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Mittwoch, 7. Mai, 20.08 Uhr

Will hatte seinen Parka ordentlich über den Stuhl gehängt. Er strich sich noch einmal über sein kariertes Hemd, das Marlene ihm zur Feier des Tages aufgebügelt und mit Textil erfrischer besprüht hatte. Alle wichtigen Funktionsträger des Dorfes waren zur ,Aktuellen Stunde‘ im großen Saal der Gaststätte Harry Aretz erschienen und hatten sich unter lautem Gemur mel an dem langen Tisch niedergelassen, den der Wirt extra von der Kegelbahn herüber in den Saal getragen hatte. Will saß am Kopfende und ging noch einmal im Geiste die Begrüßungs sätze durch, die er intensiv vor dem großen Standspiegel in seinem Flur geübt hatte. Er erhob sich langsam und staatsmännisch und nahm den alten, kunstvoll aus edler Mooreiche geschnitzten Richterhammer in die Hand. Diesen Richter ham mer, der eigentlich ein Versteigerungshammer war, hatte er von Gerhard Geiser höchstpersönlich überreicht bekommen, als dieser ihn in einem erhabenen Zeremoniell zu seinem Nachfolger bestimmt hatte. Will rückte kurz den Holzsockel in Position, auf den er in wenigen Augenblicken den Hammer sausen lassen würde, um für Ruhe zu sorgen. Er räusperte sich etwas lauter als nötig und klopfte dreimal kräftig auf den Sockel. Mit leichter Verzögerung kehrte im Saal Ruhe ein. Alle Augen waren nun auf den Ortsvorsteher gerichtet. Will sah bedeutungsschwer von einem zum anderen. Mit wohl ge setzter, knarzend-tiefer Stimme begann er: „In Zeiten wie diesen, meine sehr verehrten ...“

Plötzlich öffnete sich geräuschvoll die Falttür, die den Saal vom Schankraum trennte, und Richard Borowka schob sich umständlich herein, den Kopf rückwärts Richtung Theke gerichtet: „Harry, auf dem Klo sind die Papierhandtücher alle.“ Dann schloss er die Falttür wieder, wischte sich beide Hände an seinen Hosenbeinen ab und durchschritt gemächlich den Saal bis zu seinem Platz. Unterwegs grüßte er mit angedeute tem Kopfnicken die Anwesenden. Sein Platz war zur rechten Seite von Will, da er als Pressewart das Protokoll zu führen hatte. Bevor er Platz nahm, schüttelte er dem leicht verärgerten Will kurz die Hand und ließ sich unter lautem Stöhnen auf seinen Stuhl fallen. Er strich sich durch seine gepflegte Fönfrisur und sagte: „Tschuldigung. Der Auto ist nicht ange sprungen. Musste ich zu Fuß gehen. Seid ihr schon lange dran?“

Will sah missbilligend auf Borowka herunter: „Ich wollte gerade anfangen, Richard. Also, schreib mit. Das ist alles wichtig, was ich jetzt sage.“

Borowka erhob sich noch einmal kurz und zog einen Kugelschreiber der Spar- und Darlehenskasse Saffelen und einen geknickten Spiralblock aus der hinteren Hosentasche. „Kann losgehen.“

Will faltete die Hände vor der Brust, atmete mit großer Geste ein und begann von Neuem: „In Zeiten wie diesen, meine sehr verehrten ...“

Erneut öffnete sich die quietschende Falttür. Herein trat diesmal Maurice Aretz, der Neffe des Kneipenwirts Harry Aretz, der sich als Gelegenheitskellner sein karges Gehalt aufbesserte. Maurice hatte gerade in der Nachbargemeinde Waldfeucht eine Lehre zum Versicherungskaufmann abgeschlossen. Er war eine Art Ziehsohn von Harry Aretz. Hiltrud, Harrys Schwester, hatte Maurice vor mehr als 22 Jahren unehelich im Kreiskrankenhaus zur Welt gebracht. Das alleine war seinerzeit in Saffelen schon ein Skandal gewesen. Dass der mutmaßliche Kindsvater, ein Dachdecker aus Krefeld, sich unmittelbar nach der Niederkunft aus dem Staub gemacht hatte, machte es der alleinerziehenden jungen Mutter erst recht nicht leicht, in der Dorfgemeinschaft Fuß zu fassen. Als Maurice vier Jahre alt war, verließ auch Hiltrud Saffelen in einer Nachtund Nebelaktion für immer und ließ Maurice in der Obhut ihres Bruders zurück. Es hieß, sie würde heute mit einer neuen Familie in Hamburg leben. Genau wissen tat es aber niemand. Und eigentlich wollte es auch niemand wissen – die ganze Geschichte war im Laufe der Jahre zu einem Tabuthema gewor den. Seit jener Zeit vor 18 Jahren hatte sich Harry Aretz seines Neffen angenommen und ihn großgezogen statt eines eigenen Sohnes, den er wegen des frühen Tods seiner Frau nie haben durfte. Maurice hatte seinen Onkel von diesem Kummer abgelenkt. In der Schule zählte er zu den Besten und auch als hoch talentierter Leichtathlet hatte er seinen Verein schon oft bei überregionalen Wettkämpfen vertreten. Er war sogar zwei Jahre lang Zehnkämpfer gewesen und stand kurz vor der Aufnahme in einen Förderkader des Leichtathletik-Verbands Nordrhein, doch dann beendete ein Kreuzbandriss seine junge Karriere. In absehbarer Zeit beabsichtigte er, ins Ausland zu gehen. Deshalb sparte er eisern das Geld, das er sich mit dem Kellnern dazuverdiente.

Etwas unsicher stand Maurice nun im offenen Spalt der Falttür und hielt einen Block und einen Stift in der Hand. Offensichtlich wollte er die Getränkebestellung aufnehmen. „Ach, der Morris“, rief eine Stimme aus der Runde. Alle im Dorf nannten ihn Morris. Die einen, weil es sich besser aussprechen ließ als Maurice, die anderen, weil ihnen gar nicht bewusst war, dass man diesen Namen auch anders ausspre chen konnte.

Borowkas Miene hellte sich auf. Er zupfte Will aufgeregt am Ärmel und rief: „Ich würde mal sagen, wir gehen sofort über zu Tagesordnungspunkt eins – Bier- und Schnapsbestellung.“ Lautes Gelächter erfüllte den Saal. Ein aufgeregtes Stim mengewirr entspann sich und Maurice machte sich eifrig Notizen.

Nachdem er den Saal wieder verlassen hatte, wartete Will so geduldig, wie es ihm möglich war, bis wieder Ruhe eingekehrt war. Er räusperte sich noch einmal laut vernehmlich, bevor er erneut ansetzte: „In Zeiten wie diesen, meine sehr verehrten ...“

„Entschuldigung, Herr Hastenrath. Lassen Sie uns doch bitte gleich zum Punkt kommen. Ich muss heute Abend noch einige Diktate durchsehen.“ Die Stimme, die Will nun völlig aus dem Konzept brachte und konsterniert in die Runde blicken ließ, gehörte Peter Haselheim, dem Saffelener Grundschullehrer. Während dieser sich selbstbewusst erhob, ließ sich Will schwer fällig, fast wie in Trance, auf seinen Stuhl zurücksinken. Er sah

Peter Haselheim sprachlos mit großen Augen an.

Peter Haselheim war ein blendend aussehender Mittdreißi ger, der vielen Frauen im Dorf gefallen hätte, wenn er nicht so furchteinflößend intelligent und darüber hinaus verheiratet gewesen wäre. Er verstand es, in Schachtelsätzen zu sprechen, Fremdwörter im richtigen Zusammenhang zu benutzen oder Philosophen zu zitieren, deren Namen nie zuvor ein Saffelener gehört hatte. Keine Frage, Peter Haselheim war zwar vielen unheimlich, doch er genoss einen gewissen Respekt im Dorf, fast so großen wie der Dorf-Apotheker. Also, zumindest so großen Respekt, wie man ihn einem Zugezogenen in Saffelen zubilligte. Und so kam es auch, dass er dem Ortsvorsteher widerspruchslos ins Wort fallen konnte: „Warum sind wir heute hier? Wir sind hier, um zu überlegen, wie man der Einbruchsserie Herr werden kann, respektive, wie man präventiv vorgehen kann, damit so etwas nicht mehr geschieht.“

Die Dorfbewohner sahen einander unsicher an, nickten aber einträchtig.

Peter Haselheim liebte die große Bühne und so schritt er dozierend auf und ab, mal hob er beschwörend den Arm, mal ließ er beiläufig eine Hand in der Tasche verschwinden. Die Saffelener klebten an seinen Lippen – mit Ausnahme von Will und Borowka. Will, weil er beleidigt und Borowka, weil er eingenickt war.

Haselheim war ein Freund von Fragen, die er sich gleich selbst beantwortete: „Warum müssen wir uns selbst helfen? Weil die Polizei nach einem Notruf mindestens 40 Minuten braucht, bis sie Saffelen über die Landstraße erreicht hat. Also müssen wir den Täter auf eigene Faust entlarven. Aber wie macht man das? Ganz einfach: Wir müssen ein Profil des Täters erstellen. Wir müssen dem Täter, wenn noch kein Gesicht, dann zumindest schon mal einen Namen geben. Aber welchen?“

„Er hat doch schon einen Namen: Einbrecher.“ Paul-Heinz Mobers, seines Zeichens pensionierter Baustellenpolier und Saffelens angesehenster Schwarzarbeiter, steckte sich genüsslich eine Zigarre an und blies den Rauch in den Raum. Ein paar der Anwesenden lachten.

Haselheim warf ihm über die Schulter einen verächtlichen Blick zu und fuhr unbeirrt fort: „Woher ich weiß, dass so was nötig ist? Ich habe kürzlich einen spannenden Kriminalroman gelesen: ,Cupido‘ von Jilliane Hoffman.“

Plötzlich beugte sich ein Mann in einer Feuerwehruniform vor. Auf seinem Kopf trug er würdevoll einen fluoreszierenden Feuerwehrhelm mit einem reflektierenden roten Streifen. Bei dem Mann, der einen nervös-unbeholfenen Eindruck machte, handelte es sich um Josef Jackels, den Löschmeister und Spre cher der Freiwilligen Feuerwehr Saffelen. Er war 59 Jahre alt und etwa genauso lange schon der Nachbar und beste Freund von Hastenraths Will. Er war herzensgut, manchmal jedoch von beängstigender Naivität. Dennoch hatte er sich durch seine zahlreichen ehrenamtlichen Tätigkeiten, die vom Würstchen wender beim Pfarrfest bis hin zum Körbchenrundgeber in der Kirche reichten, zu einer Autorität im Dorf entwickelt. Sein Wort wurde gehört, seine Meinung hatte Gewicht. Und so horchte Hastenraths Will interessiert auf, als Josef Jackels das Wort ergriff, hoffte er doch, plötzlich unerwartete Schützenhilfe im Kampf gegen diesen aufgeblasenen Lehrer zu erhalten.

Josef Jackels sah Peter Haselheim mit ernstem Blick an und fragte: „Liliane Hoffmann? Ist das die Tochter von Hoffmanns Leo? Die mit die abstehenden Segelohren, der der Mann laufen gegangen ist?“

Will verdrehte die Augen, während sich Haselheim ein Grinsen nicht verkneifen konnte.

„Nein, Herr Jackels. Jilliane Hoffman ist eine amerikanische Schriftstellerin. Die hat einen Bestseller geschrieben ... also ein berühmtes Buch. Darin geht es um einen Serienmörder und der bekommt von der Presse den Namen ,Cupido‘.“

Josef Jackels stockte kurz, nickte dann wissend, murmelte leise: „Richtig, Cupido“, und lehnte sich wieder zurück in den Schatten seiner Sitznachbarn.

Dafür ergriff Heribert Oellers nun das Wort. Heribert Oellers war eine imposante Erscheinung von massiger Statur mit ständig ölverschmierten Fingernägeln. Er war der gestrenge Inhaber von Autohaus Oellers, dem erfolgreichsten Unternehmen und größten Arbeitgeber von Saffelen. In seiner Firma war fast die gesamte Saffelener Fußballreserve beschäftigt, darunter auch Fredi Jaspers im Büro und Richard Borowka in der Werkstatt. Oellers’ brummige Stimme klang wie ein herannahendes Fliegergeschwader: „Was soll der Quatsch mit das Buch? Und was ist Cupido überhaupt für ein bescheuerter Name?“

Peter Haselheim ärgerte sich über diesen Einwurf, aber er wusste, dass er den einflussreichen Gebrauchtwagenmogul auf seine Seite bringen musste. „Sie haben absolut Recht, Herr Oellers“, er sah dem Autohausbesitzer tief in die Augen, „aber da wir es auch hier mit einem namenlosen Serientäter zu tun haben, wäre es gut, ihm einen Namen zu geben. Sie haben auch Recht, Herr Oellers, wenn Sie sagen, der Name ,Cupido‘ sei nicht mit Bedacht gewählt. Cupido ist, wie wir alle wissen, in der römischen Mythologie der Liebesgott. Entsprechend dem Eros in der griechischen Mythologie.“ Im Saal wechselten unsichere Blicke. Es war mucksmäuschenstill. Nur das schwere, regelmäßige Atmen von Borowka war zu vernehmen. Hasel heim fuhr ungerührt fort: „Angesichts der Gefahrenlage, in der wir uns in Saffelen befinden, halte ich einen anderen Namen für unseren Mann für wesentlich passender. Warum? Weil es der Name des Gottes der Totenwelt ist!“ Haselheim hielt beschwörend beide Arme in die Höhe. Seine Stimmlage wechselte fast unmerklich in einen bedrohlichen Unterton. „Meint er etwa Hades?, werden Sie alle sich fragen. Nein, mir, und ich denke auch Ihnen allen, liegen die alten Römer mehr als die alten Griechen. Deshalb möge unser Einbrecher fortan den Namen PLUTO tragen!“ Seine letzten Worten ließ er lange nachhallen, dann strich er sich mit großer Geste durchs Haar und setzte sich sichtlich zufrieden auf seinen Platz.

Im Saal brachen hitzige Diskussionen aus, an denen sich alle beteiligten. Außer Borowka, der tief und fest schlief und Will, der eingeschnappt vor sich hin stierte und sich die ganze Zeit fragte, warum um alles in der Welt man einen Einbrecher nach einem Schokoriegel benennen sollte.

Das Schweigen der Kühe

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