Читать книгу Die Höhle des Löwen - Christian Macharski - Страница 7

Prolog

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Borowkas Seele brannte. Nichts und niemand hatte ihn auf diesen Moment vorbereitet. Sein Kumpel Fredi Jaspers sah sich beklommen um. Es waren nicht viele gekommen, nur die engsten Freunde. So wie Richard Borowka es sich gewünscht hatte. Wie alle anderen trug auch Fredi schwarz. Den Anzug hatte er zum letzten Mal bei der Beerdigung seines Vaters getragen. Es schauderte ihn, als er daran dachte. Spargel, der mit Tonne und einigen anderen Fußballkameraden etwas abseits Spalier stand, schnäuzte sich auf den Handrücken und schaute sich dabei verstohlen um. Fredi, der die Grabrede halten sollte, schenkte ihm ein kurzes, verkrampftes Lächeln und ließ seinen Blick dann zu Borowka schweifen, um ein Zeichen zu bekommen, dass er beginnen möge. Doch sein bester Freund stand nur seltsam entrückt mit vor dem Bauch gefalteten Händen im großen Schatten einer Trauerweide. Borowkas matter Blick verlor sich irgendwo in der flirrenden Luft dieses herrlichen Tages. Aber konnte ein Tag überhaupt schön sein, wenn es darum ging, Abschied von seiner großen Liebe zu nehmen? Borowka drehte langsam, fast wie mechanisch, den Kopf, aber der Platz an seiner Seite blieb leer. Genauso leer wie sein Innerstes. Seit man ihm vor einer Woche erklärt hatte, dass man nichts mehr tun könne, fühlte er sich nur noch wie eine ausgebrannte Hülle. Wie ein Trinkpäckchen, das man auf dem Schulhof zertreten hatte. Der letzte Funken Hoffnung, den er bis zuletzt gehabt hatte, war zerstört worden durch ein kurzes, bedrücktes Kopfschütteln. Das Schlimmste war, dass auch ihn selbst Schuld traf. Ein kurzer Moment der Unaufmerksamkeit hatte zu der Katastrophe geführt. Über 20 gemeinsame Jahre, ausgelöscht in einer einzigen Sekunde. Jetzt würden ihm nur noch die Erinnerungen bleiben. Noch fehlte ihm jegliche Vorstellungskraft, wie er überhaupt würde weiterleben können, aber, wie so oft in schweren Zeiten, schoben sich die weisen Worte seines Trainers Karl-Heinz Klosterbach in sein Bewusstsein: „Weitermachen. Immer weitermachen. Auch wenn man 0 : 8 zurückliegt.“ Aber dieser Albtraum, den Borowka gerade durchlebte, war ein gefühlter Rückstand von 0 : 20. Mindestens.

Da Fredi vergeblich auf ein Zeichen wartete, entschied er selbstständig, mit seiner Rede zu beginnen. Behutsam entfaltete er das DINA-4-Blatt, auf dem er seine Sätze notiert hatte. Seine Hände zitterten, denn er war es nicht gewohnt, vor Menschen zu sprechen. Geschweige denn, dass er wusste, was in einer solchen Situation zu sagen sei. Doch Borowka hatte auf ihn als Trauerredner bestanden. Und so hatte Fredi im Internet nach tröstenden Gedanken gesucht, die extra erfunden worden waren für Menschen, die ähnliche Schicksalsschläge erlitten hatten. Zum Glück hatte ihm seine Freundin Sabrina bei den Formulierungen geholfen, denn nicht alle Sätze hatte er auf Anhieb verstanden.

Fast flüsternd begann er mit seiner Ansprache: „Verehrte Trauergemeinde, wir sind heute hier, für Abschied zu nehmen. Das, was passiert ist, ist kaum zu verstehen. Aber genau aus diesem Grund dürfen wir nicht vergessen: Was bleibt, wenn alles geht, ist die Liebe. Die Zeit heilt zwar nicht alle Wunden, aber sie hilft uns, mit dem Unbegreiflichen zu leben. ‚Ohne dich‘ zwei Worte, so leicht zu sagen, aber so endlos schwer zu ertragen. Doch nur, wer vergessen wird, ist tot. Du aber wirst in unsere Erinnerung weiterleben ...“

Immer wieder wurde die Rede vom Schluchzen der Trauergäste unterbrochen. Der Einzige, der keinen Ton von sich gab, war Richard Borowka. Die Worte, die ihm Trost spenden sollten, kämpften sich nur mühsam durch die Nebelwände in sein Gehirn. „ … Mit den Flügeln der Zeit fliegt die Traurigkeit davon. Ich sage euch: Weint nicht, weil es vorbei ist. Lacht, weil es so schön war ...“

Gerade als Fredi zum Schlusssatz ansetzen wollte, zerriss lautes Motorengeheul die andächtige Stille. Verärgert sah er auf und stellte voller Entsetzen fest, dass ein roter Suzuki Vitara mit hohem Tempo durch die Böschung brach und mit Vollgas auf die Trauergemeinde zuhielt. Unmittelbar vor einem verheerenden Aufprall wurde das Lenkrad herumgerissen und der Geländewagen kam seitlich zum Stehen. Dreck spritzte unter den Reifen hervor. Quietschend fuhr das Fahrerfenster herunter und ein blonder Frauenkopf mit einem mittig platzierten, palmenförmigen Pferdeschwanz, gehalten von einem Frotteehaargummi, kam zum Vorschein. Es handelte sich unverkennbar um Rita, Borowkas Ehefrau, die nicht nur einen stark geschminkten, sondern auch einen sehr verärgerten Eindruck machte. Aus Leibeskräften brüllte sie: „Richard! Werd endlich mal erwachsen!“

Doch Borowka drehte sich nicht einmal um. Stattdessen nickte er seinen Freunden Tonne und Spargel zu, die nach einer kurzen Schrecksekunde professionell darangingen, die beiden Holzpflöcke aus dem Erdreich zu ziehen, die als Poller dienten. Nun setzte sich langsam der gelbe Ford Capri mit den roten Rallyestreifen auf dem abschüssigen Ufergeröll in Bewegung und trat seine letzte Reise an. Nahezu lautlos rollte Borowkas große Liebe in den Uetterather Waldsee und hinterließ am Ende nichts als ein paar große Blubberblasen. Borowka stiegen Tränen in die Augen. Es war Zeit, loszulassen.

Die Höhle des Löwen

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