Читать книгу Dita und die 70er - Christiane Kriebel - Страница 8

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Weihnachten 1970

Weihnachten fuhr ich mit Hans zu meinen Eltern. Sein Chef hatte Hans erlaubt, das Betriebsauto zu benutzen. Als wir in den kleinen Ort kamen, standen einige Bewohner schwatzend an der Straßenseite. Sie sahen den dicken Volvo. Als sie mich erkannten, grüßten sie. „Wie die alle kiecken“, wunderte sich Hans und zündete sich eine Westzigarette an, ein Geschenk der Garderobiere aus dem Hotel. Meine Mutter wartete vorm Haus und begrüßte uns herzlich. Sie umarmte mich und dann Hans. Er war darauf nicht gefasst. Meine Schwester stand daneben und grinste. Hans stellte unter Anweisung meines Vaters den großen Wagen in den Innenhof, neben unseren kleinen blauen Trabi. Die Nachbarin beobachtete aus ihrem Fenster das Schauspiel, sie öffnete trotz der Kälte ihr Fenster und kreischte lachend: “Lasst ja für meinen Schlitten auch noch Platz.“ Eine Stunde später schon saß Hans mit meiner Mutter in der Küche und half ihr bei der Zubereitung des Gänsebratens. Er stellte sich geschickt an und sammelte Pluspunkte. Nach dem Essen begleitete Hans meinen Vater in den nahen Wald. Gemeinsam fällten sie ein schönes Bäumchen. Meine Mutter begutachtete das Bäumchen und schien zufrieden. Das erste Mal seit Jahren lobte sie meinen Vater: „So ein schöner Baum.“ Sie war froh, dass mein Vater heil an der Dorfkneipe vorbeigekommen war. Mein Vater zwinkerte Hans zu, denn beide waren auf einen Schnaps in der Dorfkneipe hängen geblieben. Da aber Hans das Bäumchen nachhause trug, konnte mein Vater sich erholen und erschien topfit. Das Baumschmücken dauerte so lange, bis die Flasche Korn ausgetrunken war. Meine Mutter merkte die Bescherung erst, als mein Vater hochrot aus dem Wohnzimmer kam und freudig ein “Fertig“ lallte. Nach der Bescherung spazierten Hans und ich durch den kleinen verträumten Ort. „Ist ja schön hier, hätte ich nicht gedacht.“, sagte er. Dabei zog er an seinen neuen Lederhandschuhen, die ihm meine Mutter geschenkt hatte. Er musste sie weiten, denn sie waren ihm zu eng. Noch immer schien es ihm peinlich zu sein, etwas geschenkt bekommen zu haben. „Der wird ja ganz rot“, hatte mir meine Schwester zugeflüstert, als Hans versuchte die engen Handschuhe über seine breiten Hände zu ziehen.

1971 Frühling

Nach dem strengen Winter kam ein wunderschöner hellgrüner Frühling. An der Spree blitzen die ersten Sonnenstrahlen übers Wasser, die zarten grünen Triebe drängten ans Licht. Die Büsche wurden von den heimkehrenden Vögeln bevölkert. Hans sorgte für mich. Wenn er nicht arbeiten musste, wohnten wir in seinem kleinen Zimmer. Wir gingen essen, ins Kino oder fuhren zu seinen Eltern. Da ich noch keine passende Arbeit gefunden hatte, ließ ich mich mehr und mehr auf Hans ein. Mir gefiel seine zupackende Art. Gemeinsam erkundeten wir Berlin oder lagen Sonntagmorgens im Bett und lasen. Hans las immer wieder in einem Buch mit braunem Ledereinband. Es waren die „Heldensagen“ von Gustav Schwab. Er liebte dieses Buch, das ihm sein Vater kurz vor dem Mauerbau 1961 aus West-Berlin mitgebracht hatte. Und wieder kam so ein Sonntagmorgen, Hans räumte den Frühstückstisch ab, polierte ihn dann, wusch sich danach die Hände und suchte anschließend sein Buch. Ich lag zufrieden in meinem Bett und schlug Wilhelm Raabes „Die Chronik der Sperlingsgasse“ auf. Während Hans schon mit hochrotem Kopf in allen Ecken suchte, las ich genüsslich die Geschichte. Aus den Augenwinkeln sah ich Hans auf mich zukommen. Er beugte sich wie zum Kuss über mich, ich verzog meinen Mund zu einem freudigen erwartungsvollen Lächeln. Seine Hand griff nach meinem Buch, entriss es mir und seine graugrünen Augen blitzten auf. Hans sprang mit zwei Schritten zum Fenster, öffnete es und schmiss „Die Chronik der Sperlingsgasse“ auf die Eichendorffstraße. „Wenn ich nicht lese, hat hier keiner zu lesen!“, schrie er. So kannte ich Hans nicht. Was war los mit ihm? Es gab keinen Grund, das Buch aus dem Fenster zu werfen. Es gehörte nicht mir und außerdem mochte ich es. „Ist gut“, stotterte ich, stand auf und zog mich an. „Nur raus hier“, dachte ich. Hans ging unter die Dusche. Ich suchte indessen sein Buch, fand es bei den Arbeitssocken, legte es auf sein Kopfkissen und schrieb einen Zettel: Viel Spaß beim Lesen. Hans schrubbte sich unter der Dusche und pfiff laut und falsch. Das brachte mich endgültig auf die Palme. Wie konnte ein Mensch am Sonntagmorgen so laut falsch pfeifen? Das beleidigte meine Ohren. Ich schloss die Badtür und verließ sein Zimmer. Ich stieg die gebohnerten Treppen hinunter, durchschritt einen langen dunklen Flur, öffnete die große schwere Eingangstür und trat in gleißendes Licht. Auf die Eichendorffstraße segelten kleine Aprilflocken, die nahe Golgathakirche rief ihre Gläubigen zur sonntäglichen Morgenandacht. Die Turmuhr schlug 10 Mal. Hundebesitzer zogen ihre Tiere übers Kopfsteinpflaster. Ein kleiner brauner Dackel trug stolz meine „Chronik der Sperlingsgasse“ in der Schnauze. Sein Herrchen kannte ich vom Sehen. Er besaß einen kleinen Friseursalon. „Tag, Freddy“, grüßte ihn eine alte Frau, die von ihrer Bulldogge an uns vorübergezogen wurde. „Morgen, Oma Thielecke“, grüßte Freddy freundlich zurück. Dann widmete er sich wieder seinem Hund: „Da wird sich Frauchen aber freuen, dass wir ihr ein so schönes Buch mitbringen. Gib Herrchen den Schmöker.“ Doch Waldi behielt seine Beute in der Schnauze und zog sein Herrchen zur nächsten Eiche. Ich ging weiter. Ich wollte den stolzen Hundebesitzer wegen des Buches nicht ansprechen. Ich würde Frau Seipel ein neues Buch kaufen müssen, denn sie hatte es mir nur geliehen. Doch ich hatte dafür kein Geld. Ich musste mir endlich eine Arbeit suchen, anders ging es jetzt nicht mehr. Lange genug lag ich Hans schon auf der Tasche. Am Himmel tummelte sich kein einziges Wölkchen und für einen Frühlings- sonntagmorgen war es schon zu heiß. Hinter mir hörte ich eilige Schritte. Ich kannte diesen Schritt und kannte dieses Parfüm. Ich hielt mein Bündel fest umklammert, „Warte doch mal!“ Ich liebte den Sonntagmorgen, aber nicht diese aufbrausende Art von Hans. Ich lief weiter. Hans rief: „Tut mir leid!“ Auf einmal schrie er auf. „Was ist das?“ Ich blieb stehen und drehte mich um. Hans hatte Friseur Freddy erreicht und starrte den Dackel an. „Was hat denn Waldi im Maul, das ist doch das Buch von meiner Frau!“ Hans zeigte auf mich: „Wie kommt denn deine Töle zu unserem Buch?“ Während Hans zum zweiten Mal an diesem Morgen ausrastete, lief ich auf die kleine Gruppe zu. Hans riss dem Hund das Buch aus der Schnauze. Mein geliebtes Buch sah nun wie ein gerupfter Sperling aus. Hans hielt seine Beute stolz in der Hand und überreichte sie mir. Freddy murrte: „Kann doch keiner wissen, dass ihr eure Bücher auf der Straße liegen habt.“ „Nichts für ungut, morgen nach Feierabend kannste mir die Haare stutzen.“ Freddy drehte sich wortlos um, nickte zufrieden und bog in die Schröderstraße ein. Nur Waldi kläffte verächtlich und pinkelte an den Laternenpfahl. Hans stand neben mir und lächelte geheimnisvoll. „Ich habe eine Überraschung für dich“, flüsterte er. Erwartungsvoll sah er mich an. „Na, willst du nicht wissen, was es ist?“, fragte er. Ich schüttelte den Kopf. „Schmeiß den alten Schinken weg, ich kauf dir ein neues“, schlug er vor. „Es gehört Frau Seipel. Es ist eine Ausgabe von 1910. Sie hängt so an dem Buch “, sagte ich und ging weiter. „Ich fahre jetzt zu ihr.“ „Wenn du jetzt fährst, kommst du nicht wieder“, sagte Hans und hielt mich sanft am Arm fest. „Komm“, bat er mich, „ich will dir was zeigen. Hat etwas mit deinem Buch zu tun.“ Seine Beharrlichkeit gefiel mir und meine Neugier siegte. Wir spazierten zum Monbijou Park, liefen eine halbe Stunde, vorbei am alten Nikolaiviertel bis zur Brüderstraße. Wir liefen durch die verträumt anmutende Straße, bis wir zu einem kleinen Gässchen kamen. „Da hast Du deine Sperlingsgasse“, sagte Hans stolz und zeigte auf das alte Straßenschild am Eingang der Gasse. „Hier hat er also gewohnt, der alte Privatgelehrte Wachholder“, sagte ich zu Hans, der andächtig dastand und den engen Durchgang betrachtete, der sich Gasse nannte und zur Spree führte. Im Geiste sah ich den grauhaarigen Greis aus dem Fenster eines Patrizierhauses schauen. Er war aus Ulfelden, der Stadt seiner Kindheit nach Berlin gekommen. Die Sperlingsgasse, die Wacholder beschreibt, war klein, doch sie war seine Bühne, mit seinen Darstellern, und für ihn bedeutete sie die Welt. Welche Menschen werden auf meiner Bühne stehen, überlegte ich. Werde ich sie mit genauso viel Liebe betrachten, wie es Wacholder tat? fragte ich mich, während ich wie im Traum durch die enge Gasse wanderte.

„Ist das öde hier?“, sagte Hans enttäuscht. „Vorne am Mühlendamm befindet sich die Plätt- und Wäscheanstalt und eine Destillerie.“ „Was erzählst du da?“, fragte Hans. „Ich sehe nur einen blöden Plattenbau.“ „Die Häuser der Sperlingsgasse wurden in den 60-iger Jahren abgerissen“, sagte ich. „Dachte schon, du kannst in die Vergangenheit sehen“, spöttelte Hans und zündete sich eine Zigarette an. „Ich hab bei Frau Seipel eine Postkarte von der Sperlingsgasse gesehen, so wie sie damals aussah.“ „Ach so“, sagte Hans, zog an seiner Zigarette und lief die Brüderstraße entlang bis zur Ecke. Ich folgte ihm, war aber weiterhin bei dem alten Wachholder und seinem Ziehkind, das damals die ganze Gasse unterhielt. In der Brüderstraße schreckte ich jäh aus meinen Gedanken auf. Ein kleines Mädchen fuhr heftig klingelnd auf mich zu, Hans zog mich zur Seite und als ich aufblickte, sah ich in die Auslagen eines Jugendkaufhauses. „Mode für die junge Braut“ las ich in großen Lettern. Die Mode gefiel mir nicht. Schleier, lange duftige Kleider, Tüll und Spitzen fand ich zu aufwendig, und ans Heiraten dachte ich nicht einmal im Traum. Ich wollte immer noch Regisseurin werden. Hans ging an dem Hochzeitsausstatter desinteressiert vorüber. Gutgelaunt steuerte er zur „Letzten Instanz“. „Nach der kulturellen Exkursion hab ich mir ein Bier verdient“, stellte er zufrieden fest und legte den Arm um mich. Das wunderschöne und älteste Restaurant von Berlin befand sich in der Waisenstraße. Sein Ursprung reicht in das Jahr 1621 zurück, als ein ehemaliger Reitknecht des Kurfürsten hier eine Branntweinstube eröffnete, hatte ich gelesen. Bis zur vorletzten Jahrhundertwende war die Gaststätte noch unter dem Namen „Biedermeier- stübchen am Glockenspiel“ bekannt. Die Änderung des Namens in „Letzte Instanz“ soll auch mit dem Bau des Gerichtsgebäudes in der Littenstraße in Zusammenhang stehen. „Es heißt, dass hier auch dein Wilhelm Raabe zu Gast war“, sagte Hans, als ich andächtig vor dem Lokal stand. Wir setzten uns in den gemütlichen Biergarten und bestellten Berliner Weiße. Die Frühlingssonne schien auf das alte Haus und in einigen Sequenzen sah ich gedanklich Wilhelm Raabe am Tisch sitzen, wie er Metzgern, die in die Waisenstraße ihr Schlachtvieh brachten und das Fleisch frisch verkauften, aufs Maul schaute. „Früher hieß die Straße Bullenwinkel. Hat mir meine Urgroßmutter erzählt. Sie wohnte hier ganz in der Nähe. Aber ihr altes Viertel haben sie abgerissen.“ „Die Bonzen machen alles platt“, sagte er ärgerlich. „Ein Glück, dass die Kneipe noch steht“, bemerkte Hans beseelt.

Dita und die 70er

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