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Ein alter Bekannter 4
ОглавлениеFreitag, 5. Juni, 21.40 Uhr
Der wohltemperierte Weinbrand rann Wills Kehle hinunter. „Es geht doch nix über ein Glas Dujardeng nach ein getanes Tagwerk“, sprach der Landwirt zu sich selbst, während er seine Beine auf dem Hocker vor seinem Ohrensessel lang ausstreckte. Heute hatte er die Arbeiten an den Gästezimmern offiziell beendet. Die Betten waren aufgebaut, die Fernseher installiert und der Wasserschaden behoben. Zur Belohnung hatte sich Will diesmal sogar einen „Dujardin Fine Cognac“ aufgemacht, die edle Cognac-Ausführung seines Lieblingsweinbrands Dujardin Imperial. Er strich mit dem Daumen über das „V.S.O.P.“-Siegel am Flaschenhals. Wofür die Abkürzung genau stand, wusste Will nicht. Schlömer Karl-Heinz behauptete immer, das hieße „very super old Plörre“, aber das glaubte der Landwirt nicht. Denn Plörre war sein Lieblingsgetränk nun wahrlich nicht. Im Gegenteil, Dujardin Fine wurde aus französischen Weinen aus der Charente gebrannt. Und nur ein Weinbrand, der aus dieser Region stammt, durfte sich auch Cognac nennen. Will nahm einen weiteren Schluck aus seinem Schwenker, der erst durch das korrekte, leichte Anwärmen in der Handfläche seinen ganz speziellen rund-milden Geschmack entfaltete. Nicht so wie Anfänger-Weinbrände, die vor allem durch ihr süßlich-seifiges Nachbrennen unangenehm auffielen. Eine leichte Schärfe fand man beim Dujardin allenfalls vorn an der Zungenspitze, aber nicht wie bei anderen Vergleichs-Spirituosen lange nachbrennend im Abgang. Will verstand gar nicht, dass dieser edle Feierabendtropfen ein bisschen aus der Mode gekommen war und teilweise sogar als Altherrengetränk verspottet wurde – oft sogar von selbst ernannten Hipstern, die sich für die Coolsten hielten, um sich dann am Wochenende mit Jägermeister zuzuschütten. Ausgerechnet Jägermeister! Das Gesöff, mit dem die Omma früher nach dem üppigen Weihnachtsessen immer ihre Verdauung angeregt hatte und mit dem alte Männer am Kiosk ihr verpfuschtes Leben zu ertränken versuchten. Nein, Will ließ sich sein Lieblingsgetränk nicht schlechtreden. Das flüssige Gold schlängelte sich wie ein kleiner, ruhiger Fluss durch seinen Hals, als er noch einen Schluck nahm. Es war so bekömmlich, dass man es auch in großen Schlucken wie ein Bier oder einen Kaffee nebenher trinken konnte, wenn man denn ein unkultivierter Bauer wäre. Will stellte das Glas auf seinem Wohnzimmer-Kacheltisch ab und grunzte vor Vergnügen. Die Fernbedienung zappelte erwartungsfroh in seiner Hand, seine Frau machte im Keller die Wäsche und die Flasche Dujardin war noch drei viertel voll. Nichts würde jetzt noch seine Entspannung stören können. Dachte er! Doch plötzlich bimmelte es an der Haustür, wobei diese Formulierung nicht annähernd das ohrenbetäubende Lärmgewitter beschreiben konnte, das regelmäßig durch die Betätigung der Türklingel ausgelöst wurde. Die Lautstärke war so eingestellt, dass man sie bis auf den Hof und in die entlegenen Stallungen hören konnte. Der Nachteil daran war, dass man in unmittelbarer Nähe der Türglocke, und das Wohnzimmer lag direkt neben der Haustür, Gefahr lief, einem Herzinfarkt zu erliegen. Erschrocken fuhr Will aus seinem Sessel hoch. Nachdem er sich gesammelt und die Weinbrandspritzer aus seinem Hemd gerieben hatte, lief er auf seinen löchrigen Socken zur Tür.
„Wer zum Teufel …?“ Der Satz, den Will immer brüllte, wenn er die Haustür aufriss, sollte ungebetenen Gästen signalisieren, dass sie nicht auf allzu große Gastfreundschaft hoffen durften. Denjenigen allerdings, die dem knorrigen Landwirt nahestanden, war dieser Empfang längst zu einer Art lieb gewonnenem Begrüßungsritual geworden. So wie dem Mann, der vor der Tür stand: Peter Kleinheinz. Die Gesichtszüge des Hauptkommissars waren härter geworden, das Haar an den Schläfen grauer. Doch der entschlossene Gesichtsausdruck und der stechende Blick machten deutlich, dass er sich trotz der schlimmen Schicksalsschläge, die ihn ereilt hatten, nicht vom Leben hatte unterkriegen lassen.
In Wills Magengegend rumorte es. Zwei Seelen kämpften in seiner Brust. Einerseits freute er sich, einen Menschen wiederzusehen, mit dem er so viel durchgemacht hatte, der ihm das Leben gerettet hatte und dem er am Ende sogar das Du angeboten hatte. Auf der anderen Seite war er maßlos wütend auf Kleinheinz, weil der nach den furchtbaren Ereignissen vor drei Jahren spurlos verschwunden war, ohne ein Wort, ohne einen letzten Gruß. Einfach so. Auch wenn Will nicht viel von Freundschaften hielt, eine Art Erklärung zum „Warum“ hatte er doch erwartet nach dieser intensiven und schweren Zeit. Zumindest auf ein Lebenszeichen hatte er gehofft. Aber das bekam er ja gerade, und zwar in voller Größe. „Peter?!“ fragte er ungläubig.
„Will!“ Kleinheinz öffnete die Arme und obwohl Will sich innerlich zunächst dagegen sträubte, erwiderte er die Umarmung. Sie fiel unerwartet lang und herzlich aus. Will spürte, dass er seinen Freund vermisst hatte. Das merkte er vor allem daran, dass er sogar bereit war, ihm zu verzeihen, was normalerweise nicht zu seinen herausragenden Charaktereigenschaften gehörte. Nachdem sie sich wieder voneinander gelöst hatten und nach den richtigen Einstiegsworten suchten, war Will noch so überwältigt, dass er erst jetzt bemerkte, dass Kleinheinz nicht allein gekommen war. Neben ihm stand eine verängstigt wirkende junge Frau, die eine Sonnenbrille trug, und das, obwohl die Sonne gerade untergegangen war. Sie war in einen langen Mantel gehüllt, auch das ungewöhnlich für diese Jahreszeit, und ihr Haar war unter einem Seidentuch versteckt, sodass Will beim besten Willen nicht erkennen konnte, um wen es sich handelte.
„Ach so ja“, sagte Kleinheinz, als er Wills fragenden Blick bemerkte, „das ist Lilly Dinglmaier. Dürfen wir reinkommen?“
„Ja, ja natürlich“, antwortete Will hastig und öffnete die Tür ganz. „Ihr habt Glück. Ich habe mir gerade eine Flasche Dujardeng aufgemacht. Und zwar den Guten.“
Kleinheinz und die Frau folgten dem Landwirt ins Wohnzimmer. Nachdem Kleinheinz sich für sein plötzliches Abtauchen wortreich entschuldigt hatte und Will ihm großmütig vergeben hatte, berichtete der Kommissar, wie es ihm in der Zwischenzeit ergangen war. Kurz nach den Vorfällen vor drei Jahren hatte er aus nahe liegenden Gründen den Dienst bei der Kreispolizeibehörde Heinsberg quittiert. Er hatte nur noch weggewollt und hatte die erstbeste Stelle angenommen, die sich ihm bot. So war er beim Landeskriminalamt Hessen gelandet, wo er nun seit einem Jahr in der Dienststelle für Zeugenschutzprogramme arbeitete. Und damit war er schon mitten im Thema. Die Dame, die neben ihm auf dem Sofa saß, befinde sich aktuell in eben diesem Programm und stehe zurzeit unter seinem persönlichen Schutz. Die Frau hatte den Mantel, das Haartuch und die Sonnenbrille mittlerweile abgelegt und Will stellte fest, dass sie ausgesprochen attraktiv war.
„Was ist denn ein Zeugenschutzprogramm?“, fragte Will mit ernster Miene.
„In erster Linie streng geheim“, antwortete Kleinheinz trocken. „Frau Dinglmaier hat eine neue Identität erhalten, weil sie vor Gericht als Kronzeugin ausgesagt hat. Da wir durch diese Aussage eine große kriminelle Vereinigung sprengen konnten, befindet sie sich infolgedessen in akuter Lebensgefahr. Meine Aufgabe und die meiner Kollegen ist es nun, für Frau Dinglmaiers Sicherheit zu sorgen und sie zunächst einmal an einem ruhigen Ort unterzubringen.“
„Und da bist du natürlich als Erstes auf Saffelen gekommen“, lachte Will.
„Nicht nur auf Saffelen, sondern speziell auf euch. Ihr habt doch jetzt gerade wunderschöne Gästezimmer eingerichtet, die aber noch nicht vermietet sind.“
„Woher weißt du das denn? Ich bin doch heute erst fertig geworden.“
Kleinheinz grinste. „Ich bin Polizist. Schon vergessen? Nein, im Ernst. Die Seite mit eurer Pension ist schon seit einer Weile online. Ich vermute mal, dein Schwiegersohn war so frei. Auf jeden Fall habe ich mir gedacht, das könnte die richtige Übergangslösung sein. Ich brauch nur zwei, drei Tage, um etwas zu regeln, dann sind wir hier wieder weg. Es gab da ein paar kleinere Probleme.“
Will hob die Augenbrauen. „Kleinere Probleme?“
Kleinheinz beugte sich vor und verfiel in einen leichten Flüsterton. „Das Programm für Lilly, also Frau Dinglmaier, war nach dem üblichen Prozedere angelaufen. Wir hatten ihr neue Urkunden und Pässe besorgt, eine Wohnung, einen Job, aber die ganze Sache ist aufgeflogen und die Mafia hätte sie fast erwischt. Der Typ, den sie hinter Gitter gebracht hat, ist eine Riesennummer in Frankfurt. Der hat mächtige Freunde.“
„Sehr mächtige Freunde“, ergänzte Lilly, die bisher schweigend danebengesessen hatte. Will lief ein kalter Schauer den Rücken herunter.
Kleinheinz nickte wie zur Bestätigung und fuhr fort: „Für so ein Kaliber ist es kein Problem, seine Jungs aus dem Knast heraus zu dirigieren. Normalerweise ist so ein Zeugenschutzprogramm aber wasserdicht. Deshalb muss es in diesem Fall einen Maulwurf in unseren Reihen gegeben haben. Ich habe daraufhin als Leiter der Operation entschieden, dass wir den Schutz von Frau Dinglmaier nur noch auf einen ganz engen Kreis von Mitwissern beschränken. Außer mir gibt es nur noch drei Beamte, die in den Fall involviert sind. Und für alle drei lege ich meine Hand ins Feuer. Bis wir wissen, wo wir sie letztlich unterbringen, würde ich gerne mit ihr hierbleiben.
Ich habe alle Spuren verwischt, die uns betreffen. Hier wird uns also niemand vermuten. Das Wichtigste ist jetzt: Allerhöchste Geheimhaltung! Aus diesem Haus darf nichts nach draußen dringen. Deshalb lautet die entscheidende Frage: Wo ist Marlene?“
Will verstand, worauf der Kommissar hinauswollte. „Die ist im Keller und macht die Wäsche“, sagte er. „Du hast recht. Wir sollten ihr eine andere Geschichte auftischen. Zum einen macht die sich nur wieder unnötig Sorgen und zum anderen könnten wir das sonst auch gleich in die Tageszeitung setzen. Was hältst du davon, wenn wir sagen, dass die Frau Dinglmaier deine Verlobte ist und du die der schöne Selfkant zeigen willst? Und dass du uns als alter Freund hier besuchst, dürfte ja keinen wundern im Dorf.“
Kleinheinz sah über seine Schulter und Lilly nickte ihm mit einem angedeuteten Lächeln zu. Der Kommissar rieb sich kurz übers Kinn und meinte: „Warum nicht? Außerdem fällt mir auch nichts Besseres ein.“
Will erhob sich und rief mit seinem tiefen Bass nach seiner Frau. Es dauerte nicht lang und Marlene schnaufte mit einem vollen Wäschekorb die Kellertreppe hinauf. Als sie den Kommissar erblickte, ließ sie den Korb fallen und schlug sich die Hände vor die Wangen. „Das gibbet doch gar nicht. Bist du das wirklich, Peter!“, presste sie hervor, während ihre Augen feucht wurden.
Kleinheinz ging auf sie zu und umarmte sie herzlich. „Hallo Marlene, wir wollten euch besuchen kommen.“
„Wer ist denn wir?“ fragte Marlene irritiert, bevor ihr Blick auf Lilly fiel, die auf dem Sofa sitzengeblieben war.
Kleinheinz stellte die beiden Damen einander vor. „Lilly, das ist Marlene. Marlene, das ist Lilly Dinglmaier, meine Verlobte. Wir wollten ein paar Tage bei euch bleiben, quasi als Hoteltester.“
Marlene drückte die junge Frau an ihre mächtige Brust und sagte: „Das freut mich aber. Der Peter ist ein ganz besonderer Mann. Der hat es verdient, wieder glücklich zu sein!“ Sie ließ los und Lilly holte Luft. „Dann kommen Sie doch gleich mal mit nach oben, Frau Dimpflmoser. Ich zeig Sie die Zimmer. Noch können Sie sich das Schönste aussuchen.“
„Hör mal“, rief Will ihr hinterher. „Bis auf Weiteres sind die beiden unsere einzigsten Gäste. Wir warten mit die große Eröffnung von ‚Wills Wald- und Wiesenparadies‘ noch, bis die wieder weg sind. Damit die was Ruhe haben.“
Marlene drehte sich am Treppenabsatz um und erwiderte: „Nee, das geht nicht. Morgen zieht noch ein Gast ein. Ein Schriftsteller, der hier arbeiten will. Den hab ich heute in der Kreisverwaltung getroffen und der ist ganz begeistert von ‚Haus Marlene‘.“
„Wie ‚Haus Marlene‘?“ Wills Augen zuckten nervös. „Was ist das denn für ein Name? Das hört sich ja an, wie ein unseriöses Etablissemeng! Ich denke, wir waren uns schon einig mit der Name. Und was ist das überhaupt für ein komischer Schriftsteller-Gast? Werd ich hier vielleicht auch noch mal wegen irgendswas gefragt?“
Kleinheinz, der ähnliche Eskalationen früher oft miterlebt hatte, griff sofort ein. „Beruhig dich, Will. Das ist doch überhaupt kein Problem, wenn hier noch ein Gast wohnt. Mach dir darüber keine Gedanken.“
Will schnaubte noch einmal laut, regte sich aber schnell wieder ab. Er nahm den Cognacschwenker vom Wohnzimmertisch und erhob ihn staatsmännisch. „Na dann, würde ich mal sagen: Liebe Frau Dingensmaier, lieber Peter. Herzlich willkommen in ‚Wills Wald- und Wiesenparadies‘.“