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10 Prämissen zur Fakemedizin

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Zurück zu den Zaubereien, die mir mitten in Europa angeboten werden. Die Phänomene, Angebote und Versprechen, über die ich in diesem Buch schreibe, stelle ich nicht zur Diskussion, sondern an den Pranger. Das klingt hart, aber irgendjemand muss es nun mal machen, und ich denke, dass ich die Argumente für diese durchaus apodiktische Aussage auf meiner Seite habe. Im Folgenden skizziere ich kurz, von welchen Prämissen und Überzeugungen ich ausgehe. Lesen Sie sich das gut durch, sonst werden Sie sich schwertun mit dem Buch.

1 Ich muss nicht rund und um die Erde segeln – zumindest nicht, um zu beweisen, dass die Erde eine Kugel ist. Es gibt tatsächlich eine wachsende Anzahl von Menschen, die behaupten, dass die Erde eine Scheibe ist. Wenn wir es mit diesen Flat-Earthern zu tun haben, reicht ein Verweis auf Geografen, Physiker und Astronomen. Die erklären Phänomene wie Ebbe, Flut, Gravitation und die Bahnen der Gestirne recht schön. Deren Modelle für die Kugelform der Erde bauen wunderbar aufeinander auf. Die in dieser Sache firmen Wissenschaftler können die Gestalt der Erde und die Ausgestaltung des Universums recht gut veranschaulichen, und sie erklären uns plausibel, warum sich eine Scheibe im Universum verdammt schwertäte. Wer die Kugelform der Erde anzweifelt, der darf gern die Segel setzen, zum Rand der Scheibe segeln und uns Fotos von dort schicken. Und ab diesem Zeitpunkt bin zumindest ich beeindruckt und still. Bis dahin gilt allerdings für die Astrophysik und die Geografie, was auch für die Medizin gilt, und damit kommen wir zu Regel Nummer 2:

2 Die Regeln der Wissenschaft gelten immer. Wer behauptet, dass er mit Fernheilung Krebs besiegen kann, muss die Beweise dafür bringen. Wer behauptet, dass in wirkstofffreien Zuckerkugeln eine imaginäre Information gespeichert ist, die uns heilt, der muss Beweise dafür liefern. Die Beweise müssen belastbar und reproduzierbar sein, so einfach ist das. Die Beweislast liegt beim Anbieter. Es ist nicht meine Aufgabe, nachzuweisen, dass die von den anthroposophischen Medizinern angebotenen Mistel-Präparate Krebs nicht heilen. Natürlich darf jemand behaupten, dass er mit Weißwurst-Senf, den er auf einem Fensterbrett in Form von Mandalas verschmiert, Multiple Sklerose heilt. Allerdings muss der Weißwurst-Mandala-Experte den Beweis für die Wirksamkeit bringen. Machen wir es kurz: Das mit der Beweisführung, das wird nicht geschehen. Fakemedizin scheut Wissenschaft, Fakten, Messbares, Nachvollziehbares und die Evidenz wie der Teufel das Weihwasser. Bei fast allen Scharlatanerien, mit denen ich Sie in diesem Buch konfrontiere, werden Sie auf der Webseite oder in den Foldern der Anbieter irgendwo einen Disclaimer finden, der das implizit bestätigt. Dort lesen wir im zumeist Kleingedruckten, dass die Anbieter »darauf aufmerksam machen, dass die Methode von der Schulmedizin nicht anerkannt wird«, oder »... bitte bedenken Sie, dass mein Angebot keinen Arzt ersetzt« oder dass »die Schwingungsglobuli nur auf der energetischen Ebene wirken« und lediglich »dazu da sind, die Selbstheilungskräfte zu stärken«. Auf ein Ärztezentrum nahe meiner Heimatstadt Steyr bin ich aufmerksam geworden, als ich mich auf die Suche nach einem Facharzt für Interne Medizin gemacht habe. Auf der Webseite bieten die Ärzte dort von Aderlass bis Quantenheilung allerlei an, das mit diesem Hinweis versehen ist: »Es wird darauf hingewiesen, dass viele dieser Methodiken seitens der westlichen Schulmedizin derzeit nicht anerkannt werden.« Danke für den Hinweis, aber ich suche mir lieber Ärzte, die anerkannte und wirksame Methoden anwenden. Wären das keine Ärzte, sondern Kfz-Mechaniker, sie würden die Bremsleitung meines Autos vermutlich mit Luft füllen, dafür ein ordentliches Honorar verlangen, mich aber freundlich warnen: »Leider müssen wir Sie darauf hinweisen, dass unsere Methoden, die Bremsen zu reparieren, vom westlichen Schulmechanikertum derzeit nicht anerkannt werden.« Das ist ein kluger Schachzug, um als Mechaniker auf der sicheren Seite zu sein, wenn es nach der Reparatur kracht. Was man bei derlei Ärzten sinngemäß zwischen den Zeilen liest: »Lieber Patient, wir bieten Ihnen auch Schrott an. Danke für Ihr Interesse und danke vorab dafür, dass Sie nicht lästig nachfragen, ob der irgendwie wirken kann. Und wenn er nicht hilft, ist das ohnehin nicht unsere Schuld.« So funktioniert das Geschäftsmodell Fakemedizin. Der diskrete Disclaimer ersetzt die Evidenz. Die schöne Verpackung ersetzt den Beweis für die Wirksamkeit. Egal ob Fernheiler oder Homöopathen, sie werden – ebenso wie die Flat-Earther – auch in Zukunft daran scheitern, ihre Thesen beweisen oder eine Wirkung nachweisen zu können. Die Erde ist keine Scheibe und Fakemedizin wirkt nicht.

3 Ich muss dem Regenmacher nichts glauben. Ich bin Ethnologe. Der Ethnologe begibt sich – etwas vereinfacht gesagt – in eine »fremde Kultur«, er beobachtet das Leben dort, nimmt daran teil, er lässt sich etwas erzählen, und er dokumentiert das. Die Ethnologie ist allerdings keine rein deskriptive Wissenschaft. Als Ethnologe gebe ich nicht nur wieder, was ich gesehen und gehört habe und was mir in den Notizblock diktiert wurde. Ich muss allfällige fremde Phänomene auch interpretieren und in unsere Denkweise übersetzen. Das ist eine Herausforderung, vor allem wenn es um immaterielle Manifestationen einer Kultur geht: Spirituelles, Religiöses, Schamanismus, Voodoo und Ähnliches. Wenn mir am Blauen Nil, im Hochland von Neuguinea oder am Amazonas ein Regenmacher vorgestellt wird, werde ich als Ethnologe dort natürlich nicht sagen: »Hört mir auf mit dem Blödsinn, keiner kann Regen machen.« Ich höre mir natürlich geduldig an, wie der Regenmacher den Regen herbeizaubert, und höre den Leuten, die dem Regenmacher vertrauen, und den Bauern, die sehnlichst auf den Regen warten, zu. Natürlich ist die Technik des Regenmachens letztlich nicht relevant. Was wirklich wichtig ist und relevant: Ich muss herausfinden und hinterfragen, warum die Menschen dem Regenmacher glauben, warum sie seiner Zauberei eine Wirksamkeit attestieren. Natürlich wissen wir, dass ein Regenmacher keinen einzigen Tropfen Niederschlag herbeizaubern kann. Das scheinbar Irrationale oder Geheimnisvolle lässt sich in der Regel rational recht einfach erklären. Der Regenmacher ist vermutlich ein Mann, der ein Wissen über Wolken und das Entstehen von Wetter hat. Das hat er vermutlich von seinem Vater gelernt, der die Profession des Regenmachens in der Familie bewahrt haben will. Vielleicht hat der Regenmacher auch einfach ein Wissen über den Jahresverlauf des Klimas, er hat die Fähigkeit, sich die Tage, Wochen und Monate zu notieren oder hat gar so etwas wie einen Kalender, der dem »gewöhnlichen Volk« nicht bekannt ist. All das sind Dinge, die in einer schriftlosen Gesellschaft durchaus außergewöhnlich sind und die allerhand Informationsvorsprung bedeuten. Und der Regenmacher wäre dumm, wenn er nicht bei einer durch Cumulus-Wolken angekündigten Regenfront oder kurz vor dem Beginn der Regenzeit ein kleines Regenmacher-Fest organisiert, bei dem er auch ein wenig die Hand aufhalten darf für seine Dienstleistung. Die Wahrheit ist oft so herrlich unromantisch. Man muss scheinbar unerklärlichen Phänomenen nur ein wenig auf den Zahn fühlen. Ich mache beim Homöopathen, beim Heilpraktiker und beim Energetiker nichts anderes als beim Regenmacher. Ich lasse mir ins Notizheft zitieren, wie der Zauber wirkt, ich höre tapfer und aufmerksam zu, lese die Bücher der Gurus, lausche ihren Vorträgen, ziehe meine Schlüsse und stelle die entscheidende Frage: Warum glaubt eine erkleckliche Anzahl der Menschen in meiner Gesellschaft diesen ­Leuten? Interessant ist nicht, wie Homöopathen oder andere Heilversprecher zaubern (oder zu zaubern vorgeben), sondern welchen Stellenwert die Kunden und Patienten dieser Zauberei einräumen. Wenn etwas nicht wirkt, ist es irrelevant, wie es nicht wirkt. Interessant ist, wie sich die Kundschaft des Regenmachers und des Fakemediziners täuschen lässt oder warum sie bewusst nicht genau hinsieht oder die Täuscherei zwar erkennt, aber verteidigt.

4 Wenn es ernst wird, landen alle beim echten Arzt. Was macht der Geistheiler, wenn er an einer akuten Blinddarm­entzündung leidet? Wandert er zum Schamanen ins Nachbardorf? Lässt er sich russische Heilzahlen auf den Bauch malen? Schließt er sich an ein Bioresonanzgerät an, um den entzündeten Wurmfortsatz mit der passenden Frequenz wegzubrummen? Oder sucht er doch ehestmöglich ein sauberes Krankenhaus auf? Auf welche Narkose vertraut der überzeugte Homöopathie-Kunde, ehe der Chirurg sein Skalpell ansetzt? Der Homöopathie-Hersteller Remedia aus Eisenstadt im Burgenland, zum Beispiel, preist auf seiner Webseite gut 5.000 verschiedene homöopathische Mittel an: Darunter sind Fundstücke wie die indische Kakerlake, Leopardenurin, die Muttermilch des Dackels oder die Käseschmiere von der Haut Neugeborener und: Cola Light. Alles ist sauber verschüttelt und sehr, sehr verdünnt und wird in Globuli aus Zucker feilgeboten. Allerdings, wenn es jetzt pressiert und der Chirurg das Messer am Bauch ansetzen muss, um uns rasch von unserem schmerzenden Appendix am Darm zu befreien, dann gibt es unter den 5.000 Mittelchen kein einziges, das uns in den für eine Operation nötigen Tiefschlaf versetzt. Vermutlich ist selbst der überzeugteste Homöopathie-Gläubige in dieser Situation recht froh darüber, dass Big Pharma proper wirkende Anästhetika entwickelt hat. Diese befördern uns in Sekundenschnelle zuverlässig ins Reich der Träume und holen uns erst dann wieder von dort ab, wenn die blutige Metzelei in unseren Eingeweiden erfolgreich über die Bühne gegangen ist und unsere Wunden gut versorgt sind. Das sind die Momente, in denen wir den kalten Apparaten der »Schulmedizin« und den Ärzten mit den scharfen und sterilen Messern vertrauen. Der Fernheiler, der sich gegen einen feinen »Energieausgleich« mordsmäßig auf unser Leiden zu konzentrieren verspricht, der hat in dieser Situation keinen Auftrag, und unsere Sozialversicherungsnummer ist ein wenig mehr wert als alle russischen Heilzahlen zusammen. Zusammengefasst: Das, was wir unter westlicher Medizin verstehen, was uns hilft, wenn wir krank sind und uns im Ex­tremfall das Leben rettet, ist nichts anderes als evidenzbasierte Medizin, und die ist das Maß der Dinge. Gurus und Scharlatane wissen das am besten. Sie erzählen es nur ihren Kunden nicht, aus verständlichen Gründen. Der brasilianische Wunderheiler João de Deus soll täglich bis zu mehreren Tausend Kunden geholfen haben – quasi im Vorbeigehen. Als er selbst an Magenkrebs erkrankte, gönnte er sich eine Privatklinik mit den besten Ärzten des Landes.

5 Religion spielt hier keine Rolle. Ich werde immer wieder kritisiert, dass ich etwas inkonsequent sei: weil ich zwar Esoterik und den Glauben an irrationale Heilmethoden kritisiere, nicht aber Religionen und deren irrationale Erzählungen. Da ist zunächst etwas dran. Diese Kritik nehme ich ernst, ich glaube, ihr aber begegnen zu können. Zugegeben: Ich glaube nicht daran, dass Moses das Rote Meer einfach so mithilfe seines Wanderstabs geteilt hat, dass Jesus Brot und Fische vermehrt hat, um ein Fest zu schmeißen. Dass der Prophet Mohammed mit einem Schimmel vom Tempelberg direkt in den Himmel geritten ist, halte ich für blühende Fantasie, das Konzept der Wiedergeburt bei den Buddhisten deute ich als recht nette Erbauungsphilosophie, mit der sich die Anhänger den Zustand der Welt schönreden. Auf die Wiederkehr des Messias warten – zumindest metaphorisch gesehen – Christen, Muslime und Juden in leicht unterschiedlichen Versionen, ich wünsche viel Geduld. Es gibt viele Gründe, Religionen zu kritisieren und zu hinterfragen. Mit Religionskritik, die zumal viel profunder ist, als meine Ausführungen hier sein können, beschäftigen sich kompetente Autoren. Fakemedizin blüht allerdings quer durch alle Milieus und Religionen. Religiosität der Akteure, so irrational sie im Wesen auch sein mag, ist kein Indiz dafür, dass die Person in medizinischen Fragen irrational handelt. Wir alle kennen Krankenhäuser, die von christlichen Orden oder von Diözesen geführt werden. Dort misst man der evidenzbasierten Medizin und einer Behandlung auf dem neuesten Stand der Wissenschaft einen ebenso großen Stellenwert zu, wie es in kommunalen, konfessionslosen Krankenhäusern der Fall ist. Ich kenne gläubige Christen und gläubige Muslime, die Ärzte sind. Die denken nicht einmal im Entferntesten daran, ihren Patienten Gebete oder Besuche von Kirchen, Moscheen oder Walfahrtsorten als Alternative zu echter Medizin und evidenzbasierten Therapien anzubieten. Gleichzeitig kenne ich ungläubige und an Religion völlig desinteressierte Menschen, die als Ärzte, Heilpraktiker oder Energetiker keinerlei Scham haben, ihren Patienten »alternativmedizinischen« Unfug aufzuschwatzen. Wenn es um Fakemedizin geht, ist Religion oder Religiosität mit Sicherheit nicht das Kriterium für Scharlatanerie. Dass im französischen Wallfahrtsort Lourdes Schindluder mit der Hoffnung gläubiger Kranker und deren Angehöriger betrieben wird, steht außer Frage. Derlei unwürdige Schauspiele werden aber auch von gläubigen Christen kritisiert. Und ehrlich gesagt: Pilgerreisen nach Lourdes sind – im Vergleich zu Pilgerreisen zu dubiosen Heilern – derzeit ziemlich out. Ich gehe sogar einen Schritt weiter: Wenn eine Apotheke beginnt, ernsthaft heilsames Weihwasser aus einer Quelle wie Lourdes zu verkaufen – eine Welle der Empörung wäre wohl die Folge. Zuckerkugeln ohne Wirkstoffe hingegen haben den Sanctus der Apotheker- und Ärztekammern. Der Gesetzgeber bereitet seit Jahrzehnten seine schützenden Schwingen über den Unfug aus. Die schiebt der Apotheker mit lachendem Gesicht über den Tresen. Dass sich Glaubensgemeinschaften und Religionen diese Ungleichbehandlung gefallen lassen, spricht fast für deren Gutmütigkeit.

6 Bitte keinen Whataboutismus! Ich weiß, dass bei Ärzten und in Krankenhäusern vieles falsch läuft. Dass oftmals zu viele und zu starke Medikamente verschrieben werden, dass sich Ärzte zu wenig Zeit nehmen (können) für Patienten. Ich weiß, dass Krankenhauskeime ein enormes Problem darstellen, und dass sie Menschenleben kosten. Mir ist bewusst, dass es Kliniken gibt, die lieber einmal zu viel als einmal zu wenig operieren, weil es Geld bringt. Das alles sind keine Geheimnisse, derlei wird in wissenschaftlichen Studien aufgearbeitet, Gesundheitsökonomen und Sozialmediziner nehmen sich solcher Sachen an. Es gibt auch seriöse Literatur dazu. Doch die Tatsache, dass in der Medizin vieles falsch läuft, ist kein Argument dafür, dass in der Fakemedizin irgendetwas richtig läuft. Ich weiß, dass die Pharmaindustrie keine Wohlfahrtseinrichtung ist. Sie kümmert sich nicht darum, dass wir gesund sind. Sie kümmert sich darum, mit Medikamenten auf dem Markt erfolgreich zu sein. (Genauso wenig kümmert es die Automobil- oder die Erdölindustrie, ob wir unsere Eltern auf dem Land besuchen können, und genauso wenig sorgt sich die Lebensmittelindustrie darum, dass wir satt sind. Die Automobilindustrie versorgt uns lediglich mit Autos, die wir glauben besitzen zu müssen, die Erdölindustrie versorgt uns mit dem Sprudel, der die Autos fahren lässt, und die Lebensmittelindustrie bedient den Markt mit Leckereien, von denen sie zu Recht annimmt, dass sie uns schmecken und dass wir sie kaufen.) Und nachdem es weder bei Arzneien, Autos und Lebensmitteln ein Monopol gibt, strengt sich die Industrie an. Die Autos müssen tatsächlich fahren, die Bremsen müssen funktionieren, Wurst und Käse müssen uns tatsächlich schmecken, und Arzneimittel heilen tatsächlich Krankheiten und lindern Leiden. Wäre das nicht so, würden sie am Markt nicht bestehen können. Auch mit den Praktiken der pharmazeutischen Industrie beschäftigen sich seriöse Kritiker. Der pharmazeutischen Industrie muss – wie allen anderen Industrien und mächtigen Konzernen – auf die Finger geschaut und geklopft werden. Sie muss wie alle anderen Industrien kritisiert werden, und sie wird das auch. Allerdings: Niemand spielt der Pharmaindustrie einen Streich, wenn er anstelle von Medizin Fakemedizin konsumiert. Er agiert lediglich wie jemand, der sein Auto mit Fanta anstelle von Benzin betankt, um es der Automobil- und Erdölindustrie zu zeigen.

7 Ich habe nichts gegen ganzheitliche Medizin. Mir gefallen nur die Leute nicht, die diesen Begriff missbrauchen. Eine ganzheitliche Medizin betrachtet den Menschen aus möglichst vielen Facetten seines Seins und bezieht diese in die Behandlung und Heilung mit ein. Eine ganzheitliche Medizin erfasst Krankheiten im Kontext von sozialen Lebensumständen, Umwelt und Persönlichkeit. Eine ganzheitliche Medizin erkennt, dass die Kopfschmerzen alleinerziehender Mütter, die sich mit prekären Jobs über Wasser halten müssen, und die Kopfschmerzen wohlbestallter Hofratswitwen aus dem Cottage-Viertel nur bedingt über einen Kamm geschoren werden können. Eine ganzheitliche Medizin ist sich darüber im Klaren, dass gegen chronische Atemwegserkrankungen in Millionenstädten, in denen die Sonne wegen des Smogs monatelang nicht zu den Menschen durchdringt, nicht nur tolle, neue Medikamente indiziert sind. Eine ganzheitliche Medizin erkennt den Menschen als Individuum, dessen Psyche selbstverständlich mit seiner Physis korrespondiert. Einer ganzheitlichen Medizin fehlt dafür – und das wissen wir alle – vor allem die Zeit, und oftmals auch die nötige Empathie der Ärzte. In diese Bresche springen die Anbieter von Fakemedizin mit Verve. Sie nehmen sich Zeit, lassen sich diese entgelten und nutzen sie, um ihren Tand und ihren faulen Zauber an den Mann und an die Frau zu bringen. Fernheilung gegen Vorauskasse, Zuckerkugeln aus der Apotheke und QR-Codes gegen Haarausfall und Heilsymbole gegen Corona sind trotzdem kein Beitrag zu einer ganzheitlichen Medizin. Dass unser Medizinsystem und die Kommunikation mit dem Kranken Defizite aufweist, bedeutet nicht, dass Scharlatanerie einen Beitrag zu einer ganzheitlichen Medizin leistet.

8 Fakemedizin hat mit Naturheilkunde nichts zu tun. Fake­medizin ist weder sanft, alternativ oder ganzheitlich, und sie ist ebenso wenig natürlich. Humbug ist kein Teil der ­Natur, so sehr sich die Anbieter des Humbugs auch in diese hineinzu­reklamieren versuchen. Vor allem die fakemedizinische Königsdisziplin Homöopathie hat der Öffentlichkeit in den letzten Jahrzehnten erfolgreich die Erzählung geprägt, als »Naturheilkunde« eine Alternative zur angeblich sterilen und kalten Medizin zu sein. Stimmige Bilder wurden mitgeliefert: Kaum eine Publikation zur Homöopathie kommt ohne Blätter tiefgrüner Pflänzchen aus, über die Tautropfen kullern, die inhaltslosen Zuckerkugeln der Disziplin werden geschickt daneben drapiert. Allerdings gilt auch hier die unromantische Feststellung: Wo nichts drinnen ist, ist auch keine Natur drinnen. Natürlich gibt es wirksame Naturheilmittel und Phytopharmaka – vom Salbeitee gegen Halsschmerzen bis zum Beifuß, dessen Extrakte gegen Malaria helfen. Die Natur ist Teil der Medizin, nicht der Fakemedizin.

9 Kranke tragen keine Schuld. Wer vom Jugendalter an täglich 30 Zigaretten inhaliert, darf sich im Alter nicht beklagen, wenn die Lunge sich schwer beleidigt zeigt. Das wissen wir und wohl auch der Betroffene. Wir sind uns auch darüber im Klaren, dass das kein Grund ist, dem Lungenkranken eine bestmögliche Behandlung zu verweigern. Vermutlich kennen wir alle in unserem Freundes- und Bekanntenkreis Menschen, die von einer Krankheit betroffen sind, für die es keine kausale Erklärung gibt. Hautkrebs bei Menschen, die sich nie unnütz der Sonne ausgesetzt haben, ein Schlaganfall, der einen 40-jährigen Nichtraucher von den Beinen holt, der immer Sport getrieben, kaum Alkohol getrunken und gesund gegessen hat. Diese Geschichten schreibt das Schicksal. Die Wissenschaft geht davon aus, dass Krebserkrankungen in 29 Prozent der Fälle auf Umweltbedingungen und Lebensstil zurückzuführen sind, in nur fünf Prozent der Fälle hat die Erkrankung genetische Ursachen. In 66 Prozent der Fälle erfolgen die Krebsmutationen durch Zufall während der Zellteilung.2 Diese zwei Drittel sind ein gefundenes Fressen für die Fakemediziner. Nicht weil sie eine Therapie für die Erkrankung hätten, sondern weil sie die Krankheit bedeutungsschwer einem Defizit im geistigen Mindset des Menschen zuschreiben. Der Erkrankte darf sich dann nicht nur über ein bei ihm diagnostiziertes Karzinom den Kopf zerbrechen, sondern auch über den Beitrag seines unzulänglichen Denkens und Geists dazu. Sehr hemdsärmelig geht der Kalauer-Mediziner Rüdiger Dahlke in seinen zahlreichen Büchern an die Sache heran. Egal ob Schnupfen oder Krebs, Dahlke hat eine flache Metapher parat. Bei Brustkrebs ortet Dahlke jovial einen »Egotrip« der Zellen, der durch eine Vernachlässigung der Prinzipien »Versorgung von Kindern und Familie« oder »im Bereich Beziehung und Partnerschaft« begründet sei.3 Mit anderen Worten: Die Frauen sind selbst schuld am Krebs mit der Vernachlässigung ihrer Rolle als Frau. Auf die Spitze treibt die Schuldzuweisung die anthroposophische Medizin, die Krankheit im Wesentlichen als karmische Notwendigkeit betrachtet. Krankheit sei die Konsequenz aus einem imaginären, früheren Leben des Kranken. Das Durchmachen der Krankheit sei die Chance, das schlechte Karma zu verarbeiten. Das klingt so wunderbar tiefsinnig und ist nichts anderes als zynische Menschenverachtung: Wer krank ist oder an einer Krankheit stirbt, hat es aus Sicht der Anthroposophen auch verdient: »Blame the Victim« (»Gib dem Opfer die Schuld«) nennt man diese Attitüde, sie ist widerlich.

10 Dieses Buch ist politisch. Fakemedizin ist ein Angriff auf die Wissenschaft – und auch das hat mich zu dem Buch motiviert. Ein Angriff auf die Wissenschaft ist – auch wenn das pathetisch klingt – immer auch ein Angriff auf die Demokratie. Der wissenschaftliche Diskurs und die redliche Argumentation sind Populisten ein Dorn im Auge. Für Populisten ist wahr, was massentauglich ist. Das Johlen ersetzt den Peer-Review, die platte Parole die Diskussion samt ihren Zwischentönen. Dass Populisten des rechten und rechtsextremen Spek­trums oftmals ein Herz für Fakemedizin haben, kommt nicht von ungefähr. Der ehemalige US-Präsident Donald Trump hat die Fake News von Autismus, der angeblich durch Impfungen hervorgerufen werde, verbreitet. Ganz offensichtlich wurde ein Schulterschluss von Rechtsextremisten, Impfgegnern und Vertretern der Neuen Germanischen Medizin bei den Demonstrationen gegen die vermeintliche Corona-Diktatur, die seit April 2020 ihr Unwesen treiben. Eine ideologiefreie Impfkritik gibt es nicht. Wer Krankheiten als Resultat schlechten Karmas betrachtet, agiert politisch. Ich erlaube mir, auf politische Hintergründe des Phänomens und der Anbieter von Fakemedizin hinzuweisen. Das bedeutet nicht, dass ich alle, oftmals arglosen Nutzer, damit gleichsetze. Nicht alle Spielarten der Fakemedizin haben einen offensichtlichen politischen Hintergrund, fast alle sind aber mit politischen Hintergründen aufgeladen. Über eines müssen wir uns aber im Klaren sein, und das auszusprechen darf auch den freudigen Anwendern von Fakemedizin zugemutet werden: Es gibt nichts Politischeres als die Dummheit!

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