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Schmerz 5 Dienstag, 25. Juli, 19.58 Uhr

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Ausgepumpt saßen die Spieler der zweiten Mannschaft des SV Grün-Gelb Saffelen auf dem Aschenplatz. Trainer-Urgestein Karl-Heinz Klosterbach, der die Mannschaft bereits im achtzehnten Jahr coachte, tigerte mit hinter dem Rücken verschränkten Armen auf und ab und schüttelte unentwegt den Kopf. Er hatte es nie leicht gehabt mit dieser Truppe. Sechzehn Jahre lang war es der Mannschaft nicht gelungen, aus der Kreisliga C aufzusteigen, dafür waren sie in diesem Jahr zum ersten Mal abgestiegen – weil zur beginnenden Saison im September erstmals die Kreisliga D eingeführt worden war. Karl-Heinz Klosterbach gehörte zu den wenigen Trainern in dieser Liga, die im Besitz einer Trainerlizenz waren. Zwar besaß er nur die C-Lizenz Breitenfußball, die lediglich bis zur Kreisliga A galt, aber das sollte allem Anschein nach bis zu seiner Pension reichen. Schon seit Jahren hatte der SV Grün-Gelb Saffelen unter großen Nachwuchssorgen zu leiden. Das führte dazu, dass jeder Spieler, der einen halbwegs geraden Pass über zehn Meter schlagen konnte, in die ebenfalls chronisch unterbesetzte erste Mannschaft abberufen wurde, die aber immerhin in der Kreisliga B spielte. Und so kam es, dass Fredi Jaspers und Richard Borowka trotz ihrer bereits stolzen 43 Jahre immer noch zu den Leistungsträgern der Reserve zählten. Niemals hatten oder hätten sie woanders gespielt als in dieser Mannschaft. Seit dem Ausscheiden aus der A-Jugend waren sie dort zusammen mit ihren Freunden Tonne, der aufgrund seiner Körperfülle schon immer Torwart war, und Spargel, der trotz akuten Spielermangels meist Edelreservist war und seinem Trainer an heißen Tagen half, Wasserflaschen aufs Feld zu werfen. Zum Dank für seine Unterstützung an der Seitenlinie wurde er hin und wieder eingewechselt für taktische Fouls im Halbfeld. Am heutigen Abend hatte Spargel allerdings in der Startformation gestanden, weil außer ihm nur noch sieben weitere Spieler erschienen waren. Klosterbach hatte vor Wut darüber in der Kabine sogar einen Tisch umgeworfen, aber was sollte er machen? Gleich drei Mann waren verhindert, weil sie mit ihrem Kegelclub in El Arenal waren, und zwei hatten Spätschicht. Ausgerechnet heute, wo die Qualifikation zur ersten Runde im begehrten Selfkant-Cup stattfand und sogar erstmals seit Jahren glücken konnte. Denn das Losglück war den Saffelenern hold gewesen, da es ihnen nicht nur ein Heimspiel beschert hatte, sondern als Gegner auch noch die dritte Mannschaft vom SV Krautdorf. Krautdorf war zum einen qualitativ ebenbürtig, zum anderen verband die Mannschaft mit Saffelen eine jahrzehntelange, bittere Rivalität, was für großes Interesse und einen neuen Zuschauerrekord sorgte. Mehr als 60 Fans standen rund um den Aschenplatz und verwandelten mit ihren gegenseitigen wüsten Beschimpfungen das kleine Stadion am Saffelbach in einen wahren Hexenkessel. Auch die übrigen Voraussetzungen waren optimal: Es herrschte ideales Fußballwetter und Krautdorf hatte ebenfalls nur sieben Feldspieler und einen Torwart zusammenbekommen, Chancengleichheit war also gegeben. Der große Nachteil der dünnen Personaldecke auf beiden Seiten offenbarte sich allerdings nun in der Halbzeitpause. Konditionell waren alle am Ende. Die Saffelener saßen schweißgebadet auf dem Boden, nur Spielführer Borowka stand neben dem Platz und rauchte.

Karl-Heinz Klosterbach lief mit seinen breiten O-Beinen von einem zum anderen und versuchte jeden Einzelnen gestenreich zu motivieren: „Komm Junge, wir haben die doch am Rande der Niederlage.“ „Wenn der letzte Pass in die Tiefe mal kommt, dann haben wir die im Sack.“ „Du musst dich nur was konzentrieren bei die Ballannahme, dann funktioniert das auch irgendswann.“ „Tonne, versuch doch einfach mal, die Bälle festzuhalten.“ „Spargel, das war ein wunderschönes gestrecktes Bein, was du da eben gezeigt hast. Warum seh ich das nicht öfters von dir?“

Und in der Tat, das Spiel befand sich auf des Messers Schneide, noch war alles möglich. Es stand immer noch 0 : 0 und das, obwohl es schon drei Elfmeter für Saffelen gegeben hatte. Der Pfiff des Schiedsrichters ertönte und widerwillig trotteten die Mannschaften zurück auf den Platz. Die ersten paar Minuten plätscherte die Partie dahin, als dem gegnerischen Rechtsverteidiger plötzlich und unerwartet ein langer Ball nach vorn gelang, der die gesamte Saffelener Abwehr überrumpelte. Der Krautdorfer Stürmer lief allein auf Tonne zu, der zitternd auf den Einschlag wartete. Borowka zog als letzter Mann einen Sprint an und heftete sich an die Fersen des Angreifers. Schlimme Seitenstiche hätten ihn nach ein paar Sekunden fast zur Aufgabe gezwungen, aber dank seines eisernen Willens hielt er durch und konnte den Angreifer gerade noch außerhalb des Sechzehnmeterraums mit einem rustikalen Bodycheck stellen. Der Krautdorfer schlug hart auf der Asche auf und wand sich brüllend auf dem Boden. Irgendetwas in seiner Schulter hatte geknackt. Sofort kam es zu einem Handgemenge zwischen den Spielern und auch vereinzelte Zuschauer ballten ihre Fäuste, aber der Schiedsrichter hatte die Situation schnell wieder unter Kontrolle. Umsichtig wie er war, zeigte er Borowka lediglich die gelbe Karte, obwohl aufgrund der Notbremse auch eine rote vertretbar gewesen wäre. Das erzürnte zwar die Krautdorfer, die nun einen Spieler weniger hatten, weil ihr Stürmer mit Verdacht auf Schlüsselbeinbruch benommen vom Platz geführt wurde, aber dafür erhielten sie einen Freistoß in aussichtsreicher Position. Klosterbach beorderte mit hektisch rudernden Armen Fredi Jaspers nach hinten in die Mauer, obwohl dessen Aufgabe als Mittelstürmer normalerweise darin bestand, ganz vorn auf Bälle zu warten, die niemals kamen. Zu dritt stand er nun dort mit Borowka und Spargel und wartete mit den Händen vor dem Unterleib auf den Freistoß. Als der Krautdorfer Spieler Anlauf nahm, entdeckte Fredi eine Mücke auf seinem linken Unterarm, die er mit seiner Hand verscheuchen wollte, und so kam es, dass eine Verkettung unglücklicher Umstände zu einem folgenschweren Unfall führte. Der mit Vollspann und voller Wucht getretene Ball landete direkt im ungeschützten Genitalbereich von Fredi Jaspers, der mit weit aufgerissenen Augen zu Boden ging. Die Schmerzen, die seinen Körper fluteten, waren kaum zu ertragen. Er schnappte verzweifelt nach Luft und wälzte sich stöhnend auf dem Boden hin und her. Borowka zögerte nicht lang und machte das, was ein guter Freund in einer solchen Situation macht. Er ging auf den Schützen zu und zertrümmerte ihm mit einem trockenen rechten Haken das Nasenbein.

Nun brachen alle Dämme im Stadion am Saffelbach. Die Zuschauer stürmten das Feld und es entwickelte sich eine wüste Schlägerei, die das Schiedsrichtergespann diesmal nur mit allergrößter Mühe wieder in den Griff bekam. Eine rote Karte und mehrere Stadionverweise später raufte Karl-Heinz Klosterbach sich das schüttere Haar ob der wieder einmal verpassten Chance auf einen historischen Sieg. Das Spiel wurde beendet, weil Saffelen nach der roten Karte und der schweren Verletzung von Fredi nur noch über sechs Spieler verfügte, was laut Reglement zum sofortigen Spielabbruch führt. Die Niederlage am grünen Tisch war damit besiegelt. Fredi Jaspers lag keuchend neben der Trainerbank und sprühte sich unentwegt Eisspray in die Hose.

„Wie geht es dir?“, fragte Borowka besorgt, als er dazukam. Er sah aus wie ein Krieger, der aus der Schlacht heimkehrt, denn sein Trikot war voller Blutflecken.

„Meine Fresse, tut das weh!“, keuchte Fredi, immer noch nach Atem ringend. „Meine Nüsse sind schon so dick wie Straußeneier und dunkelblau. Und das Scheiß-Eisspray ist alle.“

Borowka riskierte einen vorsichtigen Blick auf Fredis Gemächt und verzog angewidert das Gesicht. „Das sieht wirklich nicht gut aus. Komm, ich fahr dich mal besser im Krankenhaus.“

Fredi nickte.

Das Heinsberger Krankenhaus war gute 20 Kilometer entfernt. Während Borowka mit einem Affenzahn über die Landstraße raste, hatte Fredi sich den Beifahrersitz ganz heruntergedreht und presste beide Hände in der Hose fest auf seine Hoden. „Wenn uns jetzt einer anhält“, dachte Borowka und gab noch ein bisschen mehr Gas.

Das Ortsschild von Heinsberg war schon in Sichtweite, als Fredi fürchterlich aufstöhnte. Eine Bodenwelle hatte ihn voll erwischt und erneut blieb ihm die Luft weg. „Wie weit ist es noch? Ich halt es nicht mehr aus ohne Eis“, rief er.

Borowkas Augen irrlichterten wild herum und erspähten plötzlich auf der gegenüberliegenden Straßenseite einen schicken Landgasthof, den er bislang noch nie besucht hatte. Wozu auch, sie hatten ja schließlich in Saffelen den Grill-Container. Nun aber konnte das Restaurant ihre Rettung sein. Borowka stieg voll in die Eisen, der Wagen brach hinten aus und schleuderte quer über die Straße auf den Parkplatz des Gasthofs, wo er mit einer Vollbremsung direkt vor dem Eingang zum Stehen kam. Kies spritzte gegen die anderen Autos, die dort geparkt waren.

Borowka sprang aus dem Auto und rief Fredi zu: „Halt durch, ich hol dir was Eis.“ Dann spurtete er ins Restaurant und sah sich im Eingangsbereich hektisch um. Von innen sah das Lokal sogar noch besser aus als von außen. Die Einrichtung war stilvoll und modern. Aus den versteckten Lautsprechern an der Decke rieselte angenehme Klaviermusik und leises Gemurmel erfüllte den erstaunlich gut gefüllten, großen Raum, der durch seine verschachtelten Sitzecken und die dezente Dekoration ausgesprochen gemütlich wirkte. Borowka zuckte zusammen, als er von hinten angesprochen wurde:

„Guten Abend, haben Sie reserviert?“

Er drehte sich um und erblickte einen gepflegten, jungen Mann in einer Art Smoking. Sein Haar war mit viel Gel nach hinten gestrichen und der Rücken durchgedrückt. Über seinen Arm hatte er eine weiße Serviette gelegt.

„Öhm, nee“, stotterte Borowka leicht eingeschüchtert, „ich bräuchte aber ganz dringend für ein Notfall ganz viele Eiswürfel. Kann ich die bei Sie kaufen?“

Der Kellner verzog keine Miene und antwortete freundlich: „Nein, die müssen Sie nicht kaufen. Ich gebe Ihnen gerne welche mit. Warten Sie bitte hier, dann pack ich Ihnen etwas in eine Tüte.“

„Danke“, sagte Borowka, während der Mann im Smoking in der Küche verschwand.

„Ich wusste gar nicht, was es hier für schicke Läden gibt“, dachte Borowka, während er sich umsah. Plötzlich blieb sein Blick an einem Tisch hängen. Er rieb sich kurz seine Augen, weil er ihnen nicht traute. Aber es stimmte. Fredis Freundin Sabrina saß zwischen drei Anzugträgern und hielt lachend ein Glas Champagner in die Höhe. Die Männer taten es ihr nach und stießen gemeinsam in der Luft an. Sabrina trug ein elegantes Abendkleid und ein diesmal recht auffälliges Make-up. Vor allem die vollen roten Lippen stachen ins Auge. Sie war eingerahmt von zwei attraktiven Männern, ungefähr Mitte dreißig, von denen einer ständig ihren Arm tätschelte und sie mit einem besonders breiten und weißen Lächeln anhimmelte. Der Mann, der ihr gegenüber saß, war nicht zu erkennen, es schien sich aber um einen etwas älteren Herrn zu handeln, denn er hatte einen grauen Haarkranz.

Verstohlen blickte Borowka sich um und zog dann sein Handy aus der Tasche. Heimlich machte er ein paar Fotos von der Szene, als der Kellner plötzlich wieder wie aus dem Nichts auftauchte.

„Hier bitte, Ihr Eis.“ Borowka zuckte erneut heftig zusammen. Das lautlose Anschleichen von hinten gehörte hier offensichtlich zur Grundausbildung. Immerhin hatte der Mann bestimmt ein halbes Kilo zerstoßenes Eis in eine durchsichtige Tüte gepackt und fein säuberlich mit einem Clip verschlossen. Borowka bedankte sich und ging zurück zum Auto, wo sich Fredi voller Dankbarkeit sofort den ganzen Beutel vorn in die Sporthose stopfte und erleichtert aufatmete. „Das sollte jetzt bis zum Krankenhaus reichen“, sagte Borowka und ließ den Motor wieder aufheulen.

Die Stunde der Wahrheit

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