Читать книгу Die Stunde der Wahrheit - Christian Macharski - Страница 8

Prolog

Оглавление

Hastenraths Will nahm einen letzten, tiefen Schluck aus der Kaffeetasse. Mit einem unüberhörbaren Schmatzer bestätigte er seiner Frau, was sie ohnehin schon wusste. „Marlene, du machst der beste Kaffee von ganz Saffelen!“ Der Ortsvorsteher des kleinen Dorfes sprang auf und forderte seinen Nachbarn Richard Borowka, der ebenfalls mit am Küchentisch saß, mit einer unmissverständlichen Handbewegung auf, ihm zu folgen. Die beiden Männer waren bereits seit Tagen damit beschäftigt, die Zimmer im Obergeschoss zurückzubauen. Vor einiger Zeit hatten Marlene und Will geplant, aus ihrem landwirtschaftlichen Betrieb einen Erlebnisbauernhof zu machen, um den wirtschaftlichen Veränderungen im Agrarwesen Rechnung zu tragen. Nach einem schrecklichen Zwischenfall kurz vor der Eröffnung hatten sie den Plan jedoch wieder fallen lassen. Nach und nach wurden aus den Gästeappartements wieder normale Zimmer für Übernachtungsbesuch oder zum Unterstellen von Möbelstücken. Will und Borowka waren seit dem frühen Morgen dabei, in einem der Räume eine Zwischenwand einzuziehen, um das neue Bügelzimmer von Marlene mit einem separaten Abstellraum für die Heißmangel zu versehen. Das Gerüst aus Metall war bereits fertig montiert, jetzt mussten noch die Gipskartonplatten angebracht werden.

„Komm, beweg dich, Richard“, insistierte Will, der bereits in der Tür wartete, „die Pflicht ruft!“

Borowka schaute ihn aus müden Augen an. Die letzte Nacht war kurz gewesen. Zusammen mit ein paar Kumpels vom Fußball hatten sie den 43. Geburtstag seines besten Freundes Fredi Jaspers nachgefeiert und waren zu später Stunde, wie immer, in Himmerich gelandet, der angesagtesten Landdiskothek der gesamten Region. Die zwei Stunden Schlaf, die ihm nach seiner Rückkehr noch geblieben waren, machten sich bei Borowka in diesem Moment in schlimmen Gliederschmerzen und einem fürchterlichen Brummschädel bemerkbar. Schwerfällig erhob er sich dann doch noch und trottete Will hinterher. „Danke für der Kaffee“, murmelte er noch, bevor er im Flur verschwand.

Marlene lächelte gütig und räumte das Geschirr ab. Sie sah auf die Uhr. Es war schon kurz vor neun. Allerhöchste Zeit, die Kühe und die Schweine zu füttern.

Nachdem sie in einem großen Emaille-Spülbecken im Hof das Schweinefutter angemischt hatte, füllte sie es in einen massiven Holzeimer und schleppte diesen in den Kuhstall, der im Durchgang zu den Schweineboxen lag. Sie stellte den Eimer ab, nahm die große Mistgabel mit den vier Zinken von der Wand und begann zunächst einmal damit, die Futtertröge der Kühe mit Heu zu füllen. Die burschikose Bauersfrau liebte diese Tätigkeit. Schon als Kind hatte sie sich auf dem Hof ihrer Eltern immer freiwillig für diese Aufgabe gemeldet. Sie konnte sich gar nicht sattsehen an den großen, schwarzen Kuhaugen, die vor Glück glänzten, wenn die Tiere einander rempelnd und schubsend an die Futterstelle gelaufen kamen. Die Kühe im Stall der Hastenraths konnten sich im Stall frei bewegen, aber jede der 18 Kühe wusste genau, wo ihr Platz war. Und so reihten sie sich innerhalb kürzester Zeit nebeneinander auf und verschlangen gierig das Heu, das Marlene aus einem großen Haufen heraus in die Tröge schaufelte. Immer schneller wurde sie, so sehr beflügelte sie der Anblick der aufgeregten Tiere. Mit großer Wucht stieß sie die Forke wieder und wieder in den aufgeschichteten Heuberg und freute sich jedes Mal, wenn das Büschel, das daran hängen blieb, besonders groß war. Die Kühe dankten es mit glücklichem Muhen.

Das rauschhafte Schaufeln wurde jäh unterbrochen, als die Mistgabel plötzlich im Heuhaufen stecken blieb. Marlene spürte einen kurzen Schmerz in der Schulter, der von der ruckartig abgebremsten Bewegung rührte, und betrachtete staunend die aufrecht im Heu stehende Gabel, die noch leicht hin- und herwippte. Obwohl ihr dieser Moment ewig vorkam, konnten höchstens Bruchteile von Sekunden vergangen sein, denn gleichzeitig ging ein dumpfer Schrei durch den Stall. Noch ehe Marlene Ursache und Wirkung zusammenbringen konnte, sprang ein nur mit einem T-Shirt, einer verdreckten Jeanshose und Socken bekleideter graubärtiger Mann aus dem Heu und baute sich mit schmerzverzerrtem Gesicht vor ihr auf. In seinem linken Oberschenkel steckte nicht allzu tief ein Zinken der Mistgabel. Der lange Holzstiel bog sich nach unten. Die Adern am Hals des Mannes traten breit hervor und sein ebenmäßiges Gesicht verzerrte sich zu einer zornigen Grimasse, als er die Forke mit einer schnellen, wütenden Bewegung aus seinem Bein riss. Dann machte er mit einem weiteren lauten Schrei einen Satz nach vorn. Mit ausgestreckten Händen versuchte er, Marlenes Hals zu greifen.

Erst jetzt realisierte die Bäuerin, was passiert war. Sie hatte einem fremden Mann, der sich in ihrem Heuhaufen versteckt hatte, eine Forke ins Bein gerammt und dieser wollte sich nun revanchieren, indem er sie erwürgte. Das konnte sie nicht zulassen, zumal der Mann es doch gewesen war, der sich unerlaubterweise Zutritt zum Stall verschafft hatte. Geistesgegenwärtig riss Marlene den Eimer mit dem Schweinefutter vom Boden hoch und schlug ihn dem Fremden mit voller Wucht gegen die Schläfe. Dessen überraschter Gesichtsausdruck fror förmlich ein, als der mit Metall eingefasste Holzeimer hart auf seinen Schädelknochen traf und ein trockenes Knacken verursachte. Die korpulente Dame, die gerade zugeschlagen hatte, verschwand seitlich aus seinem Sichtfeld, als er wie ein gefällter Baum umkippte. Er war bewusstlos, noch bevor er den harten Betonboden erreichte. Marlene Hastenrath stellte den Eimer ab, stemmte ihre Arme in die Hüften und schüttelte verärgert den Kopf. Sie hasste es, bei ihrer Lieblingstätigkeit gestört zu werden.

Die Stunde der Wahrheit

Подняться наверх