Читать книгу St. Petersburg. Eine Stadt in Biographien - Christiane Bauermeister - Страница 9
ОглавлениеMICHAIL LOMONOSSOW
1711–1765
Der erste russische Wissenschaftler von Weltruf studierte in Deutschland und eignete sich Kenntnisse an, die ihn für seine Heimat unersetzlich machten.Dafür sind ihm seine Landsleute heute noch dankbar.
Hundsfotte, Speichellecker, Spitzbuben«, so schimpfte er seine deutschen Kollegen. Ausgerechnet er, der junge Wissenschaftler aus dem rückständigen Russland des 18. Jahrhunderts. Konnte er sich das erlauben? Er konnte! Michail Lomonossow war ein Universalgelehrter, in den Wissenschaften ebenso beheimatet wie in den schönen Künsten, der Literatur und der Musik. Er lehrte an der ehrwürdigen St. Petersburger Akademie der Wissenschaften 2 ( ▶ B/C 3), deren Gründung Zar Peter der Große noch kurz vor seinem Tod veranlasst hatte.
Der Zar hatte das ehrgeizige Ziel, das in Wissenschaft und Technik rückständige Russische Reich auf höchstes europäisches Niveau zu führen. Über Fragen von Bildung und Wissenschaft hatte er gar mit Gottfried Wilhelm Leibniz korrespondiert. In ihren Gründungsjahren zählte die Akademie unter ihren Mitgliedern viele Ausländer, vor allem Deutsche. Aber dem russischen Volk war diese Überfremdung suspekt, insbesondere die Deutschen galten als pedantisch und nicht gottesfürchtig. Also konnte das Forschen der Fremden nur ein Werk des Teufels sein. Mit diesem Vorurteil sollte Lomonossow aufräumen. Ein großer Teil seines Lebenswerks bestand darin, Russland den Wissenschaften zu öffnen und russische Studenten zu Forschung und Lehre zu ermutigen. In einer Ode rief er dazu auf, »durch vermehrtes Streben zu zeigen, dass die russländische Erde gebären kann ihre eigenen Platons und ihre vernunftschnellen Newtons«.
Dass er bei seinen Formulierungen nicht zimperlich war, haben ihm seine deutschen Kollegen nicht verübelt, denn sie wussten, dass auch Zar Peter der Große eine direkte Ausdrucksweise bevorzugte. Mit vielen Deutschen war Lomonossow zeitlebens befreundet, so mit dem deutschstämmigen Wissenschaftler Jacob von Stählin, der ihn so charakterisierte: »Physisch: eine auffallende und geradezu athletische Festigkeit und Stärke. Ungestüm: Lebensweise eines einfachen Mannes. Geistig: wissensdurstig, forschend, nach neuen Entdeckungen strebend. Sittlich: ungehobelt, streng zu Untergebenen und Angehörigen. Überlegenheitsdrang, Geringschätzung von Ebenbürtigen.«
Der Dichter Alexander Puschkin hat Lomonossows Wirken auf eine kurze Formel gebracht: »Er ist die erste Universität meines russischen Volkes.« Bei einer Fernsehabstimmung wurde er kürzlich zum bekanntesten Russen gekürt, gefolgt von Alexander Newski und Josef Stalin. Und überall trifft man auf seinen Namen: Lomonossow-Universität, Lomonossow-Porzellanmanufaktur, Lomonossow-Krater, Lomonossow-Computer, Lomonossow-Strom, und auch die Zarenresidenz Oranienbaum bei St. Petersburg trug über Jahrzehnte seinen Namen.
1000-KILOMETER-REISE NACH MOSKAU
Bei Archangelsk im rauen Norden Russlands, wo Leibeigenschaft und Tatarenjoch unbekannt waren, wuchs er in einer Fischerfamilie auf. Michail zeigte sich als wacher, wissbegieriger Bursche. Schon mit fünf Jahren konnte er lesen und schreiben. Mit einem selbst gezimmerten Boot fuhr er zum Fischen aufs Meer. Im Alter von 19 Jahren verließ er sein Dorf. Es zog ihn nach Moskau. Wie er den 1000 Kilometer weiten Weg schaffte, auf langen Fußmärschen oder mit den Karren der Händler, die in Moskau ihre eingesalzenen Fische verkauften, wissen wir nicht. An der Moskauer Slawisch-Griechisch-Lateinischen Akademie gab er sich als Sohn eines Adligen aus Archangelsk aus und wurde deshalb angenommen. Diese Akademie war damals die einzige Hochschule des Russischen Reichs. Er war ein herausragender Student, und 1735 schlug der Rektor seinen Lieblingsschüler als Kandidaten für die Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg vor.
Auf Veranlassung des berühmten deutschen Universalgelehrten Christian Freiherr von Wolff, Ehrenmitglied der Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg, wurde Lomonossow zum Studium nach Deutschland an die Universität Marburg geschickt, die wegen ihrer naturwissenschaftlichen Fakultät überaus bekannt war.
Darüber hinaus zeigte Lomonossow ein ausgeprägtes Interesse an deutscher Literatur und Philosophie. Wolff machte ihn mit der Philosophie der Aufklärung vertraut. Die Liebeslyrik des jungen Barockdichters Johann Christian Günther beeindruckte und begeisterte ihn besonders, denn Lomonossow war unsterblich in die Tochter seiner Wirtin, einer Bierbrauerwitwe, verliebt. In Versen und mit viel »Gemüthe« und »heißen Küssen« himmelte er seine Elisabeth-Christina an und wurde erhört: 1740 heirateten sie und führten eine glückliche Ehe.
Auf Veranlassung seines Gönners und Tutors Christian von Wolff besuchte Lomonossow die Bergakademie Freiberg in Sachsen. Diese galt als das Zentrum des Bergbauwesens. Lomonossow war ein flammender Patriot und eignete sich in nur drei Jahren all das Wissen an, das ihm für den Abbau der gewaltigen, wenig erschlossenen Erzvorkommen Russlands nützlich erschien. Zwar stritt er mit Johann Friedrich Henkel, dem führenden Freiberger Mineralogen, der ihm zu theoretisch und pedantisch war, nahm aber dessen Chemielaboratorium zum Vorbild für sein eigenes, das er an der Akademie in St. Petersburg errichten sollte.
Dorthin kehrte er 1741 zurück. Fünf Jahre hatte er in Deutschland verbracht, jetzt wollte er die neuen Ideen in die Tat umsetzen. St. Petersburg stand in jenen Jahren unter dem Einfluss von Zarin Elisabeth I. Ihrem Hang zu grenzenlosem Luxus sind die schönsten barocken Paläste in St. Petersburg zu verdanken. Dass sie bei deren Bau stets das Staatsbudget überzog, störte sie nicht. Nur für die Akademie hatte sie kein Geld, sodass diese vor sich hin dämmerte. Die konservativen deutschen Mitglieder bekämpften ihre russischen Kollegen. Lomonossow stach in ein Wespennest: Das alles wollte er ändern.
Trotzdem wurde Lomonossow 1745 per Dekret der Zarin zum ordentlichen Professor für Chemie ernannt, auch wenn die Zarin ihn nur als Erfinder und Hersteller von herrlichen Feuerwerkskörpern für ihre rauschenden Hoffeste kannte, bei denen es ihr vor allem der von ihm ausgetüftelte Sternenregen angetan hatte. Als er dann 1749 vor versammelter Professorengemeinde seine »Ode des Lobes an die Zarin Elisabeth« vortrug, hatte er sie endgültig erobert: Mit dem Geld ihres damaligen Favoriten, des Grafen Iwan Schuwalow, machte er sich an die Planung einer neuen Lehranstalt, der Moskauer Universität, die heute seinen Namen trägt. Lomonossow unterrichtete weiter in St. Petersburg. Pädagogik und Didaktik lagen ihm besonders am Herzen. Wie konnte man Wissen systematisch vermitteln? Als Erstes schaffte er die Vorherrschaft des Lateinischen und Deutschen ab. Russische Studenten hörten von jetzt an seine Vorlesungen in ihrer Muttersprache. Und er unterrichtete alles: Rhetorik, russische Geschichte, Chemie und Physik. 1748 gelang es ihm endlich, ein chemisches Labor einzurichten. Dazu wurde ihm ein Gebäude neben der Akademie zur Verfügung gestellt. Die Geräte kamen aus Deutschland, viele davon sind heute im Lomonossow-Museum 17 ( ▶ B/C 3) ausgestellt. Bei seinen chemischen Experimenten entdeckte Lomonossow vormals unbekannte Technologien der Glasherstellung. Er fand eine neue Zusammenstellung für buntes Glas.
Im alten Russland hatte man Heiligenbilder aus Mosaiksteinchen zusammengesetzt, aber die Methoden zur Herstellung der farbigen Steinchen waren über die Jahrhunderte in den Klöstern in Vergessenheit geraten. Von dieser Erfindung war Lomonossow begeistert: Er baute vor den Toren St. Petersburgs bei Oranienbaum, im Dorf Ust-Rudiza, seine eigene kleine Glasfabrik zur Herstellung von Mosaikteilchen. Das Dörfchen mit seinen Leibeigenen hatte ihm die Zarin persönlich zum Geschenk gemacht.
Im 18. Jahrhundert war Oranienbaum als Residenzstädtchen in Mode bei der Petersburger Gesellschaft, denn der spätere Zar Peter III. hielt im ehemaligen Oranienbaumer Menschikow-Palast Hof und vergnügte sich hier mit seinen Soldaten. Lomonossow richtete sich in Ust-Rudiza ein bescheidenes Palais ein, in dem nach seinem Tod die Familie wohnen sollte. Dort gestaltete ein Künstlerkollektiv unter seiner Leitung an die 30 Mosaiken, Porträts von Herrschern und Zeitgenossen, Spiegel, Vasen und Broschen. Höhepunkt war zweifellos das riesige Mosaik »Die Schlacht an der Poltawa. Peter I. besiegt die Schweden«. Es hängt heute über der großen Haupttreppe in der Akademie der Wissenschaften.
EIN GENIE UND ARBEITSTIER, DAS FRÜH STARB
In Form einer erhabenen Ode verfasst er für seinen Gönner Graf Schuwalow einen »Brief über den Nutzen des Glases«:
»Wie falsch, Schuwalow, jene von den Dingen denken,
die Mineralien mehr als Glase Achtung schenken!
Mehr zwar sind sie an zauberischem Glanze reich,
doch ist an Nutzen und Schönheit das Glas ihnen gleich!
Schönes Geschlecht, wenn blitzende Diamanten
Euch als Schmuck umstrahlen,
wallt doppelt ins uns auf die Glut der höchsten Qualen.«
Heute ist nichts mehr von Lomonossows »Imperium« übrig: Die Werkstatt und das kleine Palais in Oranienbaum fielen bereits Anfang der 1820er-Jahre einem Feuer zum Opfer. Das Dorf Ust-Rudiza wurde von der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg völlig zerstört.
Er war Wissenschaftler, Künstler und Dichter zugleich. Seine Leidenschaft galt der russischen Verskunst, deren Versmaß er entgegen den Gesetzen des Altkirchenslawischen revolutionierte. Das Arbeitspensum dieses Mannes ist unvorstellbar, alt wurde er dabei nicht. Lomonossow starb mit 53 Jahren als berühmter Mann an einer chronischen Lungenentzündung in seiner Professorenwohnung am heutigen Lomonossow-Platz 16 ( ▶ F 6). Dort steht am Ende der Rossi-Straße seit Mitte des 19. Jahrhunderts seine Büste. Lomonossow war der erste russische Wissenschaftler von europäischer Bedeutung. Ein Russe, ganz nach dem Herzen von Zar Peter dem Großen. Auf dem Lazarus-Friedhof im Alexander-Newski-Kloster hat er sein Grab gefunden. Man erkennt es sofort am pompösen Gedenkstein aus weißem Marmor.
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN 2 ▶ B 3
Universitetskaja Nab. 5, Wassiljewski-Insel
▶ Metro: Wassileostrowskaja
ALEXANDER-NEWSKI-KLOSTER, LAZARUS-FRIEDHOF
Grab von Michail Lomonossow
Pl. Alexandra Newskowo 58, Zentrum
▶ Metro: Pl. Alexandra Newskowo
LOMONOSSOW-MUSEUM, KUNSTKAMMER 17 ▶ B/C 3
Uniwersitestskaja Nab. 3, Wassiljewski-Insel
▶ Metro: Newski Pr.
LOMONOSSOW-PLATZ MIT BÜSTE 16 ▶ F 6
Pl. Lomonossowa, Zentrum
▶ Metro: Dostojewskaja, Gostiny Dwor