Читать книгу Noras großer Traum / Wind der Traumzeit - Christin Busch - Страница 17

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Den nächsten Tag verbrachten Nora und Martin in der Klinik. Nora freute sich, dass sich die Gelegenheit zu einem Gespräch mit Lisa ergab, als diese eine Dienstpause in der Teeküche des Schwesternzimmers machte. Sie ließ sich auf einen Stuhl fallen, nahm einen Schluck Tee und sah Lisa zu, die den Wasserkessel auf den Herd zurückstellte. Vom ersten Augenblick an hatte ihr die selbstbewusste und doch mitfühlende Art der erfahrenen Krankenschwester gefallen. Nora blätterte in ihrem Notizbuch und wartete darauf, dass Lisa sich zu ihr an den Tisch setzte.

»Lisa, es wäre schön, wenn Sie mir etwas über Ihr Leben erzählen könnten. Wie sind Sie hierher gekommen? War es schon immer Ihr Wunsch, Krankenschwester zu werden?«

Lisa setzte ihre Tasse ab und sah lächelnd aus dem Fenster.

»Nun, meine Eltern führen eine große Schaffarm bei Cunnamulla. Es ist hier meistens so, dass die Kinder, die eine gute Ausbildung erhalten sollen, ab einem gewissen Alter ins Internat kommen. So war es auch bei mir und meinen Geschwistern.« Sie machte eine Pause und rührte nachdenklich die Milch in ihrem Tee um. »Mir ist aber ziemlich schnell klar geworden, dass ich in meinem Leben etwas selbst erreichen wollte. Nichts Großartiges, einfach nur auf eigenen Beinen stehen, und nicht als Tochter der Stanton-Farm darauf zu warten, von irgendeinem aussichtsreichen Farmerssohn geheiratet zu werden.«

Nora hörte ihr gespannt zu.

»Wissen Sie, als ich meine Ausbildung begann, war es hier immer noch so, dass den Töchtern der wohlhabenderen Farmer eine durchaus gehobene Internatszeit zugestanden wurde. Man wollte stolz sein auf die Tochter aus gutem Hause, die sich für Kunst, Musik und Literatur interessierte und sich in der Gesellschaft zu benehmen wusste, die ebenso in Hauswirtschaft glänzte wie beim Tanzen zu gesellschaftlichen Anlässen. Das waren die Frauen, die dieses Land bereicherten.«

Sie sah Nora an, die ihren Tee völlig vergessen hatte.

»Aber mit wem konnten diese Frauen hier über das, was sie interessierte, was sie bewegte, was sie erreichen wollten, sprechen? Diese Töchter heirateten die Söhne von Viehzüchtern und Farmern, die es von klein auf gewohnt waren, sich mit um die Farm und das Vieh zu kümmern. Die Farm der Familie war das Wichtigste, nicht die Welt da draußen, Reisen, Kunst oder Literatur, oder vielleicht die Sichtweise anderer Völker kennen zu lernen.«

Lisa nahm einen Schluck von ihrem Tee. Sie lächelte Nora zu. »Ihr Tee wird ganz kalt.«

Nora schüttelte den Kopf. »Bitte, erzählen Sie weiter.«

Lisas Augen wanderten wieder zum Fenster.

»Ich habe die Enttäuschung, oder sagen wir mal, die Ernüchterung bei einigen meiner Schulfreundinnen erlebt, die diese Söhne geheiratet haben.« Sie beugte sich vor. »Verstehen Sie mich richtig. Es handelte sich in der Regel um sehr nette Männer, hart, aber herzlich, die von früh bis spät schwer arbeiteten, für sich und ihre Familien. Es ist jedoch häufig so gewesen, dass nach der Heirat und der ersten Verliebtheit zwei verschiedene Welten aufeinander trafen, hier die belesene, kultivierte Frau, dort der starke Farmer oder Rodeoheid, dem man von klein auf eingetrichtert hatte, dass es Wichtigeres gebe als Bücher und Benehmen. Also ich jedenfalls hatte keine Lust darauf, mein Leben auf diese Weise auf einer Farm zu verbringen. Das klingt jetzt vielleicht überheblich, aber so ist es nicht gemeint. Für mich stand nach dem Internat fest, dass ich eine Ausbildung zur Krankenschwester machen und eines Tages für den Flying Doctor Service meines Landes arbeiten wollte.«

Nora unterbrach sie mit einem nachdenklichen Blick. »Warum Krankenschwester und nicht selbst Ärztin?«

Lisa lachte. »Sie kennen meine Eltern nicht. Schon die Idee, Krankenschwester zu werden, fanden sie absurd. Ein Medizinstudium hätten sie mir nie ermöglicht. Jedenfalls habe ich mir schon damals gewünscht, an der großen Idee des John Flynn teilzuhaben, den Mantel der Sicherheit, der medizinischen Versorgung, auch über die entlegensten Ecken Australiens zu breiten und dazu beizutragen, den Farmern und ihren Familien ein Überleben im Outback zu ermöglichen. Wissen Sie, dass unser Flying Doctor Service hier in Australien der größte Luftrettungsdienst der Erde ist? Heute verfügt der Service über eine Flotte von vierzig Flugzeugen, die auf neunzehn Stützpunkte über den Kontinent verteilt sind. Insgesamt versorgen wir ein Gebiet von mehr als fünf Millionen Quadratkilometern.« Ihre Augen leuchteten, als sie plötzlich innehielt und sich über die Stirn fuhr. »Meine Güte! Da ist meine Begeisterung mal wieder mit mir durchgegangen. Ich rede und rede.«

Noras Blick verriet gespannte Erwartung. Sie machte sich keine Notizen mehr, sondern hörte einfach nur zu. Sie war sich sicher, später alles aus der Erinnerung heraus notieren zu können.

»Bitte, Lisa, erzählen Sie weiter. Es ist einfach zu interessant. Wie lange dauerte Ihre Ausbildung, und hat es danach gleich beim Royal Flying Doctor Service geklappt?«

Lisa lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und schlug die Beine übereinander.

»Nun, mir standen recht harte Zeiten bevor. Nach der normalen Krankenschwesterausbildung hatte ich noch einige Zusatzausbildungen hinter mich zu bringen. Um hier draußen von Nutzen zu sein, muss eine Schwester Prüfungen zur Hebamme, zur Intensiv-, OP- und Kinderkrankenschwester ablegen und außerdem kardiologische Grundkenntnisse aufweisen können.« Als sie Noras staunenden Blick wahrnahm, erläuterte sie: »Oft müssen wir Einsätze ohne Arzt bewältigen, und da ist es zwingend nötig, auf eine entsprechende Ausbildung zurückgreifen zu können.«

Nora nickte anerkennend. »Was haben denn Ihre Eltern dazu gesagt?«

Lisa grinste. »Erst hat mein Vater getobt und schließlich zähneknirschend resigniert, wohl in der Hoffnung, dass ich es aufgeben würde. Meine Mutter hatte von Anfang an etwas mehr Verständnis für meine Entscheidung, obwohl sie ihr Leben lang einer Meinung mit meinem Vater war.« Sie seufzte, reckte dann aber entschlossen das Kinn. »Was soll’s? Ich habe Glück gehabt, es ist alles gut gegangen, und heute sind sie sicher auch ein wenig stolz auf mich, obwohl sie das nie offen aussprechen würden.«

Gerade als Nora die nächste Frage stellen wollte, steckte Kim Michaels den Kopf durch die Tür der kleinen Teeküche.

»Lisa? Kannst du bitte mal kommen?« Die junge Schwester verdrehte die Augen. »Mrs. Jones meint, ihr Bauchschnitt von vorgestern sei jetzt verheilt und sie müsse dringend nach Hause, weil dort garantiert niemand die Hühner füttert, wenn sie nicht da ist.«

Lachend stand Lisa auf.

»Wie Sie sehen, werde ich gerade gebraucht, um wieder todesmutig ein Menschenleben zu retten. Bis später, Nora.«

Als sie mit schnellen Schritten aus dem Raum verschwand, blickte Nora ihr nach. Völlig in ihre Gedanken vertieft, machte sie sich rasch daran, das von Lisa Erzählte in ihrem Notizbuch festzuhalten. Es fesselte sie ungemein, diese neu gewonnenen persönlichen Informationen zu verarbeiten. Ihre Aufzeichnungen und Beschreibungen über Australien und seine Menschen kamen ihr wie ein Puzzle vor, dem sie nach solchen Gesprächen wie eben mit Lisa einige neue Teile hinzufügen konnte.

Als Lisa abends auf der Veranda saß, die die meisten Häuser hier im Outback umgab, damit man möglichst jederzeit einen Luftzug im Schatten genießen konnte, hing sie selbstvergessen ihren Gedanken nach. Ihre Augen glitten über die gerade besonders schön blühenden Blumenampeln, die von der Verandaüberdachung herabhingen und leicht im Abendwind hin und her schwangen. Sie hatte sie gerade gegossen, und das überschüssige Gießwasser tropfte gleichmäßig auf den Holzboden. Lisa sah nun in die Ferne; die Unterhaltung mit Nora hatte sie nach langer Zeit wieder einmal dazu gebracht, über die Stationen ihres Lebens nachzudenken. Innerlich erstaunt hatte sie zur Kenntnis genommen, wie lange ihre Ausbildungszeiten nun schon zurücklagen, und unwillkürlich wanderte sie in Gedanken ihren Lebensweg noch einmal ab.

Waren sie und Bill nun wirklich schon zweiundzwanzig Jahre miteinander verheiratet? Manchmal konnte sie das einfach nicht glauben, genauso wenig, wie sie es fassen konnte, dass ihre gemeinsamen Söhne schon fast selbstständig waren. Sie lächelte in sich hinein. Im letzten Monat hatte Tim seinen achtzehnten Geburtstag gefeiert und ihnen eröffnet, er wolle Informatik studieren. Lisas Lächeln vertiefte sich, als sie daran dachte, wie entgeistert Bill sie angesehen hatte. Ihrem Mann blieben Computer mit Ausnahme der medizinischen Geräte ein ewiges Geheimnis, das er freiwillig nie würde ergründen wollen. Dennoch hatte er die Fassung bewahrt und tapfer zustimmend genickt. Nach den harten Erfahrungen, die sie beide mit seinen Eltern zu Beginn ihrer Ehe hatten durchmachen müssen, hatten sie sich geschworen, ihren Kindern jeden beruflichen Weg offen zu halten. Und dabei blieben sie. Was hatte Bill noch am selben Abend zu ihr gesagt, als sie allein waren?

»Nein, Lisa, es ist okay. Wenn Tim damit glücklich zu werden glaubt, werde ich nicht versuchen, ihm etwas anderes aufzudrängen.« Schmunzelnd hatte er sich über sie gebeugt und ihr einen Kuss gegeben, bevor er ihr mit einem schelmischen Grinsen in die Augen sah. »Und wenn Steve uns in zwei Jahren mitteilt, dass er gerne Ägyptologie studieren möchte, um später Mumien zu begutachten, werde ich es genauso halten. Sie sollen ihren Beruf frei wählen können, ohne sich Gedanken darüber machen zu müssen, was ihre Eltern wohl von ihnen erwarten. Das, was wir beide mit meinen Eltern erlebt haben, wünsche ich ihnen nicht.«

Unwillkürlich sprangen Lisas Gedanken weiter in die Vergangenheit. Zwei Jahre nach Abschluss ihrer Zusatzausbildungen war sie nach Cameron Downs gekommen, um ihre Stelle als Krankenschwester beim Flying Doctor Service anzutreten. Ein Jahr später war Dr. William Jarrett als Nachfolger des ausscheidenden damaligen Stützpunktleiters und Chefarztes Dr. Stanfield hier angekommen. Hochmotiviert und erstklassig ausgebildet, war der junge Chirurg aus Perth damals selbstbewusst in so ziemlich jeden Fettnapf getreten, der in Cameron Downs erreichbar gewesen war. Aber wenn sie es recht bedachte, war das fast jedem neuen Arzt aus der Stadt hier so ergangen. Die Menschen, die hier lebten, waren schon etwas Besonderes, und man musste sie einfach zu nehmen wissen. Vielleicht sollte man dafür hier geboren sein.

Ziemlich schnell waren sie und Bill einander näher gekommen; er teilte ihre Begeisterung für die Idee des Royal Flying Doctor Service. Über die rein körperliche Anziehungskraft hinaus, die schließlich die meisten jungen Paare erlebten, hatten sie gemeinsame Interessen und Ziele. Sie liebten nicht nur ihre Aufgabe hier, sondern auch das Land und die Leute. Es war, als wären sie füreinander bestimmt, und so hatten sie, schon um dem Klatsch in Cameron Downs einen Riegel vorzuschieben, bald geheiratet. Lisa seufzte, als sie an seine Eltern dachte. Ihre Schwiegereltern hatten es ihr nie leicht gemacht. Bills Vater hatte in Perth eine eigene kleine Privatklinik gehabt und bis zu seinem Ruhestand nie die Hoffnung aufgegeben, sein Sohn werde sein Lebenswerk eines Tages doch noch fortsetzen. Bill jedoch hatten andere Ziele gereizt – er wollte die Idee des Begründers des Royal Flying Doctor Service, John Flynn, weitertragen. Es gefiel ihm, wirklich gebraucht zu werden. Wenn er zu einem Notfall gerufen wurde und aus dem Flugzeug sprang, gab es häufig im Umkreis von hunderten von Kilometern keinen anderen Arzt. Er liebte das immer Neue an seinem Job, das Unvorhersehbare ebenso wie das Vorhersehbare einer Geburt in der Klinik zum Beispiel. Er hätte niemals in diesen Krankenhausmaschinerien glücklich werden können, in denen kaum einer den anderen kannte und wo Patienten Nummern waren oder »der Blinddarm von Zimmer 204« oder »die Galle von Zimmer 306«.

Liebevoll dachte Lisa über ihren Mann nach. Sie war stolz auf ihn und seinen geradlinigen Charakter. Sein Vater, Dr. Victor Jarrett, war davon überzeugt gewesen, dass die Tätigkeit seines Sohnes im Niemandsland nur vorübergehender Art sei, dass er schon noch zur Besinnung kommen würde, wenn er erst feststellte, was er in Perth alles aufgegeben hatte. Als dann aber Monat für Monat verging und Bill schließlich einen festen Vertrag beim hiesigen Ärztedienst unterschrieben hatte, war Dr. Victor Jarrett entsetzt gewesen. In seinen Augen wurde alles, wofür er gelebt und gearbeitet hatte, sein Lebenswerk, von seinem einzigen Sohn, für den er stets alles getan hatte, mit Füßen getreten. Einige Zeit darauf heirateten Lisa und Bill. Aus Enttäuschung über den beruflichen Weg ihres Sohnes waren Victor und Louise Jarrett nicht einmal zur Hochzeit gekommen. Nichts war einfacher gewesen, als ihrer Schwiegertochter die Schuld an dieser ganzen Entwicklung zu geben. Lisa seufzte. Der schlechte Beginn ihres Verhältnisses zu den Schwiegereltern hatte sich in all den vergangenen Jahren fortgesetzt. Bitter dachte sie an die spitzen Bemerkungen, die sie hatte ertragen müssen, als sich in den ersten Jahren ihrer Ehe nicht der erwünschte Nachwuchs einstellte. Sie erinnerte sich mit Schaudern an einen Besuch in Perth, als Bills Mutter beim gemeinsamen Abendessen zu ihrem Sohn sagte: »Bill, ihr seid doch nun schon recht lange verheiratet. Und sicher ist es schön, da draußen auch zusammenzuarbeiten, doch denkt ihr denn gar nicht an Kinder?« Bill hatte sie entgeistert angesehen, aber sie hatte noch vorwurfsvoll hinzugefügt: »Du weißt doch, wie sehr dein Vater und ich uns Enkelkinder wünschen, nicht?«

Dr. Victor Jarrett war unruhig auf seinem Stuhl hin und her gerutscht. Lisa hatte Mühe gehabt, den Bissen, den sie gerade im Mund hatte, hinunterzuwürgen. Nichts, absolut nichts hätte sie sich zu jener Zeit mehr gewünscht als ein Baby von Bill. Jedes Mal, wenn ihre Periode einsetzte, hatte sie das Gefühl, versagt zu haben, als Frau nichts wert zu sein. Als Krankenschwester wusste sie sehr wohl, dass ihre Empfindungen verkehrt waren, weil sie den psychischen Druck, unter den sie sich selbst setzte, nur noch weiter erhöhten, was wiederum die Aussicht auf eine Schwangerschaft verringerte. Aber ihre Sehnsucht nach einem gemeinsamen Kind mit ihrem Mann war offenbar stärker als die Vernunft. Umso mehr traf sie die taktlose Bemerkung ihrer Schwiegermutter, der sie augenscheinlich nie etwas recht machen konnte. Bill hatte peinlich berührt zu ihr herübergesehen und die Verzweiflung in ihren Augen wahrgenommen. Höflich hatte er sich mit der Serviette den Mund abgetupft, und sein Blick war von seinem Vater zu seiner Mutter gewandert.

»Mutter, ich finde wirklich, das ist unsere Sache.« Er hatte sich zu einem schiefen Lächeln gezwungen. »Und wenn es so weit ist, wirst du es sofort erfahren.«

Allein bei der Erinnerung an diese Szene lief es Lisa kalt den Rücken hinunter. Um Verzeihung bittend hatte sein Blick auf ihr geruht, und ihr wollte es einfach nicht gelingen, den Bissen, auf dem sie nun schon so lange herumgekaut hatte, hinunterzuschlucken. Sorgsam darauf bedacht, niemanden anzusehen, hatte sie nach ihrem Wasserglas gegriffen. Louise Jarrett aber schien von alldem nichts zu bemerken. Unbeirrt sah sie ihren Sohn an und fuchtelte lebhaft mit dem Messer herum.

»Aber Bill, ich meine es doch nur gut. Bestimmt erinnerst du dich noch an Emily Fletcher, deine kleine Schulfreundin, nicht?« Sie machte eine Pause, in der es Bill nur mühsam gelang, ruhig zu bleiben, und Lisa geglaubt hatte, an ihrem Schluck Wasser ersticken zu müssen. »Also, vor drei Jahren hat sie Sam Edwards geheiratet, du weißt schon, den Sohn von Senator Edwards. Jedenfalls ist sie gerade zum dritten Mal guter Hoffnung. Sie haben ja bereits zwei so niedliche Kinder. Sams Mutter ist schon ganz aus dem Häuschen vor Freude.«

Lisa erinnerte sich noch genau daran, dass sie ihre Serviette sorgfältig zusammengefaltet und neben ihren Teller gelegt hatte, bevor sie sich, eine Entschuldigung murmelnd, ins Badezimmer zurückgezogen hatte, wo sie sich mühsam atmend gegen die Tür lehnte. Obwohl dieses Erlebnis nun schon so lange zurücklag, konnte sie sich an jede kleinste Einzelheit erinnern. Sie spürte erneut die Wut und Enttäuschung in sich aufsteigen, die sie damals empfunden hatte. In diesem Moment, das wusste sie, hätte sie ihrer Schwiegermutter sehr gerne eine Ohrfeige verpasst, und sei es nur mit ein paar entsprechenden Bemerkungen in verbaler Form. Aber natürlich hatte ihre gute Erziehung dafür gesorgt, dass sie sich – wie immer – höflich dieser Situation entzog und ihren Kummer niemandem zeigte. Als ihr das Geschirrklappern verriet, dass der Tisch abgedeckt wurde, hatte sie sich geräuschvoll die Hände gewaschen und langsam bis zehn zählend kaltes Wasser über die Pulsadern laufen lassen. Als wäre alles in bester Ordnung, war sie zum Dessert wieder an den Tisch zurückgekehrt und mehr als froh darüber gewesen, dass die Unterhaltung nun bei der Klinik ihres Schwiegervaters angelangt war – einem schier unerschöpflichen, jedoch eher unverfänglichen Thema.

Lisa fröstelte. Die Dämmerung hatte eingesetzt, und mit ihr wurde es kühl auf der Veranda. Müde stand sie auf und sah noch einen Moment in die Ferne. Bill hatte Nachtdienst, und so würde sie den heutigen Abend allein verbringen müssen. Langsam wandte sie sich um, um hineinzugehen.

Noras großer Traum / Wind der Traumzeit

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