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Der Fremde 2
ОглавлениеFreitag, 5. Juni, 9.30 Uhr
Der Regenschauer hatte Marlene Hastenrath voll erwischt, als sie sich auf halber Strecke zwischen Parkplatz und dem Eingang der Kreisverwaltung befand. Der Regen war so plötzlich und heftig auf sie niedergeprasselt, dass sie nicht mal mehr die Chance gehabt hatte, ihre Regenhaube aus der Handtasche zu ziehen. Nun stand sie triefend im Foyer des Kreishauses und sah sich um. Auf einer halbrunden Theke erblickte sie ein Schild mit der Aufschrift „Information“ und gleich daneben ein weiteres, auf dem stand: „Bin auf dem Klo“. Marlene seufzte und ging zum Ständer mit den Prospekten, der sich gegenüber der Theke befand. Sie zog ein dünnes Heftchen aus dem Ständer, auf dem in riesigen Lettern zu lesen war: „Herzlich willkommen in der Freizeitregion Heinsberg“. Doch noch bevor sie es aufschlagen konnte, rief eine rauchige Stimme hinter ihr: „Kann ich Ihnen helfen?“
Marlene fuhr herum. Die Stimme gehörte nicht, wie erwartet, einem Mann, sondern einer stark geschminkten Mittfünfzigerin, die zwar lächelte, aber das ohne jede Mimik. Ihre Stirn war glatt wie ein Babypopo und der Mund mit den sehr roten Lippen erinnerte Marlene unwillkürlich an den Joker aus Batman. Während die Frau das „Bin auf dem Klo“-Schild mit einer schnellen Bewegung unter der Theke verschwinden ließ, trat Marlene an die Theke und nestelte an ihrer Handtasche, in der sich die Unterlagen befanden. Noch bevor sie den Hefter aus dem Gewirr von Taschentüchern, Labellos mit und ohne Deckel, Bürstchen, Nagelfeile, Kopfschmerztabletten und klebrigem Bonbonpapier herausgefischt hatte, betrat ein ebenfalls vom überraschenden Regenschauer heimgesuchter Mann das Foyer und zog ob seines außergewöhnlichen Kleidungsstils sofort alle Aufmerksamkeit auf sich. Er trug eine graue, gewagt enge Anzughose, einen der Jahreszeit nicht angepassten Rollkragenpullover, glänzende Lederschuhe und um den Hals einen Kaschmirschal. Mit seiner geraden Körperhaltung machte er einen fast schon aristokratischen Eindruck. Marlene, die wie die Frau hinter der Theke zu ihm hinübersah, hätte sich nicht gewundert, wenn er auch noch einen Zylinder auf dem Kopf gehabt hätte.
Offenbar hatte sie ihn etwas zu lange gemustert, denn plötzlich sah der Mann auf und kam auf sie zu. Marlene grinste verlegen und der Mann grüßte mit einem kurzen, aber freundlichen Nicken zurück, bevor er ebenfalls an den Informationsschalter trat. Der Mann verströmte einen markanten Duft. Es musste sich um ein sehr exklusives Parfüm handeln, mutmaßte Marlene, denn es war ein exotischer Geruchsmix aus Moschus, Weihrauch und Vanille. Marlene fand das recht ungewöhnlich für einen normalen Mann und es erinnerte sie daran, später noch bei dm oder Aldi vorbeizufahren, um für Will einen neuen Deoroller zu kaufen. Die Frau hinter der Theke hustete laut ab.
Sie nahm ein Glas Wasser, in das sie aber auch hineinhusten musste, nachdem sie es angesetzt hatte. Das Wasser spritzte in alle Richtungen. Marlene war das egal, sie war sowieso nass. Der Mann hingegen schaute pikiert. Mit einer freundlichen Geste ließ er Marlene den Vortritt und zog sich an den Ständer mit den Broschüren zurück. Mittlerweile hatte die Frau hinter der Theke abgehustet. Mit einem Lächeln, das man als verlegen interpretieren konnte, entschuldigte die Frau sich: „Tut mir leid, ich bin ein bisschen erkältet. Aber jetzt bin ich für Sie da. Mein Name ist Gaby Frings, was kann ich für Sie tun?“
„Guten Tag, mein Name ist Marlene Hastenrath. Ich bin aus Saffelen. Ich bin die Frau von Hastenraths Will, dem Ortsvorsteher von Saffelen und ich wollte frägen …“
„Der Bauer, der immer die Kriminalfälle löst?“, fiel Frau Frings ihr ins Wort. „Das gibt’s doch gar nicht! Meine Schwägerin ist eine geborene Hermsmeier. Und der ihre Cousine hat einen Bekannten, der mal Fußball gespielt hat zusammen mit einem gewissen Herbert Frentzen. Und dieser Herbert Frentzen ist ein Schwippschwager von Schlömer Karl-Heinz aus Saffelen. Und der hat mal Geschichten erzählt von Hastenraths Will.“
Marlene nickte stolz. „Das ist richtig. Schlömer Karl-Heinz ist ein guter Freund von mein Mann.“
Frau Frings schüttelte ungläubig den Kopf. „Wie klein doch manchmal die Welt ist.“ „Das stimmt wohl. Na ja, auf jeden Fall wollen wir demnächst eine kleine Frühstückspension auf unser Bauernhof eröffnen und da wollte ich Sie fragen, ob Sie die vielleicht in Ihr Programm mit aufnehmen könnten?! Sie haben doch bestimmt so eine Liste mit Hotelzimmer im Kreis Heinsberg.“
„Aber natürlich“, sagte Frau Frings, „das machen wir gerne.“ Sie nahm ein Formular aus der Schublade und erfragte ein paar Daten zu „Wills Wald- und Wiesenparadies“, die sie fein säuberlich notierte.
Marlene betonte mehrmals, dass dies jedoch noch nicht der endgültige Name sei, und zog ein engbeschriebenes DIN-A4-Blatt aus dem Schnellhefter, das sie Frau Frings über die Theke reichte. „Dann hätte ich noch eine Bitte“, sagte Marlene. „Ich hab hier mal zusammen mit mein Mann ein Textentwurf gemacht für ein Prospekt, das wir drucken lassen wollen. Wir sind aber nicht sicher, ob das alles gut ist. Vielleicht können Sie mir da noch ein paar Tipps geben.“
Frau Frings nahm das Blatt und überflog es mit zusammengekniffenen Augen. Dann begann sie halblaut vorzulesen: „Genießen Sie Urlaub auf der Bauernhof, mit alles, was dazugehört: muhende Kühe, dampfende Misthaufen und Trecker-Rundfahrten durchs Neubaugebiet. Erholung pur – fernab von jede Zivelesation und trotzdem weit genug weg von Holland. Erleben Sie Saffelen, der pulsierende Hotspot im Selfkant, günstig gelegen, für alle, die die Einsamkeit lieben. Bekannt geworden ist der kleine Ort am Saffelbach durch seine spektakulären Kriminalfälle, wovon Sie der berühmte Hobbydetektiv Hastenraths Will gerne höchstpersönlich abends am Lagerfeuer erzählen wird, Bluthochdrucktabletten inklusive. Falls Sie nach diese spannenden Geschichten überhaupt noch schlafen können, erwarten Sie komfortabel eingerichtete Gästezimmer mit schalldichte Klos.“
Frau Frings stockte. „Tschuldigung, was heißt das hier? Das kann ich nicht lesen.“
Marlenes Augen irrlichterten über das Blatt, bis sie die Stelle gefunden hatte, auf die Frau Frings zeigte. „Ach so, das. Ja, mein Mann neigt ein bisschen zu Übertreibungen. Der wollte, dass das was internationaler klingt. Das Wort heißt ‚Specials‘.“
„Ach so. ‚Specials‘ schreibt man nicht mit zweimal ‚S‘ ‚C‘ ‚H‘. Aber das ist egal. Über die Rechtschreibung lass ich am besten sowieso noch mal meine Kollegin drübergucken, die hat ein abgebrochenes Germanistikstudium. Kann ja nicht schaden. Sooo, was haben wir denn hier für ‚Specials‘? Kinder und Hunde sind herzlich willkommen, solang die sich benehmen. Genug Aschenbecher in jedes Zimmer. Langschläferfrühstück bis acht Uhr morgens. Einmal am Tag besteht die Möglichkeit, aus sichere Entfernung bei die Fütterung von Hofhund Attila zuzugucken. Und als besonderes Special – doppelt unterstrichen: billiger als ‚Pension Gansweidt‘ in Süsterseel und erst recht als ‚Bauer Hajos Erlebniswelt‘ in Brüggelchen.“
Frau Frings legte das Blatt zur Seite und runzelte die Stirn. „Ja, das hört sich doch schon mal sehr … interessant an. Ein paar Dinge sollte man vielleicht anders formulieren, aber ich hab ja jetzt Ihre Kontaktdaten. Ich würde vorschlagen, dass wir Sie anrufen, sobald wir den neuen Prospekt drucken. Da würde ich Sie dann auf jeden Fall mit reinnehmen. Toll wäre noch, wenn wir ein paar Fotos bekämen vom Hof und von den Zimmern.“
„Ach so ja, natürlich“, sagte Marlene. „Um die Fotos wollte Schwiegersohn sich kümmern, sobald der WLAN verlegt hat in die Gästezimmer. Der hat eine sehr gute Kamera … in sein Handy. Die lass ich Sie dann sofort zukommen. Also, die Fotos, nicht die Kamera. Dann bedanke ich mich und wünsch Sie noch ein schöner Tag.“
Marlene drehte sich um und ging erleichtert in Richtung Ausgang. Sie hätte niemals gedacht, dass es so aufregend sein würde, eine kleine Pension zu eröffnen. Schon die Gewerbeanmeldung in der Gemeindeverwaltung war reichlich kompliziert gewesen. Statt von einer „Pension“ hatte der Beamte die ganze Zeit von einem „Beherbergungsbetrieb mit Verpflegungsangebot“ gesprochen. Gut, dass Will nicht mit dabei gewesen war, dachte Marlene, der regt sich nämlich immer furchtbar auf über Behördendeutsch. Spätestens, seit er mal ein Schreiben erhalten hatte, in dem stand: „Bitte teilen Sie uns die Anzahl Ihrer Raufutter verzehrenden Großvieheinheiten mit.“ Es dauerte Tage, bis Will herausgefunden hatte, dass damit Kühe gemeint waren. Marlene stoppte. Vor der Drehtür, die ins Freie führte, standen jede Menge Leute und warteten. Draußen regnete es immer noch in Strömen. Marlene sah auf die Uhr und seufzte. Mit einem Mal stieg ihr wieder dieses betörende Parfüm in die Nase. Wie aus dem Nichts stand plötzlich der elegante Herr von vorhin neben ihr und sprach sie an: „Entschuldigen Sie bitte. Ich habe eben zufällig mitbekommen, dass Sie Fremdenzimmer vermieten. Kann das sein, dass ich Ihre Pension im Internet gesehen habe? ‚Wills Wald- und Wiesenparadies‘ in Saffelen?“
„Ja, das kann sein“, holte Marlene aus, „Schwiegersohn hat vor drei Wochen einfach eine Homepage angelegt, obwohl ich dem gesagt hatte, der soll damit noch warten. Vor allem, bis wir uns endgültig einig sind mit der Name für unsere kleine Pension. Ich fände ja viel passender so was wie ‚Westzipfelperle‘ oder ‚Haus Marlene‘ oder ‚Zum reißenden Saffelbach‘ oder so.“
Der Mann nickte interessiert. „Wie ist es denn in Saffelen so? Wissen Sie, ich suche einen einsamen Ort, wo ich in Ruhe arbeiten kann. Ich bin Schriftsteller.“
Marlene war entzückt. Konnte es sein, dass sie soeben von ihrem ersten Urlaubsgast angesprochen worden war? Und dann auch noch von einem echten Schriftsteller! Wie spannend! Dann konnte der Prospekttext ja so schlecht nicht sein. Sie sagte: „Ein einsamerer Ort wie Saffelen werden Sie nirgendswo finden.“