Читать книгу Das Schweigen der Kühe - Christian Macharski - Страница 10

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Montag, 5. Mai, 17.25 Uhr

Schwarz und schwer tropfte der frische Filterkaffee in die Glas kanne und verbreitete einen angenehm-würzigen Geruch. Ein will kommener Kontrast zur Duftnote im schlecht be lüfteten Kuhstall, wie Doktor Mauritz erfreut feststellte, als er die Küche der Hastenraths betrat. Er hatte sich noch schnell die Hände gewa schen in dem kleinen, weiß gekachelten Raum neben dem großen Milchtank, in den die Melkmaschinen die frische Milch aus dem Stall über oberirdisch verlegte Hartplastikrohre hineinpumpten. Im Tank wurde die Milch gekühlt und ständig von einem rie sigen Schwenkarm in Bewegung gehalten. Jeden zweiten Tag zu den unterschiedlichsten Zeiten fuhr ein großer Tankwagen mit der Aufschrift „Eifeljuwel“ am Hof der Hastenraths vor. Der Fah rer öffnete eine Klappe an der Hauswand, führte einen großen Schlauch durch ein Loch in der Wand zum Milchsammelbecken und schloss ihn dort an. Nur etwa drei Minuten dauerte es, bis 800 Liter Milch abgepumpt waren. Dann fuhr er weiter.

Als Doktor Mauritz die Küche betrat, hatte Hastenraths Will bereits am großen Eichentisch Platz genommen und rieb sich erwartungsfroh die Hände. Da Doktor Mauritz viele Landwirte regelmäßig besuchte, war ihm der in solchen Küchen typische Stilmix nur allzu vertraut. Es hätte ihn geradezu irritiert, wenn alle Geräte und Schränke in dieser Küche zueinander gepasst hätten. Ein alter Gasherd stand neben einem modernen, schlanken Kühlschrank mit extra großem Tiefkühlfach. Dane ben ein Backofen von AEG, der, seiner Verblendung nach zu urteilen, aus derselben Serie stammte wie ein großer, brauner Vorratsschrank, der auf der anderen Seite des Raumes stand. Die zu dieser Serie gehörige Spüle meinte Doktor Mauritz einmal im Vorraum des Schweinestalls entdeckt zu haben. Will hatte darin damals mit seinen Händen das Schweinefutter an gerührt.

Doktor Mauritz lächelte selig, mochte er doch diese ganz spezielle Gemütlichkeit und natürlich auch die Herzlichkeit, die ihm in Person von Marlene Hastenrath entgegensprang, kaum dass er die Küche betreten hatte. Marlene war die Frau, mit der Will seit fast vierzig Jahren verheiratet war und die einen Großteil der Ländereien mit in die Ehe gebracht hatte. Nun wischte sie ihre Hände an ihrem geblümten Arbeitskittel ab und begrüßte den Doktor mit aufrichtiger Freude.

„Guten Morgen, Herr Doktor. Wie geht es Ihnen und unsere Kühe?“

„Guten Morgen, Frau Hastenrath. Mir geht es gut. Den Kühen im Großen und Ganzen auch. Bei zweien habe ich je doch eine akute Mastitis festgestellt. Also eine sehr schmerz hafte Euterentzündung, die wir ...“

Marlene Hastenrath schlug die Hände vors Gesicht und schüttelte besorgt den Kopf. „Mein Gott. Damit ist nicht zu spaßen. Das hatte Schlömer Lisabeth auch schon mal.“

Doktor Mauritz war sprachlos. Sein Mund stand offen und er war außerstande, etwas Sinnvolles zu entgegnen.

Hastenraths Will rief ungerührt vom Küchentisch herüber: „Mastritis, Marlene. Nicht Gastritis. Kommen Sie, Herr Dok tor, setzen Sie sich hier am Tisch.“

Doktor Mauritz ging, immer noch leicht konsterniert, zum Tisch und nahm auf der rustikalen Eckbank Platz. Marlene wendete sich erleichtert ihrer Küchenzeile zu. Während sie den duftenden Kaffee in eine weiße Porzellankanne mit rosa Ornamenten goss, plapperte sie unverdrossen weiter: „Da kenn ich nix von, Herr Doktor. Für mich sind das alles römische Dörfer. Aber das kriegen Sie im Griff, oder?“

Doktor Mauritz nickte: „Gar kein Problem. Ein paar Tage müssen Sie eine Salbe auftragen und dann müsste es den Kühen wieder besser gehen. Sie schreien dann auch bestimmt nachts nicht mehr rum. Sie können also bald wieder gut schlafen, Frau Hastenrath.“

„Ach, Herr Doktor“, Marlene winkte ab, „mich stört das Brüllen nicht. Ich hör es ja sowieso kaum, weil der Will im Nebenzimmer so laut schnarcht.“ Sie nahm die volle Kaffeekanne und kam damit an den Tisch. Sie goss zuerst dem Doktor, dann Will und schließlich sich selbst eine Tasse ein. Die Tassen standen bereits auf dem Tisch und stammten ganz offensichtlich aus einer anderen Produktionsserie als die Kanne, wie Doktor Mauritz schmunzelnd feststellte. Die Kanne stellte Marlene in der Mitte des Tischs ab, genau unter einem entrollten Klebeband, das lang von der Decke herun terhing. Daran klebten Hunderte von Fliegen – die meisten davon tot.

Marlene Hastenrath war eine sehr tüchtige und lebensfrohe Frau. Auf 168 Zentimetern verteilten sich relativ gleichmäßig gut 100 Kilo. Bei ihrer täglichen Arbeit auf dem Hof und im Haushalt trug sie am liebsten praktische Kittel. Zu offiziellen Anlässen jedoch, wie beim sonntäglichen Kirchenbesuch, liebte sie es, sich schick zu machen. Dann trug sie Kleider, Schmuck und sogar Make-up, im Winter elegante Pelzmäntel. Dass ihr Mann Will sie dann immer „Zirkuspferd“ nannte, überhörte sie geflissentlich. Auch wenn Will sich nichts aus Mode machte, so wusste sie genau, dass sie als Frau des Ortsvorstehers, sozusagen als First Lady von Saffelen, auch eine repräsentative Aufgabe wahrzunehmen hatte. Neben ihren verschiedenen Vereinsaktivitäten, wie etwa als Vorsitzende der katholischen Strickfrauen Saffelen, übernahm sie im Ort auch karitative Aufgaben. Sie kümmerte sich beispielsweise ehrenamtlich um die Organisation des Pfarrfestes, das in wenigen Tagen anstand. Der Erlös war für einen guten Zweck bestimmt, für den Kegelausflug der Strickfrauen nach Boppard.

Doktor Mauritz mochte die etwas burschikos anmutende Frau, insbesondere, weil es ihr mit ihrer ruhigen und ausgleich enden, manchmal vielleicht auch naiven Art meistens gelang, Will auf den Boden zurückzuholen, wenn dieser mal wieder übers Ziel hinausgeschossen war. Das einzige Problem war, dass man sich sehr geschickt in ein Gespräch mit Marlene einfädeln musste, um überhaupt selbst zu Wort zu kommen. Diese Kunst hatte Doktor Mauritz in den letzten Jahren perfektioniert. Er nannte sie stolz die „Apropos“-Methode.

Gerade holte Marlene wieder zu einer weitschweifigen Er klä rung zu einigen Umbaumaßnahmen auf dem Hof aus: „Bei der alte Hühnerstall war uns ja wegen die Statistik das Dach eingebrochen. Da hab ich für der Will gesagt ...“

„Apropos Einbruch“, ging Doktor Mauritz prompt dazwi schen, „gibt es eigentlich Neuigkeiten zu dieser unheimli chen Einbruchsserie in Saffelen?“

Die Einbrüche waren in der Tat unheimlich. Nachdem es in den vergangenen Jahrzehnten, abgesehen von ein paar jugendlichen Vandalismus-Aktionen in der Mainacht, in Saffelen so gut wie keine Kriminalität gegeben hatte, war in den letzten beiden Wochen insgesamt viermal gewaltsam in Häuser ein gebrochen worden. Die Polizei vermutete einen Serieneinbrecher, weil jeder Einbruch die gleiche Handschrift trug. Immer kam der Täter durch die Haustür, die er fachmännisch mit einem Dietrich geöffnet hatte.

Wieder war Marlene schneller mit der Antwort: „Ist das nicht schlimm, Herr Doktor? Vor allem bei der Witwe von Gerhard Geiser. Die arme Frau. Da ist ihr Mann gerade mal eine Woche tot, da wird auch noch in der ihr Haus eingebro chen. Bestimmt weil die bei der Beerdigung so einen teuren Pelzmantel anhatte mit so ein umgehängter toter Fuchs. Den hatte die gekauft bei ...“

„Apropos tot. Wer war denn noch mal Gerhard Geiser? Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor.“

„Was? Sie kennen Gerhard Geiser nicht?“ Jetzt hatte Wills Stunde geschlagen. „Gerhard Geiser war der wichtigste Mann, der in Saffelen je gelebt hat. Er ...“

„Jetzt übertreib es nicht schon wieder, Will“, ging Marlene dazwischen. Doch dieses Mal ließ er sich nicht von seiner Frau bremsen.

„Gerhard Geiser war über 45 Jahre lang der Ortsvorsteher von Saffelen und fast genauso lang der erste Vorsitzende von fast alle Vereine in Saffelen, abgesehen von den katholischen Strickfrauen – da war der nur im Aufsichtsrat gewesen. Der Mann war eine Lichtgestalt, eine lebendige Legende. Als er mir vor fünf Jahre das Amt des Ortsvorstehers übertragen hat, da war das eine Ehre für mich. Ein paar Monate vor sein Tod ist er sogar noch zum Ehrenbürger des Kreises gewählt worden. Völlig zu Recht. Ich durfte ihn sogar nach dem Kreishaus hinfahren.“

„Ja ja“, ergänzte Marlene, „weil der vorher sein Führerschein aus Altersgründe abgeben musste. Wissen Sie, Herr Doktor, Gerhard Geiser war zwar ein einflussreicher und geachteter Mann, aber er war auch ein ganz schöner Sturkopf. Der ist das auch schuld mit die Euterentzündung.“

Doktor Mauritz zog die Augenbrauen hoch. Will winkte grimmig ab, sagte aber nichts.

„Der war es nämlich“, fuhr Marlene fort, „der der Will überredet hat, die Melkmaschine umprogrammieren zu lassen, dass die was stärker ist. Der Will hat immer alles gemacht, was der Gerhard gesagt hat. Der hat sogar ein gerahmtes Bild von Gerhard Geiser überm Telefon aufgehängt, das muss man sich mal vorstellen. Aber ich mochte der Gerhard nie so richtig, Herr Doktor. Dafür mag ich dem seine Frau umso lieber. Und die war sehr niedergeschlagen, als der Gerhard vor drei Wochen gestorben ist. Die wollte noch nicht mal meine Kiwi-Jägermeister-Torte ...“

„Apropos niedergeschlagen. Ist nicht bei einem dieser Einbrüche sogar jemand niedergeschlagen worden?“

„Das stimmt, Herr Doktor“, Will nickte ernst, „Eidams Theo hatte der Täter nachts im Flur überrascht und in ein mutiger Zweikampf versucht, dem zu überwältigen. Aber der Einbrecher war stärker und hat dem brutal mit ein schwerer Gegenstand auf der Kopf geschlagen. Das musste mit zwölf Stiche genäht werden. Der hat viel Glück gehabt, hat der Arzt gesagt“, Will war nachdenklich geworden, während er so sprach, „und wenn ich so da drüber überleg. Ich glaube, ich sollte in meiner Funktion als Ortsvorsteher eine ,Aktuelle Stunde‘ in der Gaststätte Harry Aretz einberufen. Und zwar mit sofortiger Wirkung. Für mal zu überlegen, wie wir auf die Einbrüche reagieren können.“

Marlene verschränkte die Arme vor der Brust und verzog verächtlich den Mund: „Pff. Aktuelle Stunde. Dass ich nicht lache. Ihr wollt doch bloß wieder blöde rumquatschen und am Ende seid ihr wieder alle voll wie die Eimer. Aber eins sag ich dir ...“

Doktor Mauritz sah demonstrativ auf die Uhr: „Apropos voll. Mein Terminkalender ist übervoll. Ich muss los.“ Der Doktor bedankte sich für den Kaffee, nahm seine Arzttasche und verabschiedete sich.

Aber Will hörte schon nicht mehr zu. Er überlegte bereits, mit welchen Worten er die „Aktuelle Stunde“ eröffnen würde. Schließlich ging es ja diesmal um ein wirklich wichtiges Thema. Allerdings ahnte Hastenraths Will zu diesem Zeit punkt noch nicht, dass er bereits mitten drin steckte – im größten Kriminalfall, der Saffelen je erschüttert hatte.

Das Schweigen der Kühe

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