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Will trat vor die Tür und blinzelte in die Sonne, die hinter dem Haus von Jütten Toni aufgegangen war. Knuffi wollte gerade vor dem Rhododendronbusch sein rechtes Hinterbein heben, als Will am Bürgersteig Richard Borowka entdeckte und auf ihn zulief. Der kleine Hund sah sich entsetzt gezwungen, den Uriniervorgang abzubrechen und hetzte seinem Herrchen mit stolpernden Trippelschritten hinterher. Richard Borowka wartete ungeduldig vor der Einfahrt seines Hauses. Es machte ihn halb wahnsinnig, dass er seit dem Verlust seines Ford Capris auf Fredis Chauffeurdienste angewiesen war. Der gehörte nämlich nicht zu den Pünktlichsten, seit er sich ein nicht enden wollendes Verabschiedungsritual mit seiner Verlobten angewöhnt hatte.

Will trat neben Borowka und kondolierte mit gesenkter Stimme: „Es tut mir so leid, Richard. Ich hab’s leider nicht mehr geschafft zur Seebestattung. Aber noch mal danke für die Einladung.“

Borowka nickte mit zusammengepressten Lippen. Da ihm der Gedanke an seine große gelbe Liebe noch zu viele Stiche versetzte, versuchte er schnell das Thema zu wechseln. „Hör mal, was ist das für eine Scheiße mit der Kleinheinz? Meinst du, der hat die arme Bettina …?“

„Nein, natürlich nicht“, schnitt Will ihm ein wenig zu laut das Wort ab, „das muss alles ein großer Irrtum sein.“

„Und was ist mit der tote Mann?“

Will zuckte kraftlos mit den Schultern. „Keine Ahnung. Ich kann mir das alles nicht erklären. Ein Tag vor der Tat habe ich mich noch mit der Peter unterhalten und da machte der ein ganz normaler Eindruck. Ich hoffe, dass ich bald mal mit dem reden kann.“

„Wo ist der denn jetzt?“

Will biss sich auf die Lippe. „Wenn ich das richtig verstanden habe, im Knast in Aachen, in Untersuchungshaft.“

„Und da kannst du dem einfach besuchen?“

„Na ja, so einfach wahrscheinlich nicht. Aber ich will mal mit der Kommissar Dohmen sprechen, ob der da für mich was deichseln kann.“

„Der Dohmen muss wohl gerade hinten am Tatort sein. Ich hab beim Rausgehen mitgekriegt, wie Rita mit Billa Jackels dadrüber telefoniert hat. Da sind die wohl mit Bagger der Garten am umgraben.“

Will starrte Richard mit großen Augen an. „Was ist los? Mit Bagger? Ich muss sofort da hin. Komm, Knuffi.“

Borowka hielt den Landwirt an seinem Parka zurück.

„Komm, wir nehmen dich mit. Wir müssen sowieso durch das Neubaugebiet. Da vorne kommt schon unser Taxi.“

Im selben Moment schleuderte ein dunkler Citroen mit quietschenden Reifen um die Kurve. Am Steuer saß ein gestresster Fredi Jaspers, dem sein braunes Haar, das er hinten lang trug, wirr ins Gesicht flog. Satte vier Minuten Verspätung hatte er auf der Uhr. Borowka winkte seinen Kumpel mit ausgestrecktem Mittelfinger am Bürgersteig ein. Der kurbelte das Fenster runter und keuchte: „Tut mir leid, Borowka. Ich musste Sabrina noch …“

„Ja, komm, erspar mir die Details“, ätzte Borowka, „geb lieber Gas. Wir müssen Will und Knuffi noch am Neubaugebiet absetzen.“

Nachdem Will und Knuffi zwei Minuten später in der Goethegasse gegenüber dem Mordhaus aus Fredis Auto gestiegen waren, entschuldigte sich Will wortreich für den großen Urinfleck, den Knuffi auf dem Sitzbezug hinterlassen hatte, und versprach, den Schaden umgehend seiner Versicherung zu melden. Fredi winkte resigniert ab und setzte seine Fahrt fort. Da der lautstarke Anschiss seines Chefs Heribert Oellers ohnehin nicht mehr zu verhindern war, fiel die feuchte Hinterlassenschaft von Knuffi auch nicht mehr groß ins Gewicht – abgesehen vielleicht vom beißenden Geruch. Will streckte sich kurz und näherte sich dann dem diesmal unbewachten Absperrband, das den kompletten Vorgarten vor Schaulustigen schützte. Er passierte die mittlerweile geleerte Mülltonne des Nachbarhauses, die immer noch auf dem Bürgersteig stand, und band Knuffi am Laternenmast an. Verstohlen sah er sich um. Da er keinen Uniformierten entdeckte, hob er das Absperrband an und betrat das Grundstück von Bettina Hebbel und Kleinheinz. Fast lautlos glitt er mit seinen Gummistiefeln durch das morgentaubenetzte Gras und öffnete vorsichtig das kleine, schmiedeeiserne Gartentörchen, das rechts neben dem Haus auf die Terrasse führte.

Hinter dem Haus ging es weitaus geschäftiger zu. Ein kleiner Bagger kurvte wild umher. Der rauchende Bauarbeiter darin hatte bereits mehrere Löcher ausgehoben, in denen Polizeibeamte mit langen Stangen herumstocherten. Ein Polizist mit vier silbernen Sternen auf der Schulterklappe stand mitten auf dem Rasen und brüllte Anweisungen in alle Richtungen. Die Vorstellung, dass gleich jemand „Hier ist was“ rufen könnte, gruselte Will so sehr, dass er gar nicht bemerkte, wie plötzlich jemand hinter ihn trat. Als sich eine Hand auf seine Schulter legte, zuckte er heftig zusammen. Schwer atmend drehte er sich um und sah in die blutunterlaufenen Augen von Kommissar Dohmen. Viel Schlaf schien der Mann nicht gehabt zu haben in der letzten Nacht. Entsprechend matt klang seine Stimme: „Herr Hastenrath, ich muss Sie wohl nicht belehren, dass Sie sich hier gar nicht aufhalten dürfen, oder?“

„Und was machen Sie hier?“, erwiderte Will. „Sie haben mir doch selbst gesagt, dass Sie von der Fall abgezogen worden sind.“

Dohmen nickte. „Das ist richtig. Aber der Staatsanwalt ist im Haus und es findet gerade eine Tatortvermessung statt. Und da ich Samstagnacht der Erste vor Ort war, soll ich dabei helfen.“

„Und was soll das hier mit der Bagger?“

Dohmen seufzte und zog den Landwirt ein wenig zur Seite. Leise sagte er: „Hören Sie. Ich kann Ihre Sorge verstehen. Mir geht es doch auch nicht anders. Aber alleine schon, dass Sie jetzt hier an einem abgesicherten Tatort stehen und ich mich mit Ihnen unterhalte, könnte mich meinen Kopf kosten. Unter uns – wir haben sogar die ausdrückliche dienstliche Anweisung erhalten, Sie auf Abstand zu halten.“

Will sah ihn erstaunt an. „Anweisung? Von wem?“

„Von unserem Vorgesetzten, Direktionsleiter Pimpertz.“ Will schüttelte verständnislos den Kopf. „Ich kenn der Mann überhaupt nicht.“

Dohmen sah sich verstohlen um und behielt seinen Flüsterton bei. „Aber unser Chef kennt Sie dafür umso genauer. Ihnen eilt, sagen wir mal, ein gewisser Ruf voraus. Und da Pimpertz offensichtlich Sorge hat, dass Sie die Ermittlungen behindern könnten, insbesondere wegen Ihrer engen Freundschaft zu Kommissar Kleinheinz, haben wir alle die klare Ansage, Sie genau im Auge zu behalten.“

Will schürzte kampfeslustig die Lippen. „So ein Schwachsinn. Ich will Sie doch nur helfen, der Fall aufzuklären, damit der Peter so schnell wie möglich wieder aus dem Gefängnis kommt.“

Dohmen verzog das Gesicht. „Herr Hastenrath. Geht das schon wieder los? Sie sollen sich raushalten aus unserer Polizeiarbeit. Und erst recht sollten Sie sich hüten, schon wieder eigene Ermittlungen anzustellen. Deshalb muss ich Sie jetzt auch auffordern, das Grundstück zu verlassen.“

Will machte keine Anstalten, zu gehen, sondern hielt dem Blick des Kommissars mit sturer Entschlossenheit stand. Völlig ruhig sagte er: „Was ist nur aus Sie geworden, Herr Dohmen? Ich hatte beim letzten Mal, wo wir miteinander zu tun hatten, fast angefangen, Sie sympathisch zu finden. Und zwar, weil ich dachte, dass Sie nicht nur ein Kollege, sondern sogar ein Freund von der Peter sind. Aber jetzt muss ich feststellen, dass Sie auch nur ein uniformiertes Arschloch sind … selbst wenn Sie gar keine Uniform tragen. Und wo wir gerade dabei sind: Soll ich Sie mal sagen, wodran dieser Herr Pimpertz mich mal lecken kann?“

Dohmens Mund klappte auf und zu wie bei einem Fisch im Aquarium. Dass dieser Ortsvorsteher ein unangenehmer Zeitgenosse sein konnte, das hatte der Oberkommissar schon des Öfteren am eigenen Leib zu spüren bekommen, aber selten in derart offener und provozierender Form. Statt jedoch seinem ersten Impuls nachzugeben, den Mann mit einem schnellen Polizeigriff zu Boden zu bringen und ihm Handschellen anzulegen, lösten die drastischen Worte seltsamerweise ein ganz anderes Gefühl in ihm aus. Hastenraths Will tat ihm leid. Ihm schien nicht ansatzweise klar zu sein, wie schwerwiegend die Indizien waren, die gegen Kleinheinz sprachen, aber dennoch imponierte Dohmen der unerhörte Mut dieses einfachen Landwirts, der es wagte, sich trotzig gegen einen ganzen Apparat zu stellen. Einen Justizapparat, der ihm sehr schnell sehr großen Ärger einhandeln konnte. Dieser Schneid und diese Kühnheit waren Eigenschaften, die Dohmen selbst im Laufe seiner Dienstjahre abhanden gekommen waren – wenn er sie denn überhaupt jemals besessen hatte. Er wollte immer nur seine Ruhe und möglichst wenig Verantwortung. Deshalb war ihm schon klar, dass er nichts weiter war als der Erfüllungsgehilfe eines Systems, das diesen Fall so schnell wie möglich zu den Akten legen wollte. Aber hatte Peter Kleinheinz, der Mann, der ihm mehr als einmal das Leben gerettet hatte, es nicht verdient, in dieser schweren Zeit zumindest mit Respekt behandelt zu werden, auch wenn kaum einer im Präsidium noch Zweifel daran hatte, dass der einstige Vorzeigebeamte kaltblütig zwei brutale Morde verübt hatte?

Dohmen bemerkte, dass er bereits endlose Sekunden lang mit offenem Mund vor Will gestanden hatte. Er räusperte sich.

„Also … Herr Hastenrath. Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Ich vergesse alles, was Sie gerade gesagt haben, vor allem die strafrelevanten Sachen. Dafür folgen Sie mir jetzt nach vorne auf die Straße. Da können wir etwas unbeobachteter sprechen.“ Will nickte und folgte dem Kommissar. Als die beiden auf den Bürgersteig traten, freute sich Knuffi so sehr, dass er urinierte. Will drückte ihm ein Leckerchen ins Maul und wandte sich wieder an Dohmen: „Tut mir leid. Da sind wohl eben etwas die Kühe mit mir durchgegangen. Ich wollte Sie nicht beleidigen, wie ich Sie ‚Arschloch‘ genannt habe.“ Dohmen wedelte mit der Hand, als verscheuche er Fliegen.

„Wie gesagt. Ich hab’s schon vergessen. Aber ich habe verstanden, was Sie damit zum Ausdruck bringen wollten. Glauben Sie mir. Ich bin genauso schockiert wie Sie und ich kenne Peter Kleinheinz noch ein paar Jahre länger. Im Moment versuche ich, so professionell wie möglich mit der Sache umzugehen. In den ersten Stunden und Tagen nach einer solchen Tat muss man so gründlich wie möglich nach allen Spuren suchen. Schließlich können solche Spuren auch entlastenden Charakter haben. Aber auch wenn ich in Teufels Küche komme und gegen mehrere Dienstvorschriften gleichzeitig verstoße, ich sage Ihnen jetzt ein paar Dinge, die das Polizeipräsidium eigentlich nie verlassen dürften. Und zwar mache ich das, weil ich weiß, dass auch Peter das gemacht hätte. Ich habe Ihr spezielles Verhältnis zwar nie verstanden, aber am Ende hat es ja oft zu einem guten Ergebnis geführt. Trotzdem hat es dieses Gespräch zwischen uns nie gegeben. Haben Sie das verstanden?“

Will nickte. „Ich danke Sie für Ihr Vertrauen. Und ich verspreche Sie, dass von mir keiner was erfahren wird.“

„Gut“, Dohmen holte tief Luft. „Folgendes scheint Samstagnacht passiert zu sein: Peter Kleinheinz betritt das Haus und überrascht seine Lebensgefährtin Bettina Hebbel und einen fremden Mann im Bett. Sofort eröffnet er das Feuer. Der Mann wird von zwei Schüssen getroffen, die beide tödlich sind. Auch Bettina scheint von zwei Kugeln getroffen worden zu sein, jedenfalls fehlten vier Kugeln in Peters Dienstwaffe. Die Spurensicherung konnte aber nur zwei Hülsen finden. Trotz ihrer starken Verletzung und eines sehr hohen Blutverlustes konnte sie offensichtlich über die Treppe in den Garten fliehen. Dort verliert sich die Blutspur aufgrund des starken Regens. Der Gerichtsmediziner schließt aber fast aus, dass sie sehr weit gekommen ist.“

„Deshalb der Bagger …?“, stotterte Will entsetzt.

„Ja. Wir vermuten, dass Peter die tote oder sterbende Frau im Garten vergraben hat. Wir haben einen blutverschmierten Spaten sichergestellt, allerdings ohne Fingerabdrücke von Peter. Dafür waren jedoch Schlammspuren an Peters Schuhen, die eindeutig aus dem Garten stammen. Entscheidend ist aber der Zeitfaktor. Die tödlichen Schüsse sind laut Gerichtsmediziner und Zeugenaussagen gegen 21.20 Uhr gefallen. Peter hat mich allerdings erst um kurz nach 22 Uhr angerufen und mir mitgeteilt, was er getan hat.“

„Moment mal. Der Peter hat Sie angerufen?“

„Ja. Das Pokalspiel war gerade zu Ende, da ging mein Handy. Peter war völlig verwirrt und redete zusammenhangloses Zeug. Als er sagte, dass er zu Hause sitzt und gerade etwas Furchtbares getan hätte, bin ich sofort hierhin gerast.“ Aber was ich damit sagen will, ist, dass zwischen den tödlichen Schüssen und dem Anruf fast eine Stunde lag. Zeit genug, um einen leichten Körper im Garten zu vergraben.“

Will konnte nicht glauben, was er da hörte. Und er wollte es auch nicht glauben. „Das macht doch überhaupt kein Sinn. Warum soll der denn nur eine Leiche vergraben?“

Dohmen zuckte mit den Schultern. „Vielleicht, weil für die zweite die Zeit nicht mehr gereicht hat.“

„Blödsinn. Dann hätte der doch erst angerufen, nachdem der alle beide vergraben hat.“

„Ja, darüber haben wir uns auch schon Gedanken gemacht. Unser Polizeipsychologe meint, dass es wahrscheinlich gar nicht darum ging, Spuren zu verwischen, sondern, dass sich Peters ganze Wut nur auf seine Freundin konzentriert hat und er sie vollständig vernichten und verschwinden lassen wollte.“ Will bekam eine Gänsehaut. Beklommen hakte er nach: „Aber hätten dann nicht die Nachbarn hier was mitbekommen müssen von der Aktion?“ Er deutete auf das Haus nebenan.

Dohmen folgte seinem Blick und schüttelte den Kopf. „Da ist keiner. Die sind noch drei Wochen in Urlaub. Das haben wir schon gecheckt.“

Will stutzte. Bevor er seine Gedanken ordnen konnte, trat der Polizist mit den hochdekorierten Schulterklappen durch das Gartentörchen und rief Dohmen zu: „Herr Dohmen. Sie sollen reinkommen zum Kapdezernent.“

„Ich komm sofort.“

„Was ist denn ein Kapdezernent?“, fragte Will.

„Bitte? Ach so“, antwortete Dohmen zerstreut, „das heißt eigentlich Kapitaldezernent. Damit ist der Staatsanwalt gemeint, der hat hier den Hut auf. Bei einem Kapitalverbrechen ist die Staatsanwaltschaft immer die Herrin des Ermittlungsverfahrens.“

Will kratzte sich am Kopf. „Wollen Sie damit etwa sagen, dass der Staatsanwalt eine Frau ist?“

„Nein, der Staatsanwalt, das ist der Arnulf Gehring.“

„Wissen Sie was?“, sagte Will entschlossen. „Ich komm jetzt mal mit rein und red mit der Mann. So Leute muss man …“

Dohmen konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Nein, Sie kommen nicht mit rein. Das würde alles nur viel schlimmer machen. Und bei Gehring hätten Sie sowieso keine Chance. Das ist ein Golfkumpel von Pimpertz.“

Der Polizist erschien wieder am Gartentor. „Die Herren warten“, rief er.

„Bin unterwegs“, rief Dohmen zurück. „Wie sieht’s im Garten aus?“ Der Polizist schüttelte den Kopf. „Wir haben jetzt jeden Stein umgedreht. Hier liegt garantiert nichts in der Erde.“ Dohmen fluchte leise und murmelte: „Verdammt, Peter. Was hast du mit deiner Freundin gemacht?“

Der Kommissar verabschiedete sich schnell von Will, um ins Haus zu gehen. Will blieb zurück und dachte noch einmal über die Worte des Beamten nach. „Hier liegt nichts in der Erde.“ Plötzlich wurde ihm ganz flau im Magen. Er riss den Kopf herum und starrte auf die Mülltonne, die vor dem Nachbarhaus stand. Ihm gefror fast das Blut in den Adern, als er sich die Frage stellte: Wenn die Bewohner von dem Haus in Urlaub sind, wer hat dann die Mülltonne an die Straße gestellt? Und vor allem: Was war in den blauen Mülltüten?

Die Höhle des Löwen

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