Читать книгу Die Königin der Tulpen - Christian Macharski - Страница 8

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Samstag, 11. Juli, 9.42 Uhr

Der Sommer war heißer als erwartet. Umso mehr genoss Fredi Jaspers den Fahrtwind, der sein schulterlanges Haar, das er vorne kurz trug, durcheinanderwirbelte. Er fuhr mit offenem Verdeck über die endlose und menschenleere Landstraße, die in das entlegene Saffelen führte. In tiefen Zügen atmete er den Sommer ein und summte kaum hörbar „Africa“ von Toto vor sich hin. Es war das perfekte Wetter zu seiner Gemütslage. Noch vor einem guten Jahr war sein Leben ein Scherbenhaufen gewesen. Und jetzt? Jetzt war er der glücklichste Mann der Welt. Seit ungefähr sieben Monaten waren er und seine große Liebe Martina wieder ein Paar. Seinen 16 Jahre alten Fiat Panda hatte er in Zahlung gegeben und sich dafür ein fast neues Cabrio gekauft. Gut, es war ein Mitsubishi Colt Cabrio in dunkelbraun. Aber etwas Besseres konnte er sich nicht leisten von seinem Gehalt als Büroangestellter bei Auto Oellers. Immerhin hatte ihm der alte Oellers einen großzügigen Kredit eingeräumt, den er mit Sonderschichten abarbeiten konnte. Aber viel wichtiger war sowieso die Sache mit Martina. Nachdem über zwei Jahre Eiszeit geherrscht hatte zwischen dem einstigen Saffelener Vorzeigepärchen, hatte der Fall Pluto, in den Fredi unfreiwillig hineingeraten war, dazu geführt, dass Martina und er sich wieder einander angenähert hatten. In der ersten Zeit waren sie unregelmäßig miteinander ausgegangen, dann immer häufiger und irgendwann waren sie unausgesprochen wieder zusammen. Trotz allem hatte Martina ihn gebeten, es diesmal behutsamer anzugehen. Sie wollte zunächst noch bei ihren Eltern wohnen bleiben und sie beanspruchte auch einen gewissen Freiraum für sich. Und Fredi war vorsichtig ge worden. Er wollte auf keinen Fall denselben Fehler machen wie damals, als er Martina mit seiner Liebe schier erdrückt hatte. Diesmal würde er klüger sein. Diesmal hatte er sich nämlich eine Taktik zurechtgelegt, um ihr Herz zurückzugewinnen. Ganz langsam und subtil würde er sie wieder in ihn verliebt machen. Mit kleinen, beiläufigen Gesten und herzerweichenden Überraschungen. Heute Morgen um halb neun zum Beispiel hatte er bei ihr zu Hause geklingelt, obwohl sie erst für den nächsten Tag miteinander verabredet gewesen waren. Er hatte sein gelbes Jackett und seine beste Lederkrawatte angezogen und ihr einen 30-Euro-Blumenstrauß mit eingearbeitetem Douglas-Geschenkgutschein überreicht. Noch ehe sie die Situation mit ihrem verwirrten Blick erfasst hatte, hatte er sie außerdem zu einer spontanen Cabriofahrt ins Phantasialand eingeladen, während er die Eintrittskarten in der rechten Hand schwenkte. Fredi freute sich, denn die Überraschung war offenbar gelungen, als Martina ungeschminkt, mit zerzaustem Haar und im Nachthemd die Haustür geöffnet hatte. Nachdem sie nach mehreren stammelnden Versuchen ihre Sprache wiedergefunden hatte, musste sie Fredi jedoch schweren Herzens absagen. Gerade im Moment hätte ihr Vater aus der Firma angerufen und sie gebeten, ihm helfen zu kommen. Hans Wimmers war der erfolgreichste Unternehmer Saffelens. Er hatte aus der kleinen Metzgerei Wimmers ein internationales Wurstimperium gemacht und gehörte mittlerweile zu den größten Würstchen-im-Glas-Produzenten Europas. Seinen Hauptsitz hatte er schon vor Jahren von Saffelen nach Heinsberg verlegt. Martina, sein einziges Kind, arbeitete dort in der Buchhaltung. Fredi war klar, dass es schon mal passieren konnte, dass man in der eigenen Firma auch samstags arbeiten musste, und so bemühte er sich, seine Enttäuschung zu verbergen. Da er seine Lektion gelernt hatte, bestand er darauf, Martina mit seinem Cabrio nach Heinsberg zu fahren. Obwohl sie mehrfach betonte, dass es nicht nötig sei, hatte Fredi geduldig vor der Tür gewartet, bis sie sich fertig gemacht hatte. Die Fahrt über war Martina sehr einsilbig gewesen und auch als er sie auf dem Firmenparkplatz herausgelassen hatte, hatte sie sich nur knapp von ihm verabschiedet. Sie hatte ihm nicht einmal zugewinkt, als sie im Gebäude verschwand. Na ja, aber wer arbeitet schon gerne samstags, sagte sich Fredi.

Das Blaulicht hatte er schon von Weitem gesehen. Doch als er sich nun der Pastor-Müllerchen-Straße näherte, traute er seinen Augen nicht. Der kleine Tante-Emma-Laden, der seinem Fußballkameraden Hans-Peter Eidams gehörte, war großräumig mit Flatterband abgesperrt. Zwei Polizeiautos, ein Rettungswagen und das Löschfahrzeug der Freiwilligen Feuerwehr Saffelen standen quer auf der Straße. Als Fredi seinen Wagen auf dem Kundenparkplatz der Gaststätte von Harry Aretz, die gegenüber dem Tante-Emma-Laden lag, abgestellt hatte, erkannte er Ortsvorsteher Hastenraths Will, der sich wild gestikulierend mit Löschmeister Josef Jackels unterhielt. Fredi stieg aus und ging zu den beiden hinüber.

Josef Jackels zog gerade umständlich ein großes Funkgerät aus seiner Uniformtasche. Nachdem er den richtigen Knopf gefunden hatte, sprach er mit sehr ernstem Tonfall hinein: „Florian 1 an Florian 2 – kommen.“ Das Funkgerät rauschte. „Florian 1 an Florian 2 – kommen.“ Wieder nur Rauschen. Josef rüttelte am Funkgerät, seine Stimme klang nun ärgerlich: „Florian 1 an Florian 2 – kommen. Hans-Gerd, geh mal dran!“

Plötzlich tippte ihm von hinten ein hagerer Feuerwehrmann mit schütterem Haar auf die Schulter und sagte: „Tschuldigung, Josef. Ich habe mein Funkgerät zu Hause vergessen. Es musste ja alles so schnell gehen.“

Josef fuhr erschrocken herum. Er hob hilflos den Arm. „Ja, wie, vergessen? Hans-Gerd, so geht es nicht. Das ist ein wichtiger Einsatz. Um nicht zu sagen, der wichtigste Einsatz, dem die Saffelener Feuerwehr in den letzten fünf Jahren hatte. Jetzt mal abgesehen von die Katze von Frau Mühlensiepen und die abgestreute Ölspur.“ Verärgert bedeutete er seinem Kollegen, dass er ihm folgen solle. Bevor er ging, verabschiedete er sich noch: „Will. Ich muss los. Ich mach jetzt hier mit der Hans-Gerd Einsatzbesprechung.“

Hastenraths Will hatte die Hände tief in seiner ausgebeulten, grauen Stoffhose vergraben, die notdürftig von fransigen, grauen Hosenträgern gehalten wurde. Nase und Wangen des Landwirts waren von geplatzten Äderchen gerötet. Das grünweiß karierte Hemd hatte er sich bis zum Ellenbogen hochgekrempelt. Fredi fiel allerdings auf, dass Will heute nicht seinen obligatorischen Bundeswehrparka trug. Entweder, weil es zu warm war oder weil es schnell gehen musste.

Fredi deutete mit dem Kopf hinüber zu einem der beiden Polizeiwagen, in dem ein dicker, schwitzender Beamter saß und Notizen machte. „Hallo Will. Was ist denn hier los?“

Will setzte sein weltmännisches Gesicht auf. „Grüß dich, Fredi. Der Laden von Eidams Hansi ist überfallen worden.“

Fredi war sprachlos. Dafür redete Will weiter: „Das muss vor ungefähr eine Stunde passiert sein. Keiner hat irgendswas gesehen. Auf einmal kam die Polizei hier mit Blaulicht reingefahren und hat sofort der Laden abgeriegelt. Es muss irgendswas Schlimmes passiert sein, weil die auch ein Rettungswagen dabei haben.“

Fredi schüttelte fassungslos den Kopf. „Wer war denn im Laden?“

„Keine Ahnung. Hier das Schnittlauch“, er zeigte verächtlich auf die Polizisten, „will nix sagen, bis der Kommissar da ist. Ich durfte noch nicht mal der Tatort betreten.“

„Das gibt’s doch nicht. Du bist doch der Ortsvorsteher.“

„Ja klar. Das habe ich denen auch gesagt. Aber Respekt ist für die ein Fremdwort.“ Ein junges Pärchen fuhr langsam auf Fahrrädern vorbei und reckte die Köpfe Richtung Laden. Will ging einen Schritt auf sie zu und wedelte mit dem Arm. „Fahren Sie bitte weiter. Hier gibt es nichts zu sehen. Das ist ein polizeilicher Tatort. Hier haben Zivilisten nichts verloren.“

Plötzlich bog mit hohem Tempo ein dunkelblauer Opel Corsa in die Pastor-Müllerchen-Straße ein. Auf dem Dach blinkte ein Blaulicht, das etwas schief mit einem Magnethalter angebracht war. Eine Sirene war aber nicht zu hören. Der Wagen kam mit quietschenden Reifen vor dem Flatterband zum Stehen. Während der Fahrer, ein athletischer, leicht untersetzter Mann mit Stirnglatze, mit einem Satz aus dem Wagen sprang und sofort zu dem Polizeibeamten ging, der am Streifenwagen lehnte, stieg der Beifahrer, der wie der Fahrer mit Jeans und T-Shirt bekleidet war, gemächlich aus und verschaffte sich erst mal einen Eindruck von der Umgebung. Will erkannte ihn sofort. Es handelte sich um Hauptkommissar Kleinheinz, den Will während der Ermittlungen im Fall Pluto kennengelernt hatte. Will witterte seine Chance, ließ Fredi stehen und lief, so schnell seine Gummistiefel es ihm erlaubten, auf den Kommissar zu. Schon von Weitem rief er: „Hallo Herr Kleinhans. Hallo.“

Als dieser ihn erkannte, verdrehte er die Augen und wandte sich an seinen Kollegen: „Jochen, geh doch schon mal rein. Ich komm gleich nach. Ich muss hier noch was klären.“ Der Kollege in Zivil tippte sich verstehend mit dem Zeigefinger gegen die Stirn und folgte dem Streifenbeamten in den Tante-Emma-Laden.

In der Zwischenzeit war Will schnaufend angekommen. Während er noch nach Luft schnappte, begrüßte Kleinheinz ihn mit einem gequälten Lächeln: „Hallo Herr Hastenrath. Das hätten Sie aber auch nicht gedacht, dass wir uns so schnell wiedersehen, oder? Geht’s Ihnen gut?“

„Schlechte Leute geht es immer gut“, versuchte Will einen Scherz, während er immer noch Atem schöpfte. Als er bemerkte, dass der Kommissar nicht darauf einstieg, fuhr er seriös fort: „Ja, Herr Kommissar. Ich habe bis zu Ihre Ankunft der Tatort abgeriegelt und die Schaulustigen ferngehalten. Ich würde sagen, wir gehen jetzt mal rein, für uns zu informieren, was genau passiert ist.“

Freundlich, aber bestimmt antwortete Kleinheinz: „Ich gehe jetzt mal rein. Und Sie gehen am besten nach Hause. Sie können hier nichts tun.“

„Ja, aber, Herr Oberkommissar ...“

„Hauptkommissar!“, Kleinheinz’ Augen verengten sich zu Schlitzen. „Tut mir leid, Herr Hastenrath. Es handelt sich um einen polizeilichen Tatort. Ich darf Sie da nicht mit reinnehmen. Schon mal gar nicht, bevor die KTU da war.“

„Wer?“

„Die Spurensicherung. Hören Sie, Herr Hastenrath. Wir haben es hier mit einem Raubüberfall zu tun. Es ist von einer Schusswaffe Gebrauch gemacht worden und es gibt einen Verletzten. Und ich muss jetzt schnell da rein.“

Will war wie betäubt. „Schüsse? Verletzte? Herr Kommissar. Das geht nicht. Sie müssen mir sagen, was los ist. Ich habe als Ortsvorsteher ein Recht dadrauf, etwas zu erfahren. Was meinen Sie, was hier im Dorf los ist, wenn ...“

Der Zivilkollege erschien in der Ladentür und rief: „Peter! Ich glaube, das solltest du dir mal ansehen.“

Kleinheinz wendete sich ab und ging, aber Will blieb dicht hinter ihm. „Herr Kommissar, bitte!“

Kleinheinz blieb abrupt stehen und sah den Landwirt scharf an. „Gut, Herr Hastenrath. Wir machen es folgendermaßen. Ich mache meine Arbeit und Sie gehen nach Hause. Wenn ich hier fertig bin, komme ich zu Ihnen auf den Hof und sage Ihnen alles, was Sie wissen müssen. Okay?“ Will nickte eingeschüchtert.

„Ach, und noch was“, fuhr der Kommissar fort. „Nehmen Sie Ihren Feuerwehrfreund Jackels mit, bevor der noch was kaputt macht. Meine Beamten haben die Lage auch so im Griff.“ Er deutete auf den Löschmeister, der sich gerade bei dem Versuch, noch mehr Flatterband zu spannen, verhedderte.

„Aber Herr Kleinheinz. Das ist eine freiwillige, ehrenamtliche Amtshilfe, die der Herr Jackels hier in seine Freizeit anbietet.“

Der Kommissar verschwand wortlos im Laden.

Die Königin der Tulpen

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