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Das »wilde Denken« lässt uns nicht los

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Kehren wir noch einmal kurz zu den eingangs erwähnten Zande im zentralafrikanischen Südsudan zurück. Wir müssen dazu eine kleine Zeitreise unternehmen und uns in ein Afrika vor knapp 100 Jahren zurückdenken. Irgendwo an der Wasserscheide der beiden Ströme Nil und Kongo lebten und leben die Zande. Das Dreiländereck von Zentralafrikanischer Republik, dem Südsudan und der Repu­blik Kongo ist auch heute noch ein wenig abseits gelegen. Die Zande waren vor knapp 100 Jahren jedenfalls noch eine Gesellschaft ohne nennenswerte Kontakte zur sogenannten Zivilisation, wie wir sie kennen. Auch nachdem die Kolonialmächte ihre Pflöcke in die rote Erde des schwarzen Kontinents schlugen und die Kirchen ihre ersten Missionen eröffneten, ging es im Land der Zande sehr langsam voran mit der Modernisierung. Vor nicht ganz 100 Jahren verbrachte der britische Ethnologe Edward Evan Evans-Pritchard zwei Jahre bei den Zande. Er war es auch, der den Zauber des Medizinmannes beobachtete, der den Sonnenuntergang mit einem Stein in einer Astgabel verzögern wollte. Und das war beileibe nicht der einzige Zauber, den der Forscher bei den Zande dokumentierte. Evans-Pritchard hielt fest: »Mangu, Hexerei, das war eines der ersten Worte, die ich bei meinem Aufenthalt im Zandeland hörte. Und von nun an sollte ich es jeden Tag hören.«1

Dieses Schicksal teile ich mit dem britischen Sir. Ich höre auch jeden Tag etwas von Mangu. Bei uns heißt Mangu Homöopathie, Bioresonanztherapie oder Informationsmedizin.

Evans-Pritchard schrieb nach seinem Aufenthalt im Südsudan das Buch Hexerei, Magie und Orakel bei den Zande, es gilt als Meisterwerk der Ethnologie. Das 1937 erschienene Werk ist aus mehreren Gründen interessant: Evans-Pritchard begegnet den Objekten seiner Forschung mit Respekt. Das ist beachtlich für die damalige Zeit. Der Ethnologe beschreibt die Zande als ausgesprochen heitere und freundliche Menschen, mit denen es sich gut plaudern lässt. Er begegnet seinen Forschungsobjekten auf Augenhöhe und kanzelt die Zaubereien und Hexereien, von denen die Zande ausführlich und gern erzählen, nicht als Zeugnisse von »Primitivität« oder »Wildheit« ab.

Allerdings, und das ist der ganz entscheidende Punkt: Obwohl er die Praktiken der Medizinmänner und der Hexer detailliert schildert, gibt Evans-Pritchard niemals zu verstehen, dass er der Zauberei und dem Wirken der Medizinmänner Glauben schenkt. Später sollte man Evans-Pritchards bahnbrechende Arbeit so charakterisieren: Ihm sei als Erstem der Versuch gelungen, »fremde Denksysteme auf ihre eigene Logik hin zu untersuchen«.

Und die Logik der Zande rund um ihre Medizinmänner lässt sich rational erklären. Evans-Pritchard stellt die richtigen Fragen dazu. Eine davon lautet: Warum glauben die Menschen bei den Zande dem – aus unserer Sicht offensichtlich falschen – Zauber? Um auf das Beispiel mit dem verzögerten Sonnenuntergang zurückzukommen – es gibt einen recht banalen Grund dafür, dass die Zande dem Glauben schenkten: Die Zande hatten vor 100 Jahren keine Uhren. Sie hatten auch keine andere Methode zur Messung von Zeit. Sie hatten nicht einmal eine Vorstellung, dass es so etwas wie eine Uhr geben könnte, und sie hatten – und das macht sie durchaus sympathisch – offenbar auch kein Verlangen nach einer Uhr. Und das ist einer der Gründe dafür, dass der Medizinmann im Land der Zande leichtes Spiel hat bei seinem Spiel mit der Sonne und der Zeit.

So gut wie niemand aus dem Volk der Zande hatte vor 100 Jahren eine Möglichkeit, mal schnell in eine Bibliothek zu spazieren, um sich über Aberglauben und Magie schlauzumachen. Die Zande konnten nicht einmal wissen, dass es Bibliotheken gibt. Niemand hatte die Möglichkeit, ein Experiment zu wagen und dem Medizinmann zu sagen: »Hey, das ist fauler Zauber, den du da veranstaltest. Ich habe hier eine Stoppuhr mitgebracht, wir schauen uns das jetzt mit dem Hinauszögern des Sonnenuntergangs ein wenig genauer an.« Mit anderen Worten: Die Medizinmänner der Zande konnten sich einigermaßen sicher sein, dass niemand in ihrem Dorf oder in ihrer Gesellschaft ihren Zauber zu widerlegen vermochte.

Das bedeutet allerdings nicht, dass alle in der Gesellschaft der Zande sich jeden Bären aufbinden ließen: Im Kapitel »Die Stellung der Medizinmänner in der Gesellschaft« in Evans-Pritchards Buch erfahren wir vom Unmut mancher im Land der Zande gegenüber den Rosstäuschern. Der Autor schreibt: »Viele sagen, dass die meisten Medizinmänner Lügner sind und einzig daran interessiert, reich zu werden.«

Die Zande brachten vor 100 Jahren im tiefen Afrika offenbar kritischere Geister hervor, als unsere Gesellschaft es heute tut. Das ist etwas überspitzt formuliert, aber wer schon einmal in einem Kreis von impfkritischen Eltern gesessen oder mit überzeugten Anwendern von Homöopathie diskutiert hat, der kann ohne Weiteres zu diesem Schluss kommen. Im Gegensatz zu den Zande steht uns jede Bibliothek offen. Wir können Studien einsehen, wir sind stolz auf unsere Bildung, und trotzdem konsumieren wir – im wahrsten Sinne des Wortes wie verrückt – das, was die Zande Mangu nennen: Magie, Zauberei. Unzählige Studien und Metastudien belegen, dass homöopathische Arzneimittel nicht besser wirken als ein Placebo – und trotzdem schwören Millionen Menschen darauf.

Der Grund dafür ist das »wilde Denken«, dem eine Gesellschaft offenbar nicht entkommen kann. Wir verstehen uns als Zivilisation, die sich von angeblich Primitivem abhebt, wir sind stolz auf die Aufklärung, auf Schrift und Wissenschaft und Fortschritt, wir fliegen zum Mars und statten Roboter mit künstlicher Intelligenz aus, wir fragen Siri und Alexa, und sie antworten uns tatsächlich, und wir verharren – ohne dass es uns bewusst ist – im »wilden Denken«. Das ist ein Begriff, der uns der Sache näherbringt. Er wurde von dem 2009 verstorbenen französischen Ethnologen Claude Lévi-Strauss geprägt. Das Konzept des »wilden Denkens« ist ein Ansatz zum Verstehen menschlicher Gesellschaften, die – etwas vereinfacht gesagt – auf »mythischer Weltanschauung« beruhen. Damit meint Lévi-Strauss Menschen wie die Zande, Kulturen und Gesellschaften vor und außerhalb eines Lebens, das wir gern mit den Labels Zivilisation und Aufgeklärtheit versehen. Aber, und das ist der entscheidende Ansatz im Konzept von Lévi-Strauss: Das »wilde Denken« erlebt in modernen Industriegesellschaften in neuen Manifestationen eine Renaissance.

Das ist der Punkt: Der »Wilde« ist nicht nur der Medizinmann der Zande, der im finsteren Afrika vor 100 Jahren heilt, zaubert und orakelt. Es ist auch der Arzt aus dem Zillertal, der sich nicht geniert, Zahlenreihen und Halbkreise als Schutz vor dem Corona-Virus zu empfehlen, der darüber ein Filmchen dreht und das an seine Freunde und Bekannten schickt. Der »Wilde« ist auch der Aurachirurg, der mit dem Messer über einem anatomischen Atlas herumfuchtelt und jemanden, der dahinter sitzt, zu »operieren« vorgibt. Der Glaube, dass ein Wirkstoff, der in einem Verhältnis von einem Tropfen zum Tausendfachen Volumen des Atlantiks verdünnt ist, auf einem Zuckerkügelchen seine Wirkung entfacht. Was soll das anderes sein als »wildes Denken«?

Letztlich ist das Konzept des »wilden Denkens« etwas Versöhnliches, Kulturübergreifendes. Es lässt uns verstehen, dass es in allen Gesellschaften, auf allen Kontinenten und vermutlich unabhängig von formaler Bildung und Entwicklung oder dem, was man als »Zivilisationsgrad« versteht, ein Bedürfnis gibt: nach einem »wilden Denken«, das sich aus Bequemlichkeit oder warum auch immer dem Hausverstand, der Ratio und der Nüchternheit entzieht. Es gibt eine Sehnsucht im Menschen, sich dem Medizinmann anzuvertrauen, auch wenn man ahnt, dass der sein Spiel treibt. Dem Medizinmann in Afrika, der die Sonne beim Untergehen aufhält; dem Medizinmann bei uns, der uns Zuckerkugeln auf die Zunge legt. So absurd die Versprechen eines Schamanen oder das Angebot »alternativmedizinischer« Ärzte auch sein mag, auf den gar nicht so diskreten Charme der Scharlatanerie fällt nun einmal ein Teil der Menschen herein, und das sogar mit einer Freude.

Aber es gibt Hoffnung: Es gibt in allen Gesellschaften eine reichlich große Anzahl von Menschen, die Hausverstand, redliche Argumentation und Rationalität in Ehren halten und den Schlangenölverkäufern die Stirn bieten. Ich habe es bereits angeführt: Auch im Land der Zande im tiefen Afrika vor 100 Jahren zweifelten Menschen an der Zauberkraft ihrer Medizinmänner. Das gibt Hoffnung darauf, dass sich kritisches Denken auch bei uns schön langsam durchsetzt.

Zur Ehrenrettung der Zande und Afrikas sei gesagt: Die Zande und ihre Medizinmänner, das war vor 100 Jahren. Mittlerweile gibt es Zande, die Medizin studiert haben, die Ärzte sind und die von der Zauberei ihrer Großväter nichts mehr wissen wollen. Im Kongo und im Südsudan gibt es Krankenhäuser, die Menschen nach den Regeln der Medizin behandeln, wenngleich die ärztliche Unterversorgung in diesen und vielen anderen Ländern der Welt eine Schande ist. Aber selbst im Land der Zande weiß man mittlerweile zu schätzen, was Medizin kann: Wer Kopfweh hat, der ist dankbar für ein Aspirin, das ist in Afrika nicht anders als in Europa. Man weiß auch im Land der Zande den Segen der Impfungen gegen Krankheiten zu schätzen, die vormals die Menschen bei einer Epidemie dahinrafften.

Ich war als Student mehrere Jahre in Afrika unterwegs, zwischen Kairo und Kapstadt kenne ich alle Länder, darunter auch den Sudan. Auf dem Campus der Universität der Khartoum lernte ich eine junge Zande-Frau kennen. Sie studierte Medizin, ich scherzte mit ihr und ihren Freundinnen, dass ich von ihrem Volk und von deren Zauberkünsten gelesen hatte. Kaum hatte ich das angesprochen, breitete sei eine Decke aus. Sie würde mir jetzt meine Zukunft vorhersagen. Dann warf sie allerlei Steine und ein paar Muscheln darauf und blickte ernst. Das Orakel ergab: Ich würde in politische Unruhen geraten und Mädchen kennenlernen. Ich bedankte mich und merkte an: Ich befinde mich im Sudan, in dem seit Jahren ein brutaler Bürgerkrieg tobte, für den Hinweis mit den Unruhen brauche ich kein Orakel. Außerdem war ich ein 21-jähriger Mann, und in dem Alter ist man als Mann so gut wie hinter jedem Rock her. Das teilte ich der Studentin mit, und sie und ihre Freundinnen lachten. Sie haben das selbst nicht ernster genommen als wir, wenn wir in der Tageszeitung unser Horoskop lesen. Vor ein paar Jahren kontaktierte mich die Frau via Facebook. (Es ist eine der schönen und verbindenden Seiten von Facebook, dass ich immer wieder Kontaktanfragen von Menschen aus fremden Ländern erhalte, die sich an einen Fremden erinnern können – und das teilweise nach Jahrzehnten.) Nach der Unabhängigkeit des Südsudan hat sie in der südsudanesischen Hauptstadt Juba eine Stelle als Krankenhausärztin angenommen. Sie impft Kinder gegen Masern und Gelbfieber, und gibt ihren Patienten wenn es sein muss Antibiotika und keine Paste aus zerstoßenen Rinden und zerkochten Termiten und Heuschrecken, wie es einst Evans-Pritchard von ihren Großvätern beschrieb. Die Medizinmänner unter den Vorfahren ihres Volkes gereichen ihr weder zur Ehre noch zur Schande.

Was wir daraus lernen: Das »wilde Denken« ist kein Stempel für sogenannte »Wilde«, wir finden es überall, am Weißen Nil, im Mostviertel und im Ruhrgebiet, und es kann überwunden werden.

Abschließend sei zur Ehrenrettung Afrikas gesagt: Auch vor 100 Jahren spielte Magie nicht in allen Gesellschaften auf dem schwarzen Kontinent eine große Rolle. Evans-Pritchard forschte nach seinem Aufenthalt bei den Zande bei den Nuern im Süd­sudan. Als er dort beharrlich nach Magie und Zauberei zu fragen begann, reagierten die Nuer mit Kopfschütteln. Sinngemäß gaben sie ihrem britischen Gast zu verstehen: »Was hast du bloß mit deiner Besessenheit nach Magie?« Die Nuer erwiesen sich als begnadete Rinderzüchter, sie verehrten ihre prächtigen Herden und wollten – so die Schilderungen Evans-Pritchards – tagein, tagaus über gar nichts anderes reden als über ihre Rinder. Magie, ­Medizinmänner und Ähnliches, das ging den Nuern offensichtlich irgendwo unterhalb des Rückens vorbei. Die Nuer sind mir sehr sympathisch. Sie zeigen uns: Das »wilde Denken« ist kein Schicksal, man kann sich davon befreien, auch als Gesellschaft.

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