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Das Missverständnis 7 Mittwoch 26. Juli, 8.06 Uhr
ОглавлениеEs war jeden Morgen das gleiche. Sobald Richard Borowka das Autohaus Oellers betrat, fühlte er sich schuldig. Und das schon seit über 20 Jahren. So lange arbeitete er bereits in der Werkstatt. In dieser Zeit hatte er sich ein dickes Fell zugelegt, sodass er die täglichen Erniedrigungen seines stets unzufriedenen Chefs Heribert Oellers nicht mehr allzu nah an sich heranließ. Er hatte viele Mitarbeiter in Werkstatt und Büro kommen und vor allem gehen sehen, die meisten lange vor Ablauf der Probezeit. Er und Fredi Jaspers gehörten zu den dienstältesten Mitarbeitern, wobei Fredi ein wenig höher in der Gunst des Chefs stand, da er als Büroleiter wesentlich unverzichtbarer war als die Schrauber in der Werkstatt. Vor allem, da das Büro streng genommen ohnehin nur aus ihm und Fräulein Regina bestand, deren Hauptaufgabe allerdings weniger operativer als eher dekorativer Natur war. Sie war seit jeher als Eyecatcher im Eingangsbereich hinter einer halbrunden Theke platziert. Gemäß Oellers‘ Firmenphilosophie sollte sie die meist männliche Klientel anlocken und vor allem ablenken von den versteckten Mängeln an den angebotenen Gebrauchtwagen. Immer wenn Oellers seinen Kunden Autos präsentierte, die weniger gut kaschierte Schäden aufwiesen, wurde er dabei von Fräulein Regina begleitet, die ein wichtiges Klemmbrett mit Blättern trug, auf denen wahlweise nichts oder unleserliche Kritzeleien und Kringel standen. Sobald der Kunde Bedenken anmeldete und mit dem Kauf haderte, ließ Oellers einen Stift fallen, den Fräulein Regina aufreizend langsam aufhob mit ihrem zum Hochrutschen neigenden Minirock. Fräulein Regina fungierte quasi als fleischgewordene Nebelkerze. Der Erfolg gab Oellers recht und Fräulein Regina eine Jobgarantie. Sie dankte es ihm, indem sie ihren Körper gewissenhaft pflegte und in Form hielt, meist während der Arbeitszeit. Falsche Wimpern, lange Fingernägel, aufgespritzte Lippen und Extensions gehörten bei ihr zur Serienausstattung und auch der üppige Busen wurde regelmäßig zum Wohl der Kunden mit hervorblitzenden Spitzen-BHs zur Geltung gebracht. Und so thronte sie von morgens bis abends hinter dem großen Empfangstresen, direkt gegenüber der Eingangstür. Der Stuhl, auf dem sie saß, war immer so hochgedreht, dass man nicht nur ihr prall gefülltes Dekolleté, sondern stets auch ihre kunstvoll übereinandergeschlagenen Beine sehen konnte.
Als Borowka an diesem Morgen an die Theke trat, war Regina gerade wieder mit einer ihrer Kernkompetenzen beschäftigt: Sie feilte ihre Nägel. Gelangweilt sagte sie: „Na, Richard. Was ist denn mit dir los? Du siehst ja total kaputt aus.“
„Kein Wunder“, antwortete Borowka, „ich hab ja auch eine heiße Nacht hinter mir.“
Regina legte die Nagelfeile aus der Hand und sah ihn mit ihren großen, aufwendig geschminkten Augen an. Jetzt schien ihr Interesse geweckt. „Ach was?“, flötete sie und klimperte dabei mit den Wimpern. „Eine heiße Nacht? Du meinst …“
„Ja, genau – Schlafzimmer im Dachgeschoss.“
Regina verdrehte die Augen und feilte weiter. „Außerdem bin ich total gestresst“, fuhr Borowka fort und wedelte dabei mit einem gelben Schein. „Ich musste der Fredi heute Morgen um sieben Uhr zu Dr. Hoppe fahren, weil der sich nicht bewegen kann. Der ist nämlich schwer verletzt.“
„Wie bitte?“ Regina ließ entsetzt die Feile fallen. „Heißt das, dass ich heute der ganze Tag am Telefon gehen muss?“
„Nicht nur heute“, erwiderte Borowka mit kaum verhohlener Schadenfreude. „Der Dr. Hoppe meint, das wird noch was länger dauern. Ich bring dem Alten mal die Krankmeldung rein.“
Schnurstracks ging Borowka auf das Büro von Heribert Oellers zu und passierte dabei den mit Ordnern, Katalogen und Rechnungen zugepflasterten Schreibtisch von Fredi Jaspers. Durch die geschlossene Tür hörte er Oellers bereits mit lauter Stimme palavern. Er klopfte kurz an und betrat dann einfach das Büro, da Heribert Oellers nicht zu Höflichkeiten wie „Herein“-Rufen neigte.
Als Borowka eintrat, sah und vor allem hörte er, dass sein Chef gerade ein engagiertes telefonisches Kundengespräch führte. Mit knallrotem Kopf brüllte er in den Hörer: „Dann rufen Sie doch Ihr Anwalt an! Wenn der genauso ein Blödspaten ist wie Sie, dann aber gute Nacht … Ja, selber Arschloch!“ Er schmiss den Hörer auf die Gabel und blickte von seinem wuchtigen Schreibtisch auf. „Und was kann ich für dich tun? Haben se dich wieder geschickt, für Ersatzluftblasen für die Wasserwaage zu holen?“
Borowka musste lachen. „Nee, Quatsch, Chef. Das weiß ich ja mittlerweile, dass es die nicht gibt. Genauso wenig wie die Wasserstrahlbiegezange und die Unterputzfräse.“
„Komm aufen Punkt, Junge, oder meinst du, ich bezahl dich dafür, dass du mich hier in die Bewusstlosigkeit quatschst? Dafür ist dein Frisör zuständig. Wo du übrigens auch mal wieder hingehen könntest. Du siehst aus wie ein zerrupftes Perückenschaf, das se auf der Weide zurückgelassen haben zum Sterben, weil es so hässlich ist. Hat dir eigentlich noch keiner verraten, dass deine Frisur schon seit die 90er-Jahre ausgestorben ist?“
„Also, Rita gefällt es. Die sagt immer, von hinten seh ich aus wie dieser eine Filmstar. Wie heißt der noch? Der mit die blonden Haare, der hat mitgespielt in …“
Oellers sprang auf und stützte sich mit den Händen auf dem Tisch ab. Sein Tonfall wurde barscher: „Sag mal, was genau hast du an der Satz ,Komm aufen Punkt‘ nicht verstanden?“
„Ach ja, klar, ‘tschuldigung“, beschwichtigte Borowka und kramte aus der kleinen Tasche, die sich oben an seiner Arbeitslatzhose befand, den gelben Krankenschein hervor, den er dort hineingestopft hatte, nachdem er ihn Regina gezeigt hatte.
Als Oellers mit geschultem Auge sofort erkannte, um was für ein Dokument es sich handelte, begann seine Halsschlagader zu pochen und seine Gesichtsfarbe wechselte augenblicklich zu puterrot. Sein Adamsapfel sprang wild auf und ab, als er losbrüllte: „Jetzt reicht es mir aber, du mieser, kleiner Grottenolm. Ich steck dir jetzt auf der Stelle mein Regenschirm im Hintern und spann den auf. Dich haben se ja wohl mit der Hammer getauft. Kommst hier rein mit ein gelber Schein, obwohl du das letzte halbe Jahr öfters krankgeschrieben warst wie die Deutsche Bahn Verspätung hat …“
„Nee, Moment …“ wollte Borowka dazwischengehen, aber Oellers hatte sich bereits in Rage geredet.
„Ich bin noch nicht fertig, Kartoffelnase, oder hat einer die Null gewählt, dass du dich meldest? Du dämlicher Idiot. Ach, was sag ich? Dich als Idiot zu bezeichnen, ist eine Beleidigung für alle dummen Menschen auf dieser Welt. Wenn Doofheit ein Verbrechen wär, dann hättest du lebenslänglich mit Sicherungsverwahrung. Wie kann man nur so dreist sein? Langsam glaub ich wirklich, dass deine Eltern Chemiker waren. Du musst doch ein Versuch gewesen sein. Du bist echt was Besonderes. Und zwar ein besonders großes Arschloch!“
Oellers hielt kurz inne und riss die Schublade an seinem Schreibtisch auf. Für einen kurzen Moment glaubte Borowka ernsthaft, er würde dort einen Revolver herausziehen, um ihn zu erschießen, aber es handelte sich nur um ein Pillendöschen. Hektisch warf Oellers sich drei kleine rote Tabletten in den Mund und spülte sie mit einem Glas abgestandener Cola runter, das auf dem Tisch stand. Diesen kurzen Moment der inneren Einkehr nutzte Borowka und rief:
„Das ist ein Missverständnis, Chef. Ich bin kerngesund. Die Krankschreibung ist von der Fredi.“
Oellers starrte ihn überrascht an, blieb aber dennoch wie ein Gorillamännchen in Angriffshaltung mit seinen auf den Tisch gestützten Armen stehen. Leicht irritiert entgegnete er: „Wie, Fredi? Der feiert doch so gut wie nie krank.“
„Das ist richtig. Aber gestern beim Spiel gegen Krautdorf hat es ihn ziemlich übel erwischt.“
„Kreuzbandriss?“
„Schlimmer!“
„Schien- und Wadenbeinbruch?“
„Schlimmer!“
„Syndesmösenriss?“
„Noch schlimmer!“
„Sag mal, bin ich hier bei ,Der große Preis‘ oder was? Sag mir jetzt sofort, was der Trottel hat, sonst hau ich dir der Kopf auf den Rücken, dass du aussem Rucksack fressen kannst“, platzte es aus Oellers heraus und Borowka wiegelte erschrocken mit beiden Armen ab.
„Ist ja gut. Also, der hat beim Freistoß der Ball … also der stand genau in die Schusslinie … und wollte gerade eine Mücke verscheuchen … und der Ball ging … wie soll ich das sagen … direkt unter die Latte.“
Oellers ließ sich matt in seinen schweren Ledersessel fallen. „Ach du Scheiße. Der hat ein Ball in die Eier bekommen?!“
„Öh, ja, so kann man das auch sagen. Ich bin direkt mit dem im Krankenhaus gefahren. Der hat eine schwere Hodenprellung. Der sagte eben noch, die Dinger sind so groß wie Kokosnüsse und total blau angelaufen. Der kann weder sitzen noch liegen und braucht starke Schmerzmittel. Ich war eben bei der Dr. Hoppe und der hat dem so ein Hodenbänkchen verschrieben. Der muss das alles da unten jetzt hochlegen, damit das Blut zurückfließen kann, weil durch die Schwellung …“
„Erspar mir bitte die Details“, unterbrach Oellers ihn angewidert, „Hodenbänkchen! Wenn ich so was schon hör. Wobei ich mich schon wundern muss, dass der Fredi sich so eine Verletzung überhaupt zuziehen konnte. Ich dachte bisher immer, der hat überhaupt keine Eier. Haha.“ Er musste so laut über seinen eigenen Witz lachen, dass er ins Husten geriet und kleine Speichelfontänen auf den Schreibtisch spritzten.
Borowka lachte kurz aus Verlegenheit mit und sagte dann: „Das ist ganz schön hart für der Fredi. Der und dem seine Freundin wollen doch unbedingt ein Kind haben. Und der Arzt im Krankenhaus hat gesagt, dass der mindestens die nächsten sechs Wochen kein Sex haben darf. Die Sabrina ist total ausgeflippt deswegen.“
„Ach, die Trulla soll doch froh sein. Wo kämen wir denn hin, wenn solche Pfeifen wie der Fredi sich auch noch vermehren würden? Aber ich hab ja schon immer für dem gesagt, der soll das Fußballspielen drangeben. Wenn ich den immer über der Platz stolpern seh! Da denk ich jedes Mal, der hätte mit ein Storch gepokert und dabei die Beine gewonnen. Welches Arschloch von die Krautdorfer war das denn, der der Fredi der Ball im Klingelbeutel geschossen hat?“
„Manni Schröders. Der Sohn von Schröders Leo, der das kleine Reisebüro in Süsterseel hat, das letztes Jahr pleite gegangen ist.“ „Ach, der alte Verbrecher. Hat der Manni sich denn entschuldigt?“
„Ja, ja“, sagte Borowka, „das ist alles geklärt. Wir haben der Manni ja anschließend im Krankenhaus getroffen. Der war ja auch verletzt. Der hatte sich beim Zweikampf die Nase gebrochen … mehrfach.“
„Oh, da ist es aber hoch hergegangen.“
„Pokalfight halt.“ Oellers sah auf seine dicke goldene Uhr, die er mal günstig im Türkeiurlaub am Strand erstanden hatte, und sagte: „So, genug geplaudert. Ab an die Arbeit. Im Hof steht ein Zitrön Saxo, der braucht ein neuer Auspuff. Guck mal in unsere Altmetalltonne. Ich mein, da müsste noch einer drinliegen, den du passend kloppen könntest. Mach ein bisschen Montagepaste auf die Löcher, dann müsste das gehen.“
„Ja, mach ich, aber …“, druckste Borowka herum, „aber ich müsste vorher noch mal eben nach die Apotheke und nach dem Sanitätshaus, für der Fredi was Salbe und das Hodenbänkchen abzuholen. Der arme Kerl kann sich ja überhaupt nicht bewegen im Moment.“
Oellers holte tief Luft, atmetet dann aber wieder flach aus. Wie er es mal in einem Führungskräfteseminar von Fiat gelernt hatte, versuchte er, seine erneut in ihm aufsteigende Wut zu kontrollieren. Er war zwar sauer, dass Borowka sich wieder aus dem Staub machen wollte, andererseits war ihm natürlich daran gelegen, dass Fredi so schnell wie möglich wieder einsatzfähig wurde. Und so zügelte er sich und reagierte ungewohnt verständnisvoll: „Das verstehe ich natürlich. Aber wieso musst du das denn machen? Was ist denn mit die komische Olle von der Fredi?“
„Die kann nicht. Die muss arbeiten“, sagte Borowka, ohne sich der Konsequenz seiner Worte bewusst zu sein.
„Ja und du? Was musst du?“ Oellers schoss wieder aus seinem Sessel hoch. „Ich raste hier gleich komplett aus. Das Sanitätshaus ist in Heinsberg. Das dauert doch ewig, bis du zurück bist.“
„Ach, ich sag mal, höchstens anderthalb Stündchen.“
„Ich geb dir gleich anderthalb Stündchen, du Pimmelotter“, gab Oellers zurück, während sich die Zornesfalte auf seiner Stirn bedrohlich zusammenzog. „Ich guck jetzt hier auf meine original Rolex-Uhr. Wenn du nicht in exakt 45 Minuten wieder zurück bist, dann lass ich dich die Mopedkette abschmecken. Haben wir uns verstanden?“
Borowka nickte versteinert. Oellers musterte ihn und fügte hinzu: „Was ist los? Wartest du auf der Bus?“
Borowka rannte los. Der Countdown lief.