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1 Unerwartet

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Im Zwielicht beugt sich Rücken an Rücken auf staubigen Teppichen. Jeden Morgen, solange er zurückdenken kann, weckt ihn der Ruf vom Minarett an der Ecke. Hundertfach ertönen die Gebetsrufe der Muezzine von allen Himmelsrichtungen über der Stadt und mischen sich mit den Geräuschen des neu erwachenden Tages, Hähne, bellende Hunde, ein vorbeiknatterndes Motorrad.

Enat verbeugt sich, im Rhythmus mit seinen Söhnen und den Nachbarn. Er nimmt die Hände an die Ohren und verneigt sich gen Osten. Anschließend knien sie vornübergebeugt, drücken die Stirn auf den Boden und setzen sich wieder auf. Unablässig murmeln alle die vorgeschriebenen Gebete. Eine Wolke der Klage ist es: Allmächtiger! Wo bist du? Hörst du?

Den Allmächtigen in der Gemeinschaft der Gläubigen anzubeten ist ihm zur zweiten Natur geworden. Er ist überzeugt: So gefällt es Gott.

Für Enat ist Gott ein Mysterium, allgegenwärtig und doch weit weg. Äußerlich pflegt er pflichtschuldig die vorgeschriebenen Rituale, während seine Gedanken um das Frühstück kreisen.

Eine halbe Stunde dauert das Zeremoniell, dann klopft er sich den Staub von seinem Boubou und begrüßt Raoul, seinen Freund, während sie unter dem einfachen Grasüberdach hervortreten. Die beiden Tuareg drängen sich durch zwei Dutzend Männer hindurch der Stadt zu. Der Morgen dämmert bereits. Sie sind zufrieden, das Gebet war gut besucht. Immer mehr Männer nehmen diese Pflicht heutzutage wieder ernst.

Die Sonne schiebt sich milchig über die noch schwarze Silhouette der Stadt. Enat und Raoul treiben ihre Esel zum Markt. Raoul hat viel zu erzählen. Von Überfällen Radikaler an der Grenze, dem Dahinschlachten ganzer Dörfer, den Flüchtlingen, die sich in kleinen Booten übers Mittelmeer wagen und dass manche dabei ertrinken. Sein Freund kann etwas lesen und ergattert ab und zu eine Zeitung. Er versorgt Enat jeden Morgen mit Neuigkeiten aus aller Welt. Gestern war er allerdings beim Air Tel Shop, der Besitzer dort hat neuerdings ein Fernsehgerät vor seinem Laden aufgebaut. Schreckliche Bilder hätten sie gezeigt. Enat glaubt das nicht. Gläubige bringen doch keine Gläubigen um!?

Freunde seiner Söhne sind auf dem Weg nach Norden. Tagelang saßen sie beieinander, redeten von nichts anderem als von Europa. Dort soll es Arbeit und eine Zukunft geben. Hier gibt es für die meisten nichts davon. Seine Söhne wären auch gerne dabei. Doch Träume sind teuer. Irgendwie ist Enat auch ein bisschen froh, dass sie ihr Fernweh mit dem Verkaufen von Wasserkanistern an Reisende stillen müssen. Oben in Agadez, am „Tor zur Welt“, wie sie oft mit einem Unterton von Sehnsucht berichten. Sie haben ihr Business und verdienen ihr eigenes Geld, gerade so viel, dass sie ihm nicht auf der Tasche liegen.

Als Enat seinen Esel hoch mit Wüstengras beladen nach Hause führt, sieht er schon von Weitem seine Frau. Ihre gemeinsame Hütte steht in einem schattigen Hof hinter einer hohen Ziegelmauer. Davor arbeitet Aima, von Kunden umringt. Sie hat eine kleine Frühstücksbäckerei: Zwischen drei Steinen rauchen krumme Holzstangen, über dem Feuer brodelt ein Topf mit heißem Fett. Breitbeinig sitzt Aima auf einer umgedrehten Kallebasse und schöpft eben fertig gewordene Hirsebällchen ab. Seine Frau ist fleißig, doch das hätte er nie zugegeben. Das Bargeld verdient sie, aber er ist der Herr im Haus. Stets treibt er sie an, lässt ihr keine Ruhe und passt auf, dass er alles fest im Griff behält. Sie könnte sonst überheblich werden.

Er sieht die Angst in ihren Augenwinkeln, als er mit dem Esel auf sie zukommt. Schnell reicht sie ihm sein Frühstück: ein Baguette, gefüllt mit fetttriefenden Bällchen. Ihm läuft das Wasser im Mund zusammen. Als er danach greift, fallen einige davon in den roten Sand. Aima lacht hart auf und zieht ihr Kopftuch zurecht. „Kannst du nicht besser aufpassen, alter Trottel?“ Er verpasst ihr eine schallende Ohrfeige und wendet sich mürrisch ab. So ist das eben zwischen ihnen.

Enat leckt sich die Finger ab und lässt sich mit überkreuzten Beinen auf einer Matte im Schatten nieder. Daneben stellt er den kleinen Feuerkorb auf und legt ein paar glühende Kohlestückchen hinein. Er fischt nach dem abgestoßenen Teekännchen, das halb vergraben im Sand liegt, und schüttet die alten Teeblätter aus, reibt es ein wenig ab und füllt ein frisches Päckchen Tee in die Kanne. Das Cellophan und die kleine Teeschachtel lässt er einfach fallen, während er das emaillierte Kännchen auf den Kohlen zurechtrückt und ein wenig Wasser zu den Blättern gibt. Während Enat wartet, dass das Wasser zum Sieden kommt, döst er auf seiner Matte. Es ist vergleichsweise still im Hof. Zwei Ziegen rascheln im Müll, sein Esel wiehert und stupst ihn an, er will, dass Enat ihm das Futter ablädt. Doch das hat Zeit. Die Beine langmachen, einen Tee trinken und mit Raoul plaudern, wenn er später vorbeikommt, das geht vor.

Unerwartet schreckt Enat auf, er muss tatsächlich eingenickt sein. Er fühlt ganz deutlich: Er ist nicht allein. Die Hoftür geht auf – ist es Raoul? Nein, es sind viele Männer. Er kann sie zuerst nicht richtig erkennen. Helles, gleißendes Licht bringen sie mit herein, bis in die letzten Winkel seines Hofes und seiner Seele. Der Targi rappelt sich auf. Reibt sich die Augen. Dicht gedrängt stehen groß gewachsene, weiß gekleidete Männer in seinem Hof. Mindestens dreißig oder vierzig an der Zahl, um die Hüfte breite, golden glänzende Gürtel geschlungen. Sie sehen ihn an, als würden sie ihn schon lange kennen, freundlich, und doch setzt Enats Herz einen Augenblick aus. Was wollen diese Krieger von ihm? Er ist nur ein einfacher Mann, vom Krieg und vom Kämpfen weiß er nichts. Außer dass er ständig Händel mit Aima hat. Wo steckt sie bloß, sie müsste die Männer doch auch gesehen haben, als sie an ihr vorbei den Hof betreten haben?! Er muss den Männern Tee anbieten, doch wo ist bloß der Zucker? Als Enat den Mund öffnen will, entsteht zwischen den beeindruckenden Männern eine Gasse.

Und dort steht er. Nie wieder wird er diesen Anblick vergessen. Sein Strahlen übertrifft das seiner Begleiter bei Weitem. Hell, überirdisch weiß, wunderschön. Er strahlt Frieden und Liebe aus – so was … Enat schlägt die Augen nieder. Er schämt sich plötzlich, dass er Aima geärgert hat. Andere hässliche Szenen wollen sich vordrängen.

„Enat, hier iss und trink!“ Er streckt ihm ein Stück Brot hin und einen Becher kühles Wasser.

„Woher kennst du meinen Namen?“ Enat weiß später nicht mehr, ob er es laut gefragt hat. Aber die Antwort hallt noch heute in seinem Herzen: „Ich kenne dich. Du bist mein.“

Er nimmt den Becher und trinkt, als wäre er am Verdursten.

So erklärt er es Raoul, der kurz darauf in den Hof kommt und ihn mit Fragen löchert: „Wer waren all die vielen Männer in deinem Hof? Ich habe sie schon von Weitem gesehen, ihre Köpfe haben ein ganzes Stück über deine Hofmauer geragt.“

Er schildert Raoul jedes Detail. Den Ärger, den er schon wieder mit seiner Frau hatte. Wie ausgelaugt er sich auf einmal fühlte und dass er dachte, der Hass würde ihn noch auffressen. „Raoul, zum ersten Mal fühle ich Frieden in mir. Ich glaube, ich muss Aima sagen, dass ich sie liebe.“ Enat schüttelt den Kopf und kann einfach nicht mehr aufhören zu lächeln.

Raoul reist die Augen auf und zieht den Turban vor sein Gesicht. Er erzählt ihm von einem christlichen Pastor, der jeden Sonntag laute Musik in seinem Hof macht und von Gott spricht. „Besuch ihn, vielleicht kann er dir weiterhelfen.“

So schnell Enat kann, lädt er seinen Esel ab und reitet in die Stadt. Der Esel weiß anscheinend genau, wo der Pastor wohnt. Als er ihn gefunden hat, erklärt Enat ihm aufgeregt, was an diesem Morgen passiert ist: „Jesus hat mich besucht.“

Der Pastor nickt: „Ich war wie du, Enat. Jeden Tag habe ich meine Gebete verrichtet. Ich habe hart gearbeitet und viel Geld verdient, als er mich besucht hat.“ Der Pastor setzt sich mit ihm hin und holt eine Bibel. Und einen Koran. Er bestätigt ihm: Der heilige Mann, der ihn besucht hat, ist Jesus. Und dass Jesus der Immanuel ist. „Gott ist mit uns. Wir sind nicht alleine.“

Sie sprechen über die Suren, die von Jesus reden, und die Bibelstellen, die das bestätigen und Enat noch mehr die Augen öffnen. Er saugt regelrecht in sich auf, was er da hört. Hat er sich jemals schon so lebendig gefühlt, je solch einen Frieden erlebt?

Am Sonntag treibt es ihn in den Gottesdienst. Dort tanzt und singt er mit den Christen. Allen erzählt er von dem außergewöhnlichen Besuch.

Zu Hause kann er nicht mehr aufhören, davon zu sprechen. „Der Allmächtige hat mich besucht! Jesus ist kein toter Prophet, wie sie immer sagen. Er lebt!“ Aima kreischt, als wäre sie verrückt geworden. Zerrt ihn vor den Imam. Sie berufen das Gericht ein. Ihre Fragen prasseln auf ihn nieder. Was faselst du von Jesus? Niemand kann ihn sehen!

„Ich weiß nichts über Jesus, außer, dass ich blind war und nun sehen kann. Mehr weiß ich nicht. Ich war ein Sünder, und er hat mich von meiner Sünde errettet und mich frei gemacht. Er hat mich angesehen und meiner Seele Frieden gegeben.“

Voller Wut gehen sie auf ihn los. Raoul spuckt ihm ins Gesicht: „Du hältst dich wohl für etwas Besseres?“ Aima ruft: „Entweder dieser Jesus oder ich.“

Enat strahlt und grüßt winkend. Unverwandt muss ich ihn ansehen. Ein bisschen, weil er Schuhe trägt, die nicht zueinanderpassen, einen wunderschönen kobaltblauen Turban um den Kopf gewickelt hat und eine Pseudo-Gucci-Sonnenbrille zu einem staubigen Boubou trägt, während er sich mit den anderen Christen im Kreis zur Musik bewegt. Aber es ist sein strahlendes, freundliches Lächeln, das mir nicht mehr aus dem Kopf geht. Obwohl ihn seine Frau und seine Freunde verlassen haben und er bitterarm ist.

Aber: Jesus hat ihn besucht – es scheint, er hat ihn seither nicht mehr verlassen.

So sagt es Enat wenigstens, wenn er sonntags im Gottesdienst ist und die restliche Woche vor dem Haus des Pastors aufpasst, dass keine Diebe einsteigen: Jesus ist der Immanuel.

* nach einer wahren Begebenheit – die Namen wurden zu Enats Sicherheit geändert. Die Himmelskrieger wurden von mehreren Nachbarn gesehen.

Jesus findet Muslime

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