wird; denn der Ewige wird dich segnen in dem Land, das der Ewige, dein Gott, dir zum Erbe gibt, es zu besitzen. 5 Aber nur, wenn du hörst auf die Stimme des Ewigen, deines Gottes, bedacht zu sein, dieses ganze Gebot, das ich dir heute gebiete, zu üben“ (Dtn 15,4f.; Tur-Sinai-Übersetzung).

Auch das Neue Testament ist diesbezüglich sehr klar. Noch stärker als in der mattheischen Bergpredigt kommt dies in der Feldpredigt bei Lukas zum Ausdruck:

„20 Er richtete seine Augen auf seine Jünger und sagte: Selig, ihr Armen, denn euch gehört das Reich Gottes. 21 Selig, die ihr jetzt hungert, denn ihr werdet satt werden. Selig, die ihr jetzt weint, denn ihr werdet lachen. 22 Selig seid ihr, wenn euch die Menschen hassen und aus ihrer Gemeinschaft ausschließen, wenn sie euch beschimpfen und euch in Verruf bringen um des Menschensohnes willen“ (Lk 6,20ff.; Einheitsübersetzung).

Aus all dem geht klar hervor, dass Armut in den Augen Gottes nicht akzeptabel ist und dass Armut keinen Bestand haben kann. Geistigkeit oder spirituelle Entwicklung ohne Bekämpfung der Armut ist nicht nur ein Unding, sondern widerspricht auch diametral der biblischen Botschaft. In diesem Sinn bewegt sich die Befreiungstheologie voll und ganz auf der biblischen Linie. Die Tatsache, dass die vatikanische Theologie so hart gegen die Befreiungstheologie reagiert hat, bestätigt im Grunde nur, dass deren Anliegen an einem zentralen Punkt ansetzte, aber auch, dass sich die Kirche sehr wohl der Problematik ihrer jahrhundertelangen engen Zusammenarbeit mit den Oligarchien und sozialen Oberschichten, insbesondere in Lateinamerika, bewusst war und ist.

Zum zweiten Punkt schreibt Dussel (1994:83): „Die Ethik der Befreiung beschränkt sich nicht bloss auf den lateinamerikanischen Kontext, sondern ist auf die Welt als Ganze ausgerichtet; die planetarische Offenheit [,mundialidad‘] ist allerdings von der abstrakten oder formalen Universalität der Vernunft zu unterscheiden“. Allerdings sei damit nicht eine kommunitaristische oder diskursethische Position gemeint. Befreiungsethik gehe nicht von einem abstrakten „Sein“ oder von einem „Guten“ im ontologischen Sinn aus, sondern vom „Andere[n], der als beherrschter und funktioneller Teil des Systems negiert wird“ (Dussel 1994:86). Also betont die Befreiungstheologie die Relationalität von Unterdrückern und Unterdrückten und versucht, dieses konstitutive Verhältnis zu überwinden durch Anspruch auf eine zu schaffende egalitäre Beziehung im Diesseits wie im Jenseits. So gesehen kann Befreiungstheologie und Befreiungsethik gar nicht anders als interreligiös und interkulturell gedacht werden.

Im Unterschied zur ontologischen Ethik, welche von einer schon vorausgesetzten „Welt“ ausgehe und im Unterschied zur Diskursethik, die eine vorgängig bestehende Kommunikationsgemeinschaft annehme, habe die lateinamerikanische Befreiungsethik ein „nosotros estamos“10 als Grundlage. Der von Ungerechtigkeit und Unterdrückung Betroffene wird sich bewusst, in einem Befreiungsprozess zu stehen. Er kann diesen Zustand der systemimmanenten Ausgeschlossenheit, Marginalisierung oder des Verlusts seines Lohnverhältnisses nur durch die Umkehr des Herrschaftsverhältnisses überwinden (vgl. Dussel 1994:97).

Dabei hat Theologie – wie Gutiérrez (1992:80) zu Recht betont – die geschichtlichen Ereignisse zu lesen und dazu beizutragen, „die in ihnen enthaltene Bedeutung aufzudecken“ und die Verpflichtung der Christinnen und Christen zum befreienden Einsatz in diesen Geschehnissen zu stärken. Damit wird die Theologie zu „im Licht des Wortes ausgeübte[r] Reflexion über die historische Praxis“ (Gutiérrez 1992:81). Sie kann damit dazu beitragen, soziale, politische und wirtschaftliche Verhältnisse zu ändern.

Wenn dies stimmt, könnte die Befreiungstheologie eine der wichtigsten theologischen und interreligiösen Innovationen sein, welche in den letzten 100 Jahren entstanden sind. Dies gilt insbesondere dann, wenn die soziale und ökonomische, aber auch ökologische Befreiung in dieser Welt mit dem jenseitigen Heilsversprechen kombiniert werden kann.

Aspekte interkultureller Kommunikation

Otfried Höffe (2015:30) hat darauf hingewiesen, dass in der Vormoderne, so etwa in der griechischen Philosophie – ausser in der Stoa – und auch im Judentum und im Christentum, der Gedanke des Menschen als Ebenbild und Schöpfung Gottes, verbreitet war. Dabei sei die im Judentum noch „enthaltene ethnische Begrenzung“ im Christentum aufgehoben worden. Doch – so Höffe (2015:30) – hätten alle drei Weltanschauungen daraus kaum rechtliche Konsequenzen gezogen.

Mit Blick auf die heutige Weltsituation hat Otfried Höffe (2015:129) zu Recht darauf hingewiesen, dass die Auseinandersetzung um globale Werte so geführt werden muss, dass sich alle Kulturen und Weltanschauungen gleichgewichtig einbringen können. Dabei seien die Grundelemente des Liberalismus in einer interkulturell verständlichen Sprache zu legitimieren. Das geht jedoch nur, wenn die Diskursbedingungen nicht schon in sich selbst vereinnahmend sind und bestimmte kulturelle, religiöse oder weltanschauliche Vorstellungen von diesem Diskurs ausschliessen. Dabei dürfen auch nicht kulturspezifische Gründe als Argumente für einen restriktiven Zugang zum interkulturellen Diskurs vorgeschoben werden: „Aus Achtung vor dem Eigenwert der anderen Kulturen sind mit ihnen keine kulturspezifischen, sondern interkulturelle Diskurse zu führen“ (Höffe 2015:129). Das gilt besonders auch für umstrittene Bereiche wie etwa das Strafrecht.

David Novak (2005:5) hat mit Blick auch die jüdische Community eine religiöse Begründung der säkular-demokratischen Ordnung gefordert. Er plädiert für einen begrenzten Säkularismus, ohne aber in eine säkulare Ideologie zu verfallen. Laut Novak (2005:6) sollte man jedoch nicht den Fehler machen, irgendeine Religion als die Quelle für die Demokratie oder als Ziel der Demokratie zu verstehen: Weder sei Demokratie die Vollendung des Judentums noch das Judentum das Endziel der Demokratie. Und das gilt im Grunde für alle Religionen. Hingegen könne Demokratie dazu beitragen, dass Gläubige verschiedener Religionen ihr Glaubensverständnis leben können. Gläubige können, müssen aber nicht aktive Teilnehmer der Demokratie sein. Jedoch sollte – so Novak (2005:8) – die Demokratie nicht dazu benutzt werden, eine eigene Kultur zu entwickeln, vielmehr sollten Demokratie und Zivilgesellschaft von der Pluralität der Kulturen und der Religionen abhängen. Ziel sollte ein interkulturelles Abkommen sein, um eine Art übergreifenden öffentlichen Raum losgelöst von den sakralen Räumen der einzelnen Religionsgemeinschaften zu schaffen. Gleichzeitig müssten die Zivilgesellschaft und die Demokratie die Existenz der Religionsgemeinschaften und die korporative Religionsfreiheit11 sichern. Ausserdem sind – so Novak (2005:9) – die Religionsgemeinschaften vor staatlichen Übergriffen zu bewahren. Novak (2005:10) spricht von einem Vertrag zwischen den Minderheiten („contract between minorities“). Weil die Familien die primären Gemeinschaften darstellten, seien die Communities als eine Art erweiterte Familien zu sehen.

Eine solche Vision einer interkulturellen Gesellschaft, die unter einem begrenzten säkular-demokratischen Dach funktioniert, steht der kommunitaristischen Sicht recht nahe. Allerdings stellen sich dabei spezifische Fragen, etwa im Zusammenhang mit der wachsenden Zahl von interkulturellen und interreligiösen Ehen und Partnerschaften, der bikulturellen Kindererziehung, unterschiedlicher und übergreifender Vorstellungen sozialer Absicherung, der Frage der Stellung homosexueller Partnerschaften, usw. All diese Fragen sind auf kommunitärer Ebene kaum zu lösen. Und darüber hinaus ist darauf zu bestehen, dass alle Religionsgemeinschaften und Communities auch in ihrem Inneren die Anwendung und Durchsetzung der Menschenrechte garantieren.

Diskursethik

Einiges spricht dafür, dass der diskursethische Ansatz gut geeignet wäre, aus pragmatischer Sicht eine globale interkulturelle Kommunikation über grundlegende Werte und Normen zu ermöglichen und zu institutionalisieren.

Lienemann (2008:132) hat die Diskursethik wie folg definiert: Sie ist „der Versuch, eine Antwort auf die Frage nach der Bestimmung eines ‚guten‘ oder womöglich ‚gerechten‘ Handelns und Verhaltens dadurch zu geben, dass grundlegende, unabdingbare Regeln für Verständigungsprozesse zwischen Menschen gesucht werden, welche sich unter Bedingungen eines gesellschaftlichen Pluralismus und Antagonismus miteinander nach allgemein geteilten oder mindestens allgemein zustimmungsfähigen Prinzipien zu koordinieren versuchen“. Dabei gründet die Diskursethik nicht auf festen, „allgemein geteilten ethischen Prinzipien“, sondern stellt „Verfahren vernunftgeleiteten Argumentierens“ (Lienemann 2008:132) ins Zentrum. In diesem Sinn geschieht in der Diskursethik eine „Ablösung der Sprache der Autorität und der Gewalt durch die zwanglose Anerkennung der Kraft des besseren Argumentes unter Menschen, die sich gegenseitig respektieren können, auch wo sie um wechselseitige Achtung und Anerkennung ringen“ (Lienemann 2008:132, vgl. auch Jäggi 2016a:207ff). Nach Habermas kann in der Diskursethik „eine Norm nur dann Geltung beanspruchen, wenn alle von ihr möglicherweise Betroffenen als Teilnehmer eines praktischen Diskurses Einverständnis darüber erzielen (bzw. erzielen würden), dass diese Norm gilt“ (Habermas 1983:76). Das bedeutet: die Wahl von Normen kann begründet werden, sie müssen im Interesse aller Betroffenen sein und alle Betroffenen müssen sich dazu äussern können (oder einmal dazu genäussert haben).

Apel (1993:18ff.) hat in Bezug auf die Diskursethik einen „abstrakten Begründungsteil“ und „einen geschichtsbezogenen Begründungsteil“ unterschieden. Der abstrakte Begründungsteil bezieht sich auf das Diskursverfahrensprinzip im Sinne einer Situationsangemessenheit und der Ausschöpfung des diskursbezogenen Universalisierungsprinzips selbst und beinhaltet nach Apel unbedingte Gültigkeit. Dabei geht es um prozedurale Prinzipien. Der geschichtsbezogene Begründungsteil beruht – immer nach Apel (1993:26ff.) – auf einer geschichtsbezogenen Verantwortungsethik und geht von verschiedenen Entwicklungsstufen kollektiver Sittlichkeit und damit von der „postkonventionellen Moralität“ aus. Ohne hier auf die Problematik der Kohlbergschen Entwicklungsstufen12 moralischen Bewusstseins einzutreten, auf die sich Apel (1993:26) beruft – Fakt ist, dass Apel in Bezug auf die Diskursethik durchaus auch historische oder phylogenetische Veränderungen einbezieht.

Arens (1992:58) hat an der Diskursethik mehrere Aspekte kritisiert: Erstens sei die Diskursethik deontologisch13, weil es ihr um die „Sollgeltung von Nomen“ gehe, um richtiges und gerechtes Handeln zu bestimmen. Das mache die Diskurskursethik für eine Befreiungsethik letztlich unakzeptabel, weil diese vom absoluten Prinzip „Befreie die Armen!“ ausgehe. Zweitens sei die Diskursethik kognitivistisch, begreife „normative Richtigkeit als wahrheitsanalogen Geltungsanspruch, also als etwas, das wie der Wahrheitsanspruch … rational begründbar“ (Arens 1992:58) sei. Und drittens sei die Diskursethik eine formalistische Ethik. Sie zeichne keine bestimmten oder konkreten normativen Inhalte aus, sondern „macht ein formales Kriterium als Prinzip der Rechtfertigung jedweder Handlungsnorm aus“ (Arens 1992:59). Doch – so könnte man Arens‘ drittem Argument entgegenhalten – macht genau das die Stärke der Diskursethik aus: Durch die Ausrichtung auf das prozedurale Vorgehen trennt sie Inhalte – die immer kontextabhängig sind – von Vorgehensfragen und ermöglich damit eine Vielzahl von inhaltlichen Kompromissen und eröffnet den Horizont für einen weltanschauungsübergreifenden Konsens, der zwar immer nur vorläufig sein kann, aber damit auch künftige mögliche Änderungen erschliesst. Alles andere führt in einen inhaltlich-weltanschaulichen Dogmatismus oder – noch schlimmer – in eine Welt, die von Partikularismus, Fraktionismus oder gar Separatismus geprägt ist. Damit erledigt sich der vierte Kritikpunkt von Arens (1992:60), nämlich der Universalitätsanspruch der Diskursethik, sozusagen von selbst: Weil in der heutigen Weltsituation eine Ethik letztlich nur universalistisch denkbar ist, erscheint dieser Anspruch nicht als Schwäche, sondern vielmehr als Stärke der Diskursethik.

So logisch kohärent der diskursethische Ansatz erscheint – es stellt sich die Frage, inwieweit er als kulturübergreifender Begründungsprozess für die Entwicklung global geltender Normen praktikabel ist. Dazu ist eine zentrale Bedingung notwendig: Ein gleichberechtigter, grenzüberschreitender Diskurs setzt entsprechende Diskursregeln und damit verbunden für alle zugängliche, grenz- und kulturüberschreitende Institutionen voraus. Fehlen diese, degeneriert der Diskurs zu einem Kampf hegemonialer Interessen – und genau dies scheint im Moment in der Weltpolitik abzulaufen.

Als Diskurs- und zugleich Handlungsprinzipien für einen egalitären, nach den Bedingungen der Diskursethik ablaufenden, globalen Kommunikationsprozess nennt Ekardt (2016:213) Würde bzw. Achtung, Unparteilichkeit und nach vorne gerichtete Offenheit im Diskursprozess, also die stets vorhandene Möglichkeit eines weiteren Diskurses.

Ähnlich wie Arens hat Ekardt (2016:233) Einwände gegen die ausschliesslich formelle Ausrichtung der – zumindest habermas’schen Version der – Diskursethik formuliert: „Die klassische Diskursethik [ist] jedenfalls in ihrer habermasianischen Variante … latent inhaltsleer insofern, als sie als universales Richtigkeitskriterium für Diskursergebnisse vor allem das Unparteilichkeitsprinzip fokussiert (also das Prinzip allgemeiner Zustimmungsfähigkeit)“. Dieser Einwand lässt sich mit der Verankerung des Diskurses im Autonomieprinzip und mit einer engen Verknüpfung mit den Menschenrechten zumindest teilweise entkräften.

Zweifellos ist Arens (1992:66) zuzustimmen, wenn er verlangt, dass die Diskursethik nicht isoliert als ein idealistischer Ansatz gesehen werden sollte, sondern in eine Demokratietheorie zu integrieren ist, die auf den Menschen- und Grundrechten basiert, aber immer auch entwicklungsfähig ist. Ebenso hat eine Diskursethik inhaltlich auf der Entwicklung individueller und kollektiver Identität und Solidarität zu beruhen – ja Arens (1992:69) spricht sogar von einer „kommunikativen Gegenmacht“. Auch Hugo Assmann (1993:12) betont die Bedeutung der Solidarität in einer ernst zu nehmenden Diskursethik. So müsse aus einer Weltperspektive eine „Inklusionslogik“14 entwickelt werden, welche radikal aus einer Solidaritätsperspektive argumentiere und sich auch nicht scheue, vorausgesetzte Rationalitätsbegriffe und -konzepte aufzubrechen. Das gelte insbesondere auch für die betriebswirtschaftliche „Exklusionslogik“ der Marktwirtschaft und des Kapitalismus.

In ihrem Plädoyer für eine abwägende Demokratie („deliberative democracy“) hat Cristina Lafont (2011:152) die Frage gestellt, was eigentlich so schlecht an einer autokratischen Regierung sei, in welcher Experten einfach bessere Entscheidungen treffen könnten als andere. Ihre Antwort: Die Illegitimität der Annahme, dass diese Experten von der Verpflichtung befreit werden, diejenigen zuvor um eine Erlaubnis zu fragen, bevor sie für diese Entscheidungen treffen. Demgegenüber beruht die abwägende Demokratie darauf, durch eine solche vorgängige Ermächtigung der Entscheidungsträger durch die von politischen Entscheiden Betroffenen zuvor zu legitimieren. Allerdings ist diesem theoretischen Konzept die politische Realität entgegenzuhalten, welche weit weniger auf einer prinzipiellen Ermächtigung der Regierenden aufgrund von grundsätzlichen Vorüberlegungen der Wählenden beruht, sondern im besseren Fall als persönlicher Sympathietest und im schlechteren Fall als demagogisches und mediales Spektakel. Nicht nur in Bezug auf die Reflexion kommt die deliberative Demokratie an Grenzen, sondern auch hinsichtlich des Verständnisses vieler Menschen für komplexe politische, soziale und wirtschaftliche Zusammenhänge. Das zeigt sich nicht nur bei Wahlen, sondern auch bei Abstimmungen: Zur Frage, ob ein Fahrradständer für einige Tausend Euro aufgestellt werden soll oder nicht, hat jeder eine Meinung, aber von komplexen fiskalischen, währungspolitischen oder rechtlichen Fragen sind viele Stimmbürgerinnen und Stimmbürger schlicht überfordert.

Angesichts der wachsenden Komplexität politischer und wirtschaftlicher Zusammenhänge könnte ein gangbarer Weg darin bestehen, zwischen grundsätzlichen Entscheidungen und regulatorischen Grundmechanismen auf der einen Seite und Detailentscheiden auf der anderen Seite zu differenzieren. Erstere sollten durch gesamtgesellschaftliche Diskurse legitimiert werden, letztere durch punktuelle Entscheide der Betroffenen in Zusammenarbeit mit den zuständigen Stellen.

Demokratischer Weltstaat als Fortsetzung der Weltethos-Idee

Robert W. McGee (2012:23) hat in seinem Buch über Steuervermeidung und Steuerflucht darauf hingewiesen, dass die Demokratie in den Augen einiger Gelehrter zum neuen Gott geworden sei. So erscheine jeder demokratisch abgestützte Entscheid als notwendig und richtig, und Kritik an der Demokratie werde nicht selten als blasphemisch empfunden. Doch das Problem ist, dass eine ausschliesslich auf die Interessen der eigenen Community abgestützte Ethik nicht nur ganze Menschengruppen exkludiert, sondern auf direktem Weg zu einer – ethnisch oder religiös geprägten – Standes- oder Klassengesellschaft führt. Wenn – wie McGee (2012:25) als Beispiel erwähnt – keine moralische Verpflichtung für Muslime in einem islamischen Staat für die Bildung nicht muslimischer Kinder – also zum Beispiel für Kinder jüdischer, christlicher oder atheistischer Familien – besteht, verstärkt sich die Desintegration oder gar Segregation der Gesellschaft. Oder wenn in einer säkularen Gesellschaft Menschen ohne gültige Aufenthaltsbewilligung – so genannte Sans-Papiers – weder Krankenkassenleistungen beziehen noch ihre Kinder zu Schule schicken können, führt das nicht nur zu einer Auflösung des gesellschaftlichen Zusammenhalts, sondern es entstehen eigentliche soziale Ghettos. Kaum jemand dürfte bezweifeln, dass dies weder staatspolitisch erwünscht noch bildungspolitisch gerecht ist. Von daher gilt es, Lösungen zu suchen, die einerseits alle Kinder unabhängig vom rechtlichen Status ihrer Eltern oder deren Religion gleich behandeln, anderseits aber auch allen Eltern ermöglichen, ihre Kinder gemäss ihrer Glaubensüberzeugung zu erziehen – also auf Wunsch an eine konfessionell oder weltanschaulich ausgerichtete Schule zu schicken oder an eine konfessionell neutrale Schule.

Aus der Sicht eines Staates ist – wie Eabrasu (2012:121) zu Recht betont – sowohl Steuerflucht als auch Sezession illegal. Beide widersprechen im Grunde dem territorialen Anspruch von Staat und Regierung. Vielfach die einzige Möglichkeit, sich diesem Anspruch zu entziehen, ist die Emigration15. Dieser territoriale Anspruch gründet auf ganz konkreten individuellen Rechten, die jedoch auf ein bestimmtes geografisches Gebiet – nämlich innerhalb der jeweiligen Staatsgrenzen – begrenzt sind. Das ist im Grunde eine irrationale Situation, nicht nur aufgrund der zunehmenden Mobilität und Migration, sondern auch, weil damit auch die territorial sehr unterschiedlich verteilten Ressourcen – von Wasser, über die klimatischen Bedingungen bis hin zu Rohstoffen und Energieträgern – zu unterschiedlichen Rechtsansprüchen der Menschen führen. Entscheidend für die Gewährung oder Verweigerung von Rechten ist lediglich, in welchem Land jemand geboren ist, über welche Staatszugehörigkeit die Eltern verfügen oder – pointierter gesagt – wo der Zufall oder die historische Entwicklung Grenzen gezogen hat und wo nicht.

Michael J. Sandel (2015:121) kommt in seinem Buch über Moral und Politik zum Schluss, dass es zwischen dem Denken fortschrittlicher Liberalen Anfang des 20. Jahrhunderts und der Situation im 21. Jahrhundert eine wichtige Parallele gibt. So „schwappten“ Anfang des 20. Jahrhunderts „wie heute neue Geschäfts- und Kommunikationsformen über vertraute politische Grenzen und schufen Netze wechselseitiger Abhängigkeiten zwischen Menschen an entfernten Orten“. Was damals Eisenbahnen, Telegrafen und landesweite Märkte waren, seien „heute Satellitensysteme, CNN, Cyberspace und globale Märkte – Instrumente, welche die Menschen miteinander verbinden, ohne sie zwangsläufig zu Nachbarn, Mitbürgern oder Teilnehmern einer gemeinsamen Unternehmung zu machen“ (Sandel 2015:121). Wenn man die damalige Situation auf heute übertrage, müsse man – ähnlich wie damals durch die Kultivierung des nationalen Staatsbürgertums als Antwort auf die nationalen Märkte – heute auf die globale Wirtschaft und die zunehmende Vernetzung reagieren, „indem man eine globale Autoritätsausübung stärkt und einen entsprechenden Sinn für globales oder kosmopolitisches Staatsbürgertum kultiviert“ (Sandel 2015:121).

So verlangte etwa die Commission on Global Governance eine „grössere Autorität für internationale Institutionen“ und eine „breite Akzeptanz für eine globale staatsbürgerliche Ethik“ (Sandel 2015:121f.). Doch reicht das? Führt eine Stärkung der Autorität internationaler Organisationen nicht zwangsläufig zur Frage ihrer demokratischen Legitimation – und damit zur Frage eines globalen demokratischen Weltstaates? Gerade der aktuelle Backslash internationaler Zusammenarbeit infolge populistischer und nationalistisch ausgerichteter Bewegungen (vgl. dazu Jäggi 2017a:56ff.) etwa in Form von „America First“ (Donald Trump) oder „deutsche[r] Leitkultur statt Multikulturalismus“16 (AfD 2016:47) zeigt, dass globale oder internationale Organisationen und internationale Abkommen nicht genügen, wenn sie nicht auch demokratisch legitimiert sind und breit unterstützt werden, und wenn sie die Anliegen tatsächlich oder vermeintlich benachteiligter Bevölkerungsgruppen nicht aufnehmen können.

Dabei übten die USA nicht erst unter der Administration Trump einen systematischen Obstruktionismus gegen internationale Organisationen, so etwa gegen den Internationalen Strafgerichtshof (ICC), dem sie nie beitraten, gegen die UNECSO, gegen die WHO – insbesondere unter Trump im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie – usw. Doch Letzteres war nur der vorläufige Höhepunkt einer Entwicklung, die schon lange zuvor begonnen hatte. So kritisierte etwa Richard Falk (2009:33) den eher symbolischen Widerstand des Uno-Sicherheitsrats gegen den aggressiven Krieg der USA gegenüber dem Irak 2003. Eigentlich hätte der Irak und vor allem dessen Zivilbevölkerung durch die UNO vor den Sanktionen und der kollektiven Bestrafung geschützt werden müssen, meint Falk (2009:33). Als die USA nach 9/11 erklärten, sie würden sich nie durch das internationale Recht davon abhalten lassen, ihre Sicherheitsinteressen zu verfolgen, erwies sich damit im Grunde auch das Ungenügen, ja die Nutzlosigkeit internationaler Rechtsvereinbarungen vor dem Souveränitätsanspruch der Supermächte. Auch der laut Falk (2009:34) „dubiose Kosovo-Krieg“ der NATO gegen Serbien 1999 war Ausdruck dafür.

Doch auch China bedient sich internationaler Abkommen und Einrichtungen nur dann, wenn diese ihren eigenen Grossmachtzielen dienen – andernfalls setzt es sich über Schiedssprüche und internationale Urteile hinweg, wie etwa im Zusammenhang mit der militärischen Expansionspolitik im südchinesischen Meer.

All das – so Falk (2009:33) – zeige den opportunistischen Gebrauch des internationalen Rechts durch hegemoniale Akteure, wenn diese das für notwendig erachteten.

Das bedeutet, dass letztlich nur eine handlungsfähige, demokratisch legitimierte Weltregierung in der Lage sein kann, den Hegemonialismus der Gross- und Supermächte in Schranken zu weisen und die Menschenrechte auch in kleinen Ländern zu schützen. Demgegenüber hat sich – nach Meinung von Falk (2009:143) – in den letzten Jahren die Menschenrechtssituation in vielen Gegenden der Welt verschlechtert, ja laut Falk (2009:143) hat die Sache der Menschenrechte nach 9/11 sogar einen regelrechten Backslash erlebt.

Mit Blick auf die Europäische Union hat Ferdinand von Schirach eine neue europäische Verfassung gefordert. Anstelle eines Vertrags zwischen Staaten habe diese von den Grundrechten eines jeden einzelnen Bürgers auszugehen. Insbesondere müsse jeder Mensch das alleinige Recht über seine Daten haben, einen Anspruch auf eine intakte Umwelt und die Menschenrechte müssten über wirtschaftlichen Interessen stehen – und zwar weltweit (vgl. Publik-Forum 13/2020:27).

Auch die grossen Auswirkungen der Klimaveränderungen und die durch sie mitverursachten Folgen wie Zunahme der globalen Migration (vgl. dazu Jäggi 2016c:56ff. sowie Ionesco et al. 2017) lassen es auf die Dauer unumgänglich erscheinen, dass eine Weltinnenpolitik und entsprechende planetare demokratische Staatsstrukturen entstehen (vgl. dazu auch Jäggi 2016c:131ff).

Was Sandel (2015:123) für Nationalstaaten wie die USA formulierte, nämlich dass das nationalstaatliche Projekt zwar einen starken Nationalstaat schaffen konnte, aber oft nicht auch eine „von allen geteilte nationale Identität“, gilt weit mehr noch für die Weltsituation: Ein globaler demokratischer Weltstaat kann und wird nur dann erfolgreich sein, wenn er von einem globalen menschlichen Bewusstsein der Zusammengehörigkeit und Einheit der gesamten Menschheit getragen wird. Weltstaatliche Institutionen ohne entsprechendes Bewusstsein werden zu einer leeren Bürokratie, aber ein globales „kosmopolitisches“ Bewusstsein ohne entsprechende globalstaatliche Strukturen wird zu einer Luftblase – oder schlimmer noch – zu einer Chimäre.

Das grosse Problem – darauf hat auch schon Hans Küng (1990:49) mit Blick auf John Rawls’17 „overlapping Consensus“ hingewiesen – ist die Erlangung eines grundlegenden, grenz- und kontextüberschreitenden Konsenses in politischen Fragen. John Rawls (1998:22) hat die Frage eines dauerhaften, politischen Konsenses aus der Sicht eines politischen Liberalismus wie folgt formuliert: „Wie kann eine stabile und gerechte Gesellschaft freier und gleicher Bürger, die durch vernünftige und gleichwohl konträre religiöse, philosophische und moralische Lehren einschneidend voneinander getrennt sind, dauerhaft bestehen?“. Oder noch pointierter mit Blick auf religiöse Weltanschauungen: „Wie können auch diejenigen, die eine auf einer religiösen Autorität, wie zum Beispiel der Kirche oder der Bibel, beruhende religiöse Lehre bejahen, eine vernünftige politische Konzeption haben, die eine gerechte demokratische Ordnung stützt?“ (Rawls 1998:35). Die gleiche Frage stellt sich auch für Angehörige anderer Religionen, etwa des Islams.

Ins Zentrum seines Konzepts des überlappenden Konsenses stellt Rawls (1998:83) Reziprozität: Dabei gehe es um eine „Beziehung zwischen Bürgern, die in Gerechtigkeitsgrundsätzen zum Ausdruck kommt, welche eine soziale Welt ordnen, in der … ein jeder profitiert“. Allerdings sind im Rawls‘schen Sinn Reziprozität und gegenseitiger Vorteil nicht identisch (Rawls 1998:83). Entsprechend sei eine „symmetrische Stellung der Parteien zueinander … notwendig, wenn sie als Vertreter freier und gleicher Bürger betrachtet werden sollen, die unter fairen Bedingungen zu einer Übereinkunft gelangen“ (Rawls 1998:91).

Zu Recht weist Küng (1990:49) darauf hin, dass dieser politische Grundkonsens „in einem dynamischen Prozess stets neu gefunden werden“ werden muss. Doch das Problem ist, wie das geschehen kann und soll. Ausserdem besteht im heutigen öffentlichen Diskurs die Schwierigkeit, dass sich dieser „entweder aus technokratischen, auf Managementaspekte begrenzten Gesprächen oder aus höhst parteilichen, erbitterten Schaukämpfen [speist], deren Teilnehmer einander anschreien, anstatt sich auf eine vernunftgesteuerte Auseinandersetzung einzulassen“ (Sandel 2015:7). Dazu kommt, dass die Menschen in der Politik lieber grosse Themen abhandeln wollen, als sich mit sehr spezifischen und teilweise höhst komplexen Detailfragen auseinanderzusetzen (vgl. Sandel 2015:7). Dabei hat der heutige politische Mainstream-Diskurs Schwierigkeiten, sowohl die grossen politischen Fragestellungen als auch die komplexen Detailfragen und Zusammenhänge aufzugreifen und sachlich zu diskutieren.

Ein weiteres Problem besteht in der Umsetzung des – im günstigsten Fall – erlangten politischen Grundkonsenses in eine entsprechende vertikale Machtverteilung und Souveränität, und zwar auf lokaler, nationaler und Weltebene.

Dabei muss die Souveränität breit von oben nach unten – und von unten nach oben verteilt sein: Kommunale, lokale, nationale und globale Zuständigkeiten sind dabei erforderlich, ohne dass es zu Übergriffen von oben nach unten kommt. Viele Bundesstaaten verfügen bereits heute über vielfältige Erfahrungen mit dieser Art von demokratischer Machtverteilung.

Allerdings hat sich Hans Küng (2010:271) explizit gegen eine Weltregierung in irgendeiner Form ausgesprochen: Eine Weltregierung „ist weder realistisch noch erstrebenswert. Sie wäre allzu weit entfernt von der Welt-Bürgergesellschaft und demokratisch auch kaum legitimierbar“. Diese Position ist zwar nachvollziehbar, aber sie ist vom Weltethosgedanken her weder überzeugend noch plausibel. Dass die von der UNO eingesetzte Kommission für Weltordnungspolitik (The Commission on Global Governance) sich nicht für eine Weltregierung ausspricht, hat wohl eher mit der Rücksicht auf die nationalstaatlichen Interessen der grossen Mächte zu tun als mit einer grundsätzlichen Ablehnung. Und darüber, ob ein demokratischer Weltstaat realistisch ist oder nicht, kann man streiten. Vor Ende des Zweiten Weltkriegs erschien auch eine UNO kaum als realistisch, und vor 1989 ebenso die Überwindung des Kalten Kriegs.

Küng befindet sich mit seiner Forderung nach einem globalen politischen Grundkonsens in guter Gesellschaft. So hatte bereits Papst Benedikt XVI. in seiner Enzyklika Caritas in Veritate (CV) vom 29.6.2009 „das Vorhandensein einer echten politischen Weltautorität“ (CV 2009:6718; vgl. auch Herrmann 2017:236) gefordert. Und Johannes XXIII. hatte schon 46 Jahre zuvor in seiner Enzyklika Pacem in Terris (PT 71) festgestellt: „Da aber heute das allgemeine Wohl der Völker Fragen aufwirft, die alle Nationen der Welt betreffen, und da diese Fragen nur durch eine politische Gewalt geklärt werden können, deren Macht und Organisation und deren Mittel einen dementsprechenden Umfang haben müssen, deren Wirksamkeit sich somit über den ganzen Erdkreis erstrecken muss, so folgt um der sittlichen Ordnung willen zwingend, dass eine universale politische Gewalt eingesetzt werden muss“. Und Papst Franziskus nahm 2015 in der Enzyklika Laudato Si die Forderung nach einer politischen Weltautorität wieder auf und bekräftigte sie (vgl. LS 175).

Gleichzeitig muss man sich fragen, ob Küngs (2010:276) Vorschlag, die Nationalstaaten sollten zusammen mit internationalen Organisationen wie die WTO oder IWF eine Weltordnungspolitik verwirklichen, nicht deutlich hinter den Anforderungen unserer Zeit zurückbleibt. Global Governance ist und bleibt ein freiwilliges Zusammenwirken nationalstaatlicher, privater und internationaler Akteure – und sobald die Interessen eines wichtigen Players tangiert werden, erweist sich die Global Governance zumeist als heisse Luft19.

Deshalb braucht es – wie Heimbach-Steins (2016:93) zu Recht bemerkte – eine globale Ordnung nicht nur von Eigentums- und Nutzungsrechten, sondern auch des Zugangs aller zu den lebensnotwendigen Ressourcen. Das gilt auch für soziale Leistungen, etwa in Form eines weltweiten garantierten Rechts auf ein existenzsicherndes Grundeinkommen.

In Anlehnung an Peter Singer hat Heather Widdows (2011:154) die These vertreten, dass Nähe und Distanz moralisch nicht signifikant sind und die Zahl der Menschen, welche in einer bestimmten Situation Hilfe leisten können, für die ethisch-moralische Bewertung einer Hilfeleistung irrelevant ist. Das bedeutet: Die Bewertung meines Verhaltens ist nicht davon abhängig zu machen, wie viele andere Menschen an meiner Stelle helfen könn(t)en oder nicht. Eine solche Haltung hat gravierende Folgen: Eine Verpflichtung zu sozialer und wirtschaftlicher Hilfe ist nicht von der geografischen Nähe oder sozialen Distanz zum Hilfebedürftigen abhängig, sondern davon, ob dieser Hilfe braucht oder nicht. Anders gesagt: Jeder Mensch – egal wo er wohnt – ist zu Hilfe und Solidarität verpflichtet, aber diese Hilfe muss auch koordiniert werden, sonst bleibt sie chaotisch, impressionistisch und punktuell. Und das kann letztlich nur eine demokratische Weltregierung leisten.

Auch aus religiöser Sicht ist es mehr als berechtigt, den Aufbau eines demokratischen Weltstaates als Postulat zu formulieren. So folgerte etwa Frank Crüsemann (2003:143) mit Blick auf die Friedensthematik: „Wie Frieden und Recht, Frieden und Gerechtigkeit zusammengehören, kann nicht ein für alle Mal entschieden werden, so lange nicht, wie die Welt nicht wie ein wirklicher Rechtsstaat organisiert ist, also die Macht nicht dem Recht unterworfen ist, demokratisch und kontrollierbar, durchsichtig und überprüfbar “.

Eng verbunden mit der Frage eines Weltstaates – und eine Voraussetzung dazu – ist die Forderung nach einer „globalen Staatsbürgerschaft“ („global citizenship“). Robin S. Seelan (2015:141) bezeichnet eine solche in der heutigen Zeit als „unvermeidbar und unerlässlich“. Sie ist verbunden mit einer Orientierung und einem Weltbild, welche die gesamte Menschheit im Blick haben. Zu Recht hat Seelan (2015:141) darauf hingewiesen, dass viele Religionen versucht haben, die Grundidee der Gemeinsamkeit aller Menschen, der Universalität und der Brüderlichkeit unter den Völkern ins Zentrum ihrer Heilsordnung zu stellen. Aber gerade auch in religiösen Kontexten wurde immer wieder versucht, eine Grenze zwischen den eigenen Gläubigen (Ingroup) und den übrigen Menschen (Outgroup) zu ziehen. Aber beides geht nicht gleichzeitig.

An-Na’im (2011:22) hat in seinem Buch „Muslims and Global Justice“ darauf hingewiesen, dass die Durchsetzung der Menschenrechte und die Meinungsäusserungsfreiheit, Glaubens- und Religionsfreiheit, Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen und zu Bildung für alle Menschen unmöglich bleibt, wenn sie jeweils nur für die eigenen Bürgerinnen und Bürger eines Landes garantiert werden. Dieses Paradox könne nur aufgelöst werden, wenn es zwei sich überlappende Bereiche von Bürgerrechten gebe: nationale Bürgerrechte und Weltbürgerrechte. Gegenüber dem traditionellen, eindimensionalen nationalen Bürgerrecht brauche es eine Art abgestuftes internationales Bürgerrecht (vgl. An-Na’im 2011:22). Dabei müsse die Zivilgesellschaft lokal verwurzelt bleiben. Zivilgesellschaft und Staat müssten in einem komplementären, sich ergänzenden Verhältnis stehen.

Dabei besteht das Problem, dass sowohl der Säkularismus als auch religiöse Heilsordnungen beanspruchen, universelle Gültigkeit zu haben. Das bedeutet, dass beide aufgrund ihres Machtanspruchs fast zwangsläufig in einen Konflikt miteinander geraten müssen. Dabei besitze beide – also säkulare Ideologien wie religionistische Bewegungen – grosse Mobilisierungs- und damit auch Gewaltpotenziale, wie die jüngere und jüngste Geschichte gezeigt hat. Vielleicht wäre eine global gedachte und garantierte „citizenship“ eine Möglichkeit, dieses Konfliktpotenzial nachhaltig zu entschärfen.

Ich habe die Frage eines Weltstaates an verschiedenen Stellen eingehend diskutiert (vgl. Jäggi 2017a:298ff. sowie 2016c:131ff.). Deshalb hier nur so viel: Aus der Sicht einer interreligiösen Friedensethik wird man nicht darum herumkommen, die Frage nach einem gerechten und demokratischen Weltstaat neu zu stellen und auch konkrete Schritte zu seiner Verwirklichung einzuleiten. Entscheidend wird dabei sein, ob es gelingt, erstens einen weltumfassenden Grundkonsens über die gemeinsamen Grundwerte von Nationen und Religionen übergreifenden gesellschaftlichen Wertvorstellungen zu finden, zweitens diese auf übergreifende geistige und ethische Handlungsprinzipien auszurichten und drittens diese auch in Form von globalstaatlichen Institutionen umzusetzen. Und all dies muss auf der Grundlage der Menschenrechte geschehen.

Ausgehend von der sukzessiven Entwicklung und Entfaltung der Menschenrechtslehre im Rahmen einer Reihe von Verträgen und Abkommen, die im Grunde eine – wenn auch immer wieder von Rückschlägen unterbrochene – Erfolgsgeschichte darstellen, lassen sich nach Beitz (2009:27ff.) folgende Kategorien von Menschenrechten unterscheiden:

1) Rechte in Bezug auf die Freiheit und Sicherheit der Person: Dazu gehören das Verbot der Sklaverei, das Verbot von Folter sowie grausamer und brutaler Strafen, das Recht aller Menschen auf Anerkennung als Rechtsperson, Gleichheit vor dem Gesetz, Verbot willkürlicher Inhaftierung und die Unschuldsvermutung.

2) Rechte in der Zivilgesellschaft: Zu dieser Kategorie zählen Schutz der Privatheit in Familie, Heim und zwischenmenschlichen Beziehungen, Bewegungsfreiheit und freie Wahl des Wohnorts innerhalb des Staates, Recht auf Auswanderung, gleiches Recht zu heiraten für Männer und Frauen, gleiche Rechte in der Ehe, Recht auf Scheidung, Recht auf freie Zustimmung zur Heirat.

3) Politische Rechte: Bestandteil der politischen Rechte sind Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, Versammlungsfreiheit und Recht auf Gründung von Vereinigungen, Recht auf Regierungsmitbestimmung im eigenen Land, Recht auf Teilnahme an Wahlen.

4) Ökonomische, soziale und kulturelle Rechte: Dazu gehören das Recht auf angemessenen Lebensstandard, Zugang zu geeigneter und genügender Ernährung, Kleidung, Unterkunft, medizinischer Versorgung, garantiertes Recht auf Grundschulunterricht, freie Wahl der Anstellung, gerechte und angemessene Entlöhnung, gleicher Lohn für gleiche Arbeit, das Recht, einer Gewerkschaft beizutreten, vernünftige Begrenzung der Arbeitszeit und soziale Sicherheit.

Dazu ist laut Beitz (2009:28) eine weitere Menschenrechtskategorie zu ergänzen.

5) Rechte von Gruppen oder Communities als soziale Entitäten im Sinne von Selbstbestimmung und Autonomie der einzelnen Gemeinschaften, unter anderem über Selbstverwaltung, Kontrolle über natürliche Reichtümer und Ressourcen an Ort, korporative Glaubensfreiheit usw.

Neben der UNO-Menschenrechtskonvention von 1948 (vgl. Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 1948 und 1948b) bestehen folgende weitere Vereinbarungen:

– Pakt I (Sozialrechte): Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (ICESCR)

– Pakt II (Bürgerrechte): Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR)

– Antirassismuskonvention: Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (ICERD)

– Antifolterkonvention: Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (CAT)

– Frauenrechtskonvention: Übereinkommen über die Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW)

– Kinderrechtskonvention: Übereinkommen über die Rechte des Kindes (CRC)

– Wanderarbeiterkonvention: Übereinkommen zum Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen (ICRMW)

– Behindertenrechtskonvention: Konvention zum Schutz der Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD)

– Konvention gegen das Verschwindenlassen: Konvention gegen das Verschwindenlassen von Personen

– Weitere universelle Abkommen: Übereinkommen gegen Völkermord / Genfer Flüchtlingskonvention / Abkommen gegen den Menschenhandel / Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs / Vertrag über den Waffenhandel / UNO-Migrationspakt / UNO-Flüchtlingspakt (vgl. Menschenrechtsabkommen der UNO 2019).

Wie man sieht, fehlt es weder an Abkommen noch an Absichtserklärungen. Das Problem liegt natürlich – wie alle wissen – bei der Anwendung und Durchsetzung dieser Forderungen auf lokaler, nationaler und globaler Ebene20.

Johan Galtung (2000:13f.) hat folgende vier Forderungen für eine „Charta für die Globalisierung von Menschenrechten und -pflichten“ vorgeschlagen:

– Recht aller Weltbürger/innen auf freie Meinungsäusserung, Versammlungsfreiheit und die freie und geheime Wahl von Vertreterinnen und Vertretern der Mitglieder der UN-Vollversammlung bei gleichzeitiger Wahlpflicht;

– Anspruch aller Weltbürger/innen auf Schutz gegen Gewalt – durch wen diese auch immer ausgeübt wird – durch eine „Weltzentralbehörde“ bzw. Weltregierung und Pflicht aller Weltbürger/innen, „sich an friedensbewahrenden, mit friedlichen Mitteln durchgeführten militärischen und/oder zivilen Massnahmen zu beteiligen“ (Galtung 2000:13);

– Anspruch aller Weltbürger/innen auf eine menschenwürdige Existenz und Deckung ihrer materiellen Grundbedürfnisse auf der Grundlage von Erwerbstätigkeit bei gleichzeitiger Pflicht zur Entrichtung angemessener Weltsteuern;

– Anspruch aller Weltbürger/innen auf kulturelle Identität auf der Grundlage alter, traditioneller und neuer kultureller Inhalte bei gleichzeitiger Pflicht, „anderen im Dialog über kulturelle Inhalte, Sinngebungen und Identitäten mit Respekt zu begegnen“ (Galtung 2000:14).

2 Die Frage, ob es überhaupt Ethiken geben kann, die nicht weltanschauungsbasiert sind, sei hier einmal offen gelassen, ich gehe an anderer Stelle darauf ein (vgl. Jäggi 2016a). Gemeint sind hier Ethiken, die aus klar umrissenen weltanschaulichen Kontexten heraus entstanden sind, etwa als „christliche“ oder „islamische“ Ethik, oder auch als „säkulare“ Ethik, die ohne Zweifel auch auf einer spezifischen – in diesem Fall einer säkularen – Weltanschauung beruht. Im Unterschied zu anderen ethischen Ansätzen – wie etwa der Diskursethik – basieren weltanschauungsbasierte Ethiken auf einem klar umrissenen und damit zwangsläufig partiellen Bezugsrahmen, etwa einer religiösen Weltanschauung, beanspruchen aber trotzdem darüber hinaus universelle Gültigkeit. Das gilt – mit Einschränkungen – auch für säkulare Ethiken, die ja auch aus einem bestimmten, sozial, politisch und historisch mehr oder weniger klar umrissenen Kontext heraus entstanden sind und ebenfalls universelle Gültigkeit beanspruchen.

3 Ausführlich zu diesem Diskurs vgl. die Kapitel „Theologie der Befreiung als Ansatz?“ und „Diskursethik“.

4 „For a rich, complex, and complete understanding of secularism, one must examine how the secular idea has developed over time trans-nationally” (Bhargava 2007:22).

5 Als ich einmal diesen Einwand in einem Gespräch mit Hans Küng formulierte, lautete seine Antwort: „Das haben wir versucht, aber es hat nicht funktioniert“. Doch dass ein Ansatz „nicht funktioniert“ – also einer empirischen Überprüfung nicht standhält oder in der Praxis nicht anwendbar ist, kann sehr verschiedene Gründe haben: schlecht gewählte Rahmenbedingungen, mangelhafte Konstrukte, falsche oder unzureichende Operationalisierung, methodische Mängel usw. Allerdings hat Küng (1990:95) selber auch von jeder Religionsgemeinschaft gefordert, sich bewusst zu sein, „dass sie der ständigen Vergebung und Erneuerung bedarf“ – sich also auch in einem permanenten Wandlungs- und Lernprozess befindet.

6 Zur Frage der Heilsordnung und der geistigen Macht im Christentum vgl. auch Jäggi 2020b:53ff.

7 Gutiérrez (1992:241) umschreibt die drei Ebenen der Befreiung als „politische Befreiung“, als „Befreiung des Menschen im Laufe der Geschichte“ und „Befreiung von der Sünde und Eintritt in die Gemeinschaft mit Gott“.

8 Die marxistisch inspirierte Dependencia-Theorie verstand die Welt als Abhängigkeitsstruktur von armen, sozial benachteiligten und wirtschaftlich ausgebeuteten Peripheriegebieten gegenüber von reichen, wirtschaftlich florierenden Zentren wie Nordamerika und Europa, wobei die gleiche Struktur auch in den einzelnen Ländern vorzufinden sei: Arme Randgebiete stehen reichen Metropolen gegenüber – mit ähnlichen Abhängigkeitsmechanismen.

9 Der Befreiungstheologe wird auch vorgeworfen, sich in ihrem Einsatz für die Armen missbrauchen zu lassen: „Die ,Befreiungstheologien‘ haben zwar das Verdienst, die große Texte der Propheten und des Evangeliums über die Verteidigung der Armen wieder aufgewertet zu haben, doch verwechseln sie darüber hinaus in verderblicher Weise den Armen der Schrift mit dem Proletariat von Marx. Dadurch wird der christliche Sinn der Armut pervertiert und der Kampf für die Rechte der Armen verwandelt sich in eine Klassenauseinandersetzung im ideologischen Sinn des Klassenkampfes. Die Kirche der Armen bezeichnet dann eine Klassenkirche, die sich der Notwendigkeit des revolutionären Kampfes als Etappe zur Befreiung bewußt geworden ist und die diese Befreiung in ihrer Liturgie feiert“ (Kongregation für Glaubenslehre 1984: IX,10).

10 Wörtlich „wir sind“, aber gleichzeitig enthält der Ausdruck „nos-otros“ auch die Bedeutung „wir anderen“. Dazu bemerkt Dussel (1994:96, Fussnote 46): „Das ,nosotros‘ ist daher eine Gemeinschaft, wo jeder für alle anderen ein ,Anderer‘ ist: ,nos‘ steht für alle, ,otros‘ für jeden einzelnen“.

11 Nach gängiger Lehre besteht die Religionsfreiheit aus der individuellen Religions- und Glaubensfreiheit – also dem Recht, persönlich zu glauben, was der einzelne will –, der kollektiven Religionsfreiheit – also dem Recht auf Teilnahme an religiösen Versammlungen und Ritualen zusammen mit anderen Gläubigen –, und der korporativen Religionsfreiheit, welche das Recht auf autonome Organisations- und Selbstverwaltung der Religionsgemeinschaften meint (vgl. Jäggi 2016b:46ff.).

12 Zu den einzelnen Stufen des moralischen Urteils bei Lawrence Kohlberg vgl. Kohlberg 1995 sowie Sajak 2015:284 und Jäggi 2016a:284f.

13 Eine deontologische Ethik ist eine Sollens- oder Pflichtethik, die nicht nur auf die Ergebnisse oder Konsequenzen einer Handlung schaut, sondern auch von inneren, intrinsischen Werten ausgeht.

14 Zum Begriff „Inklusionslogik“ schreibt Assmann (1993:14): „In Lateinamerika sind z.Zt. die Begriffe ,Inklusionslogik‘ bzw. ,Exklusionslogik‘ ziemlich geläufig, wobei man die radikale, theoretisch-praktische Verteidigung der Würde- und Rechtsansprüche aller heute und morgen lebenden Menschen als Inklusionslogik, und die entgegengesetzte Beeinträchtigung dieser universal-menschlichen Dignitätsforderungen als Exklusionslogik charakterisiert. Heute leben wir eine brutale Vorherrschaft der Exklusionslogik“.

15 Allerdings nicht immer und überall. So bleiben etwa auch im Ausland lebende US-Amerikaner in den USA steuererklärungspflichtig, was teilweise einen erheblichen Eingriff der USA in die Steuerhoheit anderer Länder bedeutet. Umgekehrt müssen im Ausland wohnende Nicht-US-Amerikaner, die mit den USA geschäftlich – etwa über Bankaktivitäten – verbunden sind, eigene Steuererklärungen für die USA einreichen.

16 So steht etwa im „Programm für Deutschland“, also dem Parteiprogramm der AfD unter dem Titel: „Deutsche Kultur, Sprache und Identität erhalten“: „Die Ideologie des Multikulturalismus, die importierte kulturelle Strömungen auf geschichtsblinde Weise der einheimischen Kultur gleichstellt und deren Werte damit zutiefst relativiert, betrachtet die AfD als ernste Bedrohung für den sozialen Frieden und für den Fortbestand der Nation als kulturelle Einheit. Ihr gegenüber müssen der Staat und die Zivilgesellschaft die deutsche kulturelle Identität als Leitkultur selbstbewusst verteidigen“ (AfD 2016:47).

17 Ausführlich zur Frage des Rawls‘schen Konzept des overlapping consensus vgl. Jäggi 2016b:65ff.

18 Ist es ein Zufall, dass in der Ausgabe von Denzinger/Hünermann (2014) ausgerechnet der Abschnitt 67 fehlt – oder haben die Herausgeber diesen Abschnitt als zu provokativ gehalten?

19 Ausführlich zur Diskussion des Global Governance-Ansatzes vgl. Jäggi 2017a:229ff.

20 Ausführlich zur Menschenrechtsdiskussion und zur Durchsetzung der Menschenrechte vgl. auch Jäggi 2017a:179ff.

Säkulare und religiöse Bausteine einer universellen Friedensordnung

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