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3 Auf dem Wasser gehen

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Der Platz, an den Gott dich ruft,

ist dort, wo deine tiefste Beglückung

und der ungestillte Hunger der Welt

aufeinandertreffen.

Frederick Buechner

Ich lachte. Es hat ganz tief in mir begonnen und perlte nun geradezu von meinen Lippen. Jedes Mal, wenn ich nach oben flog, brach neue Freude sich überschwänglich Bahn. Ich flog durch die Luft, mein langes Haar tanzte gemeinsam mit den flatternden Rockschößen meines weißen Kleides. Höher und höher schaukelte ich unter dem grünen Blätterdom, durch den flirrend die Sonne schien. Es war einfach herrlich.

„Shaya!“

Abrupt wurde mein Schaukeln unterbrochen. „Kleine Shaya, wach auf!“ Unbarmherzig landete ich auf dem Boden.

Mühsam versuchte ich, meine Augen aufzumachen. Vom Flur drang ein schmaler Lichtstreifen ins Zimmer, meine Mutter stand groß und dunkel in der Tür. „Shaya, beeile dich, steh rasch auf und wasche dich. In fünf Minuten gehen wir.“

Sobald meine Mutter wieder verschwunden war, fielen mir die Augen erneut zu. Wieder befand ich mich unter dem zartgrünen Blätterdach. Doch eine Wolke hatte sich halb vor die Sonne geschoben. Die Schaukel, auf der ich eben noch gesessen hatte, schwang einsam aus.

„Shaya, wenn du nicht gewaschen bist, kannst du nicht zu Gott kommen. So schmutzig, wie du bist, darf man das Haus Gottes nicht betreten.“

Suchend drehte ich meine Hände hin und her. Jetzt war ich hellwach. Schmutz konnte ich keinen entdecken. Rasch schlüpfte ich in meine Pantoffeln und ging in den Flur. „Der Allmächtige sieht alles, geh und wasch dich!“

Meine Mutter schob mich ins Badezimmer und wusch meine Fingerchen. Es war vier Uhr in der Frühe, und ich war eben fünf Jahre alt geworden.

Ich hörte die Stimme meines Vaters von seinem Bett her: „Frau, lass doch die Kinder schlafen. Was soll das, in ihrem Alter schon Fasten und Beten?! Das ist doch ungesund. Sie brauchen ihren Schlaf!“

Meine Mutter hörte nicht auf ihn. Sie sorgte dafür, dass meine vier Geschwister und ich pünktlich beim Beten waren. Sie schien einen Schwur geleistet zu haben, mit allen Mitteln eine gute und Gott wohlgefällige Mutter zu sein. Das sah sie als ihre heilige Pflicht.

An Mutter sah ich schon als Kleinkind, was eine Frau zu tun und zu lassen hatte. Viel zu schnell verlangte sie dieses Betragen auch von mir, und ich konnte kein unbeschwerter Wildfang mehr sein, wie mich mein Vater manchmal zärtlich nannte. An meinem neunten Geburtstag legte meine Mutter mir einen nachtblauen Schal um die Schultern und zog ihn über mein Haar. „Wie gefällt dir diese Farbe, Shaya?“

Zaghaft nickte ich und starrte mein Spiegelbild an. Das sollte ich sein? Nun durften mich, außer meinem Vater und meinen Brüdern, keine Männer mehr ohne den Hijab sehen. Doch manchmal passierte es einfach trotzdem. Oft, wenn ich mit meinen großen Brüdern übermütig durchs Haus tollte, tauchte etwa unerwartet mein Onkel bei uns auf und brachte meine Cousins zum Spielen vorbei. Dann musste ich ab jetzt mein Haar bedecken und das sittsame Mädchen sein, was so gar nicht zu mir passen wollte.

„La ilaha illa Allah – Es gibt keinen Gott außer Allah!“ Wir beugten uns im Rhythmus der Verse, gemeinsam intonierten wir die „shahada“. Ich lag auf den Knien, gleich neben mir meine Schwester. Fünfmal am Tag sprachen wir mit den anderen Frauen im Gebetshaus das Glaubensbekenntnis. Wir beteten nicht nur pflichtgetreu, sondern fasteten auch und spendeten Geld für die Armen. Erfuhr ich von einem religiösen Programm, war ich garantiert dabei. Ich wünschte mir von Herzen, Gott zu gefallen und rechtschaffen zu sein. Außerdem sollte jeder, der mich kannte, gut von mir denken. Ich war eine gerechte junge Frau, an der selbst Gott nichts auszusetzen haben konnte.

Gott verlangte wirklich viel von mir, und meine Mutter hatte sich zu seinem Sprachrohr gemacht. Weinend lag ich auf meinem Bett, meine Schwester massierte mir den Rücken. „Schh, schh, Shaya, ist ja gut, ist ja gut.“

„Fatima, was ist mit meinen Träumen? Jahrelang habe ich mir ausgemalt, Stewardess zu werden. Ich wollte Sprachen lernen, um die ganze Welt reisen! Und nun will Mutter, dass ich heirate!“

„Wende dich an Vater, er wird ein gutes Wort für dich einlegen!“

„In diesen Dingen hat Mutter das letzte Wort, das weißt du. Sie sagt, es gehöre sich nicht, ein Mädchen in meinem Alter allein auf der Straße …“ Ich schniefte. „Mutter sagt, es sei höchste Zeit, dass ein Mann auf mich aufpasst.“

In mir wirbelte alles durcheinander. Ich war 17 Jahre alt, und der Mann, den Mutter ausgesucht hatte, war furchtbar alt, 31! Das hieß, ich musste vor dem Schulabschluss die Schule abbrechen und zu seiner Familie ziehen. Ich kannte diese Menschen nicht, ich hatte sie höchstens einmal von Weitem in der Moschee gesehen. Das durfte einfach nicht wahr sein! Innerlich sträubte sich alles gegen diesen Gedanken.

Es schrie unaufhörlich. Unbeholfen trug ich mein Baby auf und ab. Sang ein wenig, gab ihm die Brust, zeigte ihm Bilder und sprach auf es ein. Ich spielte damit, wie mit einer Puppe. Es beruhigte sich einfach nicht.

Mein Leben als Frau und neuerdings als Mutter war ein Albtraum, dem ich einfach nicht entrinnen konnte.

Ich starrte das Baby an, dies war mein Sohn! Ich musste ihn versorgen, stillen, Windeln wechseln, in den Schlaf wiegen – wie sollte das bloß gehen? Vom Sofa aus beobachtete mich meine Schwiegermutter. Sicher hatte sie gleich wieder etwas an mir auszusetzen. Seit ich in dieses Haus gekommen war, bestimmte sie oder ihre Töchter, was ich zu tun und zu lassen hatte. Nicht einmal zum Beten in die Moschee konnte ich mehr gehen. Darauf legte hier keiner wert, mein Mann schon gar nicht.

Es war einfach alles anders, als ich es von zu Hause gewohnt war.

Wie ich vermutet hatte, war mein Vater zwar gegen diese frühe Heirat gewesen, aber hatte sich nicht gegen meine Mutter durchsetzen können. Sie war der Auffassung, eine fromme Frau habe früh zu heiraten, Kinder zu bekommen und ihren Mann zu ehren und zu versorgen. Da ich ein Gott wohlgefälliges Leben führen wollte, willigte ich ein, wenn auch sehr widerstrebend. Als ich mich Mutter gegenüber beklagte, machte sie mir sehr deutlich klar, dass ich an Scheidung und Rückkehr nach Hause nicht zu denken brauchte.

Daher klammerte ich mich an meinen Glauben, las fromme Bücher und betete nun zu Hause alleine fünfmal am Tag. Es war der einzige Halt, den ich hatte. Meinem Mann, ich nannte ihn heimlich „den Alten“, lag wenig an Religion. Ich sehnte mich danach, meine Gedanken und mein Leben mit ihm zu teilen. Doch wir hatten nichts gemeinsam. Ich wünschte, wir könnten unsere Sorgen miteinander teilen. Doch er interessierte sich nicht für mich. Was er tat und wohin er ging, davon erfuhr ich nur selten etwas.

Dann glaubte ich, es würde alles anders. „Shaya, ich muss mit dir reden!“

Ich war aufgeregt. Endlich besprach der Alte einmal etwas nur mit mir alleine und nicht im Beisein seiner Mutter und Brüder. Wie oft hatte ich ihn darum gebeten.

„Shaya, ich habe alles verkauft. Dieses Land nimmt mir die Luft zum Atmen. All unser Geld habe ich einem Mann gegeben, der uns in die Türkei bringen wird.“ Er sah mich durchdringend an. „Dort werden wir uns ein völlig neues Leben aufbauen. Unsere Kinder werden eine Zukunft haben. Pack das Nötige ein, morgen früh um fünf Uhr geht es los.“

Ein flüchtiger Kuss, schon fiel die Tür hinter ihm ins Schloss. Hektisch fing ich an zu packen, innerlich wie versteinert. Alles in mir schrie: Bin ich denn kein Mensch? Warum befiehlt er mir einfach nur, was ich zu tun habe? Nie werde ich nach meinen Wünschen gefragt, nie habe ich auch nur irgendetwas zu sagen. Bin ich denn eine Marionette, die einfach perfekt zu funktionieren hat?

Etwas in mir war zerbrochen.

Mir war speiübel. In jeder anderen Situation hätte ich diesen Tag genossen. Blauer Himmel, weißer Sandstrand, lustige Schaumkronen auf den heranrollenden Wellen. Meer bis zum Horizont. Aber nicht heute.

Fest hielt ich meine beiden Kinder umklammert. Wir waren nicht im Urlaub. Wir waren auf der Flucht, illegal.

Der schmale Kutter war überfüllt mit Menschen. Dicht an dicht saßen wir auf schmalen Holzbänken, manche neben Beuteln, Säcken und Koffern auf dem Boden. Für die Wenigsten hatte der Kapitän eine Rettungsweste gehabt. Ich war wütend und hatte Angst. Aufgebracht starrte ich den Rücken meines Mannes an. Was würde mir die Ehe mit diesem Mann noch alles aufzwingen?

Jäh schreckte ich aus meinen heillosen Gedanken auf. „Mama, was ist das für ein Schiff?“ Wo? Suchend sah ich mich um. Vergaß für einen Augenblick meinen Frust. In rasender Geschwindigkeit näherte sich ein Boot. Schon schallte durchdringend eine Sirene über die dunklen Wellen. Die Männer sprangen auf, wild gestikulierend riefen sie unserem Kapitän zu, er solle Gas geben, irgendetwas tun. Doch es war natürlich aussichtslos. Die türkische Küstenwache hatte uns entdeckt und zwang uns, umzudrehen. Der unergründliche Blick meines Mannes traf mich. Seine Pläne waren buchstäblich ins Wasser gefallen.

War das die Strafe Gottes? Er sah alles, ganz sicher auch mein von Hass erfülltes, wütendes Herz.

Noch immer war ich jeden Morgen aufgeregt wie ein kleines Kind. Ich ging arbeiten! Und ich genoss es. Jede Minute. Wenn ich meinen Kundinnen die Haare wusch, diese sorgfältig schnitt und anschließend föhnte. Oder wenn ich Strähnchen färbte und die Damen beriet, die Farbe zu wählen, die ihren Teint vorteilhaft zur Geltung brachte. Ich brachte geschickt ihre Brauen in Form und bot ihnen Schönheitstattoos an. Wer hätte das gedacht? Ich fühlte mich wie der sprichwörtliche Fisch im Wasser.

Durch unsere unüberlegte Flucht waren wir in eine finanzielle Zwangslage gekommen. Mein Mann hatte seinen gesamten Besitz veräußert, um die Schleuser zu bezahlen, doch unsere Flucht war gründlich schiefgegangen. Wir hatten alles verloren und mussten zu Hause wieder ganz von vorne beginnen. Obwohl es sich in den Augen unserer Eltern nicht gehörte, dass eine Frau arbeiten ging, war es nun einfach nicht anders möglich. Wir waren darauf angewiesen, dass ich mitverdiente.

Wenn ich nach der Arbeit im Salon meine Kinder abholte, ging ich mit ihnen auf den Spielplatz. Manchmal kaufte ich ihnen ein Eis oder etwas anderes zum Naschen und spielte mit ihnen. Ein unbeschreibliches Glücksgefühl durchfloss mich. Zum ersten Mal hatte ich selbst verdientes Geld in den Händen, mit dem ich tun und lassen konnte, was ich wollte. Egal, ob meine Mutter oder Gott das für schicklich hielten.

Hatte ich jemals Schmetterlinge im Bauch gespürt? Vermutlich war auch das alles andere als sittsam. Schritt für Schritt war es dem „Alten“ und mir gelungen, uns aus der Misere herauszuarbeiten, und wir waren dabei völlig auf uns allein gestellt gewesen. Anfangs hatte mein Mann mit mir geredet, mich einbezogen in seine Entscheidungen. Doch schon war er immer länger weggeblieben und wieder in sein gewohntes Verhalten zurückgefallen. Ich verdiente inzwischen so gut, dass meine Kinder und ich auch ohne ihn über die Runden kamen. Er behauptete zwar, mich zu lieben, doch ich fühlte nichts als eine graue, kalte Wand, wenn ich an ihn dachte. Vor zwei Jahren hatte ich mich scheiden lassen, es war eine Trennung in gegenseitigem Einvernehmen gewesen.

Mein neuer Kollege war ein ernster, höflicher Mann. Doch wenn sich unsere Blicke trafen, schenkte er mir jedes Mal ein Lächeln, das meine Tage heller machte. In seiner Gegenwart fühlte ich mich wie eine Frau. Begehrenswert, schön und wert, geliebt zu werden. Nie zuvor hatte ich so etwas erlebt. Warum sollte ich die Liebe nicht einfangen, wenn sie sich auf meiner Schwelle niederlassen wollte? Ich sagte Ja, als er mich fragte. Wollte es wagen, meine Geschicke den Händen eines Mannes anzuvertrauen, den ich liebte. Was konnte schon schiefgehen? Schließlich liebte er mich doch.

Shaya, dreh’ den Gashahn auf, dann ist das ganze Elend endlich vorbei. Ich hatte dieses Leben so satt. Nacht für Nacht wälzte ich mich stundenlang in meinem Bett, bevor ich in einen unruhigen Schlaf fiel. Ich verstand mich selbst nicht. Ich hatte den Mann meiner Träume geheiratet. Frey trug mich auf Händen, las mir beinahe jeden Wunsch von den Lippen ab und kümmerte sich rührend um mich. Und trotzdem war ich nicht glücklich. Am Morgen wachte ich übernächtigt auf und schleppte mich kraftlos zur Arbeit. Was war bloß los mit mir? „Gott, ich verstehe das nicht. Ich war unglücklich, weil ich den Alten nicht mochte. Frey liebe ich, und trotzdem habe ich kein Glück. Mein Leben ist ein einziges Chaos. Warum bloß?“

Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?

Ich schreie, aber keine Rettung ist in Sicht,

ich rufe, aber jede Hilfe ist weit entfernt!

Mein Gott! Ich rufe am Tag, doch du antwortest nicht,

ich rufe in der Nacht und komme nicht zur Ruhe.

Psalm 22,2-3 (NGÜ)

Ich begann, geistliche Schriften zu lesen und versuchte, Verse aus dem Koran zu beten, auch wenn ich sie kaum verstand. „Mein Gott, warum hast du mich verlassen? Mein Leben ist dunkel. Gleich einem Abgrund, der mich zu verschlingen droht. Hör mein Schreien und hilf mir …“

Es war zwei Uhr in der Frühe, und ich konnte wieder einmal nicht schlafen. Ich holte mir ein Heft hervor und schrieb die Worte aus dem neu entdeckten Buch ab, um sie auswendig zu lernen: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen? Hilf mir.“

Die Worte sprachen mir direkt aus der Seele. Kannte der Schreiber mich? Ich war verzweifelt. Genau wie die Perlen der Tasbih unaufhörlich durch meine Finger flossen, drehten sich meine Gedanken und fanden keine Ruhe. Ohne meine Gebetskette war ich nirgends mehr anzutreffen.

„Warum hast du mich in diese Lage gebracht, Gott? Warum macht mir mein Stiefsohn Ärger und plagt mich in seiner Eifersucht, bis ich nicht mehr kann? Warum sagt meine Mutter, ich sei selbst schuld? War es nicht sie, die mich damals gegen meinen Willen mit dem Alten verheiratet hat? Warum reicht uns das Geld nicht? Was hat das alles für einen Sinn? Was soll ich bloß tun? Gott! Bitte.“

Der Ärger lauerte mittlerweile in mir wie ein wütender Köter an seiner Kette, der beim geringsten Anlass hervorspringt und sich die Kehle heiser kläffte. Ich war des Lebens so müde.

Trotzdem zwang ich mich, jeden Morgen um fünf Uhr aufzustehen. Bevor ich zum Gebet in die Moschee ging, badete ich, legte Make-up auf und frisierte mich. Dann hüllte ich meine Schönheit sorgfältig in den Hijab.

Selbst Gott will mich nicht so sehen, wie ich bin. Diese Erkenntnis traf mich eines Morgens wie ein Fausthieb direkt ins Gesicht. Ich brach weinend zusammen. Jeden, der mir in die Quere kam, schrie ich wütend an. Mechanisch zwang ich mich weiterzumachen, doch der Hund an der Kette war ein wildes Ungeheuer. Eisern versuchte ich, mich zusammenzureißen, ihn zu bezähmen. Trotzdem gingen mir meine Kinder scheu aus dem Weg.

„Mein Gott, warum hast du mich verlassen? Mein Leben ist dunkel. Gleich einem Abgrund, der mich zu verschlingen droht. Hör mein Schreien und hilf mir …“

Wieder und wieder las ich diese Worte. Sie verschafften mir seltsamen Trost.

Ich bezahlte meine Fahrkarte und ging hoch aufgerichtet durch den Mittelgang. Ich ließ mich auf einem freien Sitzplatz nieder. Bleich und abgemagert starrte mich in den Scheiben des Busses mein Spiegelbild an, während draußen die Landschaft vorbeizog. Wie viele Jahre war es her, dass ich alleine mit dem Bus nach S. gefahren war? Immer noch wunderte ich mich, dass mein Mann mir erlaubt hatte, alleine zu fahren.

Tags zuvor hatte ich meinen Bruder angerufen und ihn gebeten, mir zu helfen. Er holte mich am Bus ab, und zusammen fuhren wir zu seiner Wohnung. Während er seinen Wagen durch den dichten Nachmittagsverkehr lenkte, musterte ich ihn von der Seite. Mein großer Bruder hatte sich verändert. Sein Gesicht war weicher geworden. Er war ein starker Raucher gewesen, hatte ständig zu viel getrunken und eine Menge Probleme gehabt. Doch das war nicht der Grund dafür, dass meine Familie den Kontakt zu ihm abgebrochen hatte. Eines Tages hatte meine Mutter mich angerufen und mir verboten, weiter mit meinem Bruder zu sprechen oder ihn zu besuchen. Er hätte sich von Gott abgewandt und sei Christ geworden, lautete ihre knappe Begründung. Da ich meine eigenen Sorgen hatte, machte ich mir keine weiteren Gedanken darüber. Ich gehorchte Mutter, ohne ihre Argumente infrage zu stellen. Wer sich mit Christen abgab, machte sich unrein. Und zudem könnte ich mich und meine Kinder mit einem christlichen Onkel in Lebensgefahr bringen. Doch nun brauchte ich ihn dringend, es war mir egal, was die Leute dazu sagen würden.

„Lieber Bruder, du bist der Einzige, der den ‚Alten‘ dazu bringen kann, mir Geld zu bezahlen.“

Ich versuchte meinem Bruder zu schmeicheln und lehnte meinen Kopf an seine Schulter. „Es ist ja nicht für mich, sondern für meine Kinder. Mehr will ich gar nicht. Er hat sich seit Jahren nicht um uns gekümmert. Es ist nicht mehr als recht und billig, dass er Unterhalt für sie bezahlt.“

„Lass das Gott in Ordnung bringen.“

Gott? Was für eine seltsame Antwort aus dem Mund meines großen Bruders, dem es doch sonst nie an prahlerischen Worten gemangelt hatte. Schon wieder fühlte ich Ärger in mir aufsteigen.

„Das kann auch Gott nicht in Ordnung bringen.“

Unablässig betete und schrie ich doch schon zu Gott, auch jetzt hatte ich meine Tasbih, die Gebetskette, bei mir und ließ sie pausenlos durch meine Finger gleiten. Ich versuchte dem Allmächtigen zu gefallen, doch das gelang mir ganz offensichtlich nicht. Es schien, als wären Gottes Ohren taub.

Dass er längst unterwegs zu mir war, ahnte ich nicht.

„Es tut mir leid, dass du so traurig bist, Shayah.“ Leila, die Frau meines Bruders, nahm mich bei meiner Ankunft herzlich in ihre Arme und küsste mich. Dann führte sie mich in ihr Wohnzimmer, in dem es nach meinem Lieblingsgericht duftete. Tatsächlich gab es Fisch mit Safranreis! Während wir aßen, berichtete ich den beiden von meinem Leben in I.

Einmal fragte mein Bruder: „Möchtest du mit mir einen Hauskreis besuchen?“ Da ich immer aufgeschlossen für Neues bin und neugierig war, ging ich zusammen mit Leila und meinem Bruder dorthin.

Lieder und Gebete empfangen uns.

„Shaya, heute wirst du an Jesus glauben.“

Lachend wehre ich die Worte des Pastors ab, fühle mich etwas überrumpelt. „Ich bin doch Muslima.“

Obwohl ich noch nie unter Christen gewesen bin, beginne ich mich zu entspannen. Ich bin einfach da und sehe ihnen zu. Die Musik im Fernsehen gefällt mir. Alle singen mit und preisen Gott. Danach beten sie füreinander, so etwas kenne ich überhaupt nicht. Ich überlege: Zu ihnen zu gehören würde bedeuten, von der eigenen Familie verstoßen zu werden, so wie mein Bruder. Hinter vorgehaltener Hand würden die Leute tuscheln: „Shaya ist schmutzig, haltet euch fern von ihr.“

Inzwischen verteilen sich alle im ganzen Raum, stehen oder sitzen in kleinen Gruppen beieinander und unterhalten sich ungezwungen. Wir trinken Tee, und es gibt Obst dazu.

„Heute wirst du deine Knie vor Jesus beugen.“

Warum kann mich dieser Pastor nicht in Ruhe lassen?

„Hey, du kannst mich nicht zwingen.“

„Shaya, probiere es doch mal eine Woche aus, mit Jesus zu leben. Und lade ihn ein, dein Gast zu sein. Wenn du dich gut fühlst, dann gib Jesus dein Leben. Einen Versuch könnte es wert sein, oder?“

Das ist eigentlich keine schlechte Idee. Was habe ich schon zu verlieren? Schließlich wird es niemand merken, ob ich es eine Woche mit Jesus versuche.

„Gerne würden wir für dich beten, Shaya. Möchtest du das?“

Etwas zögerlich nicke ich und knie mich auf dem Fußboden nieder. Neben mir steht Leila, fest hält sie meine Hand. Der Pastor legt mit seiner Hand auch seine Bibel auf meine Schulter. Langsam spreche ich ihm das Gebet nach, das er mir vorbetet. Auf meiner Schulter wird es beinahe unerträglich heiß. Legt Jesus selbst mir gerade die Hand auf? Als der Pastor seine Hand wegnimmt, ist mir alle Last, die ich seit Wochen oder gar Jahren mit mir herumtrage, abgenommen. So gut, so leicht, habe ich mich schon ewig nicht mehr gefühlt.

Die Leichtigkeit fiel auch dann nicht ab, als wir nach Hause fuhren. Beim Abendessen berichteten mir Leila und mein Bruder abwechselnd, was sie mit Jesus erlebt hatten. Wie er ihr Leben lebenswert gemacht hatte.

Ich nahm das Neue Testament, das mir Leila schenkte, mit in mein Zimmer. Es sollte sich dabei um den Teil der Bibel handeln, in dem am meisten über Jesus steht. Und ich begann darin zu lesen. Zufällig stieß ich auf eine Geschichte, in der Jesus über das Wasser geht. Es ist bereits Nacht, und Freunde von Jesus, in diesem Buch werden sie als seine Jünger bezeichnet, haben fürchterliche Angst. Sie dachten, Jesus wäre ein Gespenst.

Irgendwann schlief ich wohl über dem Lesen ein. Zum ersten Mal seit meiner Scheidung, ohne zuvor ein Schlafmittel eingenommen zu haben.

„Shaya, komm.“

Ich stehe am Ufer, Wasser umspült angenehm meine nackten Füße. Aus der Dunkelheit kommt mir ein großer, weiß gekleideter Mann entgegen. Über das Wasser geht er auf mich zu, seine Hand ist freundlich nach mir ausgestreckt. „Komm Shaya, komm. Hab keine Angst.“

Noch zögere ich, doch dann kann ich einfach nicht anders, als ihm entgegenzugehen. Ich gehe auf dem Wasser.

„Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, was für ein Wasser das ist, in das man nicht einsinkt. Ich fühlte mich so wunderbar gut und leicht!“

Aufgeregt erzählte ich Leila am Morgen von meinem Traum.

„In der Bibel hat Jesus seinen Freund Petrus gebeten, über das Wasser zu ihm zu kommen. Sieh her, hier lese ich dir diese Stelle vor:

Das Boot mit den Jüngern war inzwischen weit draußen auf dem See.

Der Wind trieb ihnen die Wellen entgegen und machte ihnen schwer zu schaffen.

Im letzten Viertel der Nacht kam Jesus auf dem Wasser zu ihnen.

Als die Jünger ihn auf dem Wasser gehen sahen, erschraken sie und sagten:

„Ein Gespenst!“, und schrien vor Angst.

Sofort sprach Jesus sie an: „Fasst Mut! Ich bin‘s, fürchtet euch nicht!“

Da sagte Petrus:

„Herr, wenn du es bist, dann befiehl mir, auf dem Wasser zu dir zu kommen!“

„Komm!“, sagte Jesus.

Petrus stieg aus dem Boot, ging über das Wasser und kam zu Jesus.

Als er dann aber die hohen Wellen sah, bekam er Angst. Er begann zu sinken und schrie: „Hilf mir, Herr!“

Sofort streckte Jesus seine Hand aus, fasste Petrus und sagte:

„Du hast zu wenig Vertrauen! Warum hast du gezweifelt?“

Dann stiegen beide ins Boot, und der Wind legte sich.

Matthäus 14,24-32 (Gute Nachricht Bibel)

„Dann war es Jesus, der mich gerufen hat! Ich habe Jesus gesehen!“

Begeistert klatschte ich in die Hände! Jesus sprach zu mir!

Langsam begriff ich, er kümmerte sich tatsächlich um mich. Ich musste meine Sorgen nicht länger alleine tragen! Ausführlich besprach ich in den nächsten vier Tagen alles mit meinem Bruder und meiner Schwägerin. Sie lasen in der Bibel und beteten mit mir. Ich wurde immer ruhiger. Schließlich sah ich mich in der Lage, meinen Ex-Mann anzurufen. Ohne ihm Vorwürfe zu machen, bat ich ihn, Unterhalt für die Kinder zu zahlen. Dann fuhr ich wieder zurück nach Hause.

Und das Unfassbare geschah! Schon wenige Tage später rief mich der „Alte“ an, um mir mitzuteilen, er habe Geld für die Kinder überwiesen.

Ich spürte, wie meine Kinder mich heimlich beobachteten. Frey legte eines Abends seine Arme um mich: „Shaya, was ist mit dir passiert? Du bist so anders! So ruhig und liebevoll zu uns allen. Selbst wenn die Jungen frech sind, reagierst du nicht mehr wütend. Wir kennen dich gar nicht mehr!“ Lachend wirbelte er mich herum: „Die neue Shaya gefällt mir!“

Abends kuschelten meine Kinder plötzlich mit mir. War Frey nicht da, las ich ihnen die Geschichte vor, wie Jesus über das Wasser ging. Ich schloss immer mit den Worten: „Jesus können wir vertrauen, er liebt uns!“

Innerhalb weniger Tage hatte sich mein Leben zum Guten verändert. Ich entschloss mich, den Koran und die anderen religiösen Schriften wegzuwerfen. Stattdessen las ich viele Stunden lang in der Bibel. Ich war unersättlich. Matthäus 6, die Verse 25 und 26 wurden meine Lieblingsstelle:

Deshalb sage ich euch:

Macht euch keine Sorgen um das,

was ihr an Essen und Trinken zum Leben und an Kleidung für euren Körper braucht.

Ist das Leben nicht wichtiger als die Nahrung, und ist der Körper nicht wichtiger als die Kleidung?

Seht euch die Vögel an! Sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln keine Vorräte,

und euer Vater im Himmel ernährt sie doch.

Seid ihr nicht viel mehr wert als sie?

Matthäus 6,25-26 (NGÜ)

Dann kam der Tag der Wahrheit. „Shaya, sag mir die Wahrheit, bist du Christ geworden?“ Ich trug eine Wasserschüssel ins Zimmer und bat Frey, Platz zu nehmen. „Ich habe Jesus erlebt, als ich bei meinem Bruder war. Wir haben gebetet, und Jesus hat mir ein neues, ruhiges Herz gegeben. Das hat mir geholfen, dass ich beim, Alten‘ anrufen konnte und er uns nun unterstützt. Ich muss Jesus einfach folgen. Mein ganzes Leben lang habe ich mich abgemüht, rechtschaffen und rein zu sein. Zu Jesus darf ich aber genau so kommen, wie ich bin, er ist es, der mich rein macht. Er hat mir alles vergeben. Deshalb möchte ich dich auch um Vergebung bitten. Als Zeichen dafür möchte ich dir deine Füße waschen, darf ich?“

Ich sah ihn erwartungsvoll an, mein Herz war mit einer ganz neuen Liebe zu ihm erfüllt.

„Gott sei Dank, dass du nicht mehr im Koran liest und endlich die Gebetskette weggelegt hast. Wie gesagt, du gefällst mir so viel besser.“

Shayas Beziehungen zu ihrem Mann und ihrem Stiefsohn besserten sich nun täglich. Sie gründeten in ihrem Haus einen Hauskreis, zu dem sie Freunde einlud. Bei ihren Treffen mussten sie sehr vorsichtig sein.

Dies ging einige Jahre gut, und auch ihre Tochter fand zum Glauben an Jesus Christus. Darüber war der „Alte“ so erzürnt, dass er die Hausgemeinde ihres Bruders anzeigte.

Frey war außer sich vor Sorge und machte ihr zusätzlich Druck.

Die Adressen aller christlichen Freunde fielen bei einer Razzia in die Hände der Geheimpolizei. Innerhalb weniger Tage musste Shaya mit ihrer Tochter das Land verlassen.

Ich sah gelassen auf das Meer hinaus. Blauer Himmel, weißer Sandstrand, winzige Schaumkronen auf den heranrollenden Wellen, Meer bis zum Horizont. Dieses Bild erinnerte mich an einen Tag vor vielen Jahren, als die Kinder noch klein gewesen waren und der Alte uns gegen unseren Willen hierhergebracht hatte.

Auch dieses Mal waren wir nicht im Urlaub. Erneut waren wir auf der Flucht, illegal. Um mich herum drängten sich Menschen. Ihre Gesichter waren vor Sorge und Angst bleich und verzerrt. Ich kümmerte mich um eine Frau, die alleine mit ihren Kindern die Fahrt über das Mittelmeer unternehmen musste.

„Warum bist du so ruhig?“ Fragend sah mich die Frau an, als wir endlich einen Platz auf dem Boot gefunden hatten. Unablässig murmelte sie: „Allah, hilf uns! Du musst zu Hossein beten, Shaya! Warum hast du keine Angst?“

„Unser Leben und die Überfahrt liegen in Gottes Hand, darum ich habe keine Angst. Ich weiß, Gott ist immer bei uns. Ich habe ihm alle meine Sorgen anvertraut, und nun ist es gut.“

Wir nahmen Kurs auf das offene Meer hinaus. Ich sah zum Himmel und zu den kleinen weißen Wolken hinauf. In meinem Herzen sprach ich mit Jesus. Ich brauchte keine Rituale, keinen Hijab und keine Waschungen mehr, bevor ich zu Gott kommen konnte. Ich durfte in meiner Sprache mit ihm reden und musste keine Worte benutzen, die ich nicht verstand. Direkt und unmittelbar unterhielt ich mich mit ihm, und er hörte mich und sprach auch zu mir. Früher hatten, wie bei der Frau neben mir, immer andere Menschen zwischen mir und Gott gestanden.

Wie oft hatte ich mich bemüht, Gott zu gefallen? Und trotzdem hatte ich mich immer sündig und schmutzig gefühlt und gedacht, er sei sauer auf mich. Also strengte ich mich noch mehr an, ein guter Mensch zu sein. Aber weil ich das nicht geschafft habe, war ich ständig unzufrieden. Jetzt weiß ich, dass Gott mich liebt, wie ich bin, und nicht mehr sauer auf mich ist.

Shaya und ihre Tochter haben die Überfahrt wohlbehütet überstanden. In verschiedenen Flüchtlingslagern und Übergangswohnungen lebt sie bis heute Tür an Tür mit Menschen, die ihren Glauben verachten. Teilt mit ihnen Küche und Badezimmer, und an manchen Tagen überfällt sie die nackte Panik.

„Komm, vertrau mir! Sorge dich nicht!“

Diese Worte Jesu sind es, die sie tagtäglich durchtragen.

Als ein Unbekannter und Namenloser kommt er zu uns, wie er am Gestade des Sees an jene Männer, die nicht wussten, wer er war, herantrat. Er sagt dasselbe Wort: Du aber folge mir nach!

Albert Schweizer, Theologe und Arzt

Es kommt die Zeit, da schicke ich euch eine Hungersnot.

Aber nicht nach Brot werdet ihr hungern und nicht nach Wasser verlangen.

Nein, nach einem Wort von mir werdet ihr euch sehnen!

Dann irren die Menschen ruhelos durchs Land, vom Toten Meer bis zum Mittelmeer, vom Norden bis zum Osten.

Doch ihre Suche wird vergeblich sein:

Ich, der HERR, antworte ihnen nicht.

Auch die schönen Mädchen und die jungen Männer werden an jenem Tag vor Durst zusammenbrechen.

Amos 8,11-13 (HfA)

Jesus findet Muslime

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