Читать книгу Seidenkinder - Christina Brudereck - Страница 15

Kapitel 6

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Sie machten sich alle gemeinsam auf den Weg zum Kinderheim. Der Wagen war voll klimatisiert, was die Gäste sehr zu schätzen wussten. Jaya aber sah, dass Raja schon nach ein paar Minuten zu frieren begann. Sie kamen nur sehr langsam vorwärts. Jaya sah aus dem Fenster. Die Straßen, in anderen Ländern den Autos vorbehalten, wurden hier mit allen geteilt und waren voller Menschen. Alte, Erwachsene, Kinder, Babys, Kranke an Krücken. Sandalen, Saris, Turbane. Rufen, Hupen, Winken, Betteln. Mittendrin immer wieder mal eine Kuh. Es roch nach Hitze, nach Schweiß, Knoblauch, reifen Mangos, die am Straßenrand verkauft wurden, frisch geschält. Indien war ein volles Land. Ihr Auto kam immer wieder zum Stehen.

Die Gespräche waren verstummt. Alle sahen jetzt aus dem Fenster und konnten sich nicht losreißen von den vielen Eindrücken. Am Rand der Straße befanden sich kleine Läden, Blechhütten, die vor die Häuserfront gesetzt waren und in denen Lebensmittel verkauft wurden und Drogerieartikel, ein buntes Gemisch aus Bananen, Avocados, Kokosnüssen, Kaugummi, Blumengirlanden, Hautcreme, Zahnpulver, Schuhputzcreme, Bonbons, Kuchen, kleinen Tüten mit Kräutermischungen oder Tabak, Kaffee und Tee. Frisch geschlachtete Hühner hingen an Haken von der Decke eines muslimischen Ladens. Die Gemüsestände führten zurzeit nur Kartoffeln, Mais und Zwiebeln und Gewürze wie Chili, Pfeffer, Ingwer, Koriander und Zimt. Dazwischen fand sich auch der ein oder andere Shop, in dem Videokassetten verkauft wurden, CDs, kleine Radios und Filme für die Kameras der Touristen. Direkt daneben Stoffe und Sandalen. Nur auf dem Bazar und dem Markt ging es noch bunter und hektischer zu.

Raja war der Einzige im Wagen, der nicht aus dem Fenster sah. Sein Blick ging von einem zum anderen und blieb dabei immer wieder an kleinen Details hängen. Interessiert betrachtete er die weißen Ausländer. Die schwarzen festen Schuhe, die auf ihn, der sein Leben lang barfuß gelaufen war, wie Särge für die Füße wirkten. Die Uhr am Arm des einen, von der er nicht so ganz genau wusste, wie man sie entziffern konnte, der aber sogar er ansehen konnte, dass sie viel Geld gekostet haben musste. Die Hosen, die sie trugen, ohne jede Bügelfalte und mit vielen kleinen Taschen besetzt, die ein komisches Geräusch machten, wenn man sie öffnete, wie ein hartes Rascheln. Ihre Haut und die Farbe ihrer Augen, ihrer Wimpern, ihrer Lippen, ihrer Fingerkuppen. Besonders der eine wirkte auf ihn, als sei die Farbe aus ihm ausgelaufen, so hell waren seine Haut und seine Haare. Raja sah sich seine eigenen Hände an, die Innenflächen waren etwas heller, ansonsten war er überall dunkel.

Er sah zu dem Mann hinüber, zu dem Inder, der ihn angesprochen und eingeladen hatte. Er hatte bemerkt, man nannte ihn Jaya, aber er wusste noch nicht, wie er ihn ansprechen sollte. Er war sehr dunkelhäutig, klein und hatte einen Bauch. Er lachte viel, und auch wenn sein Mund einmal nicht lächelte, dann strahlten doch immer noch seine Augen. Er mochte ihn. Er wusste nicht genau, was gerade mit ihm passierte, aber er ahnte, dass dieser Mann ihm Glück brachte.

Er hatte ihn am Morgen gesehen, als er mit den Weißen zusammen in die Kapelle der Klinik kam. Der Andachtsraum, sein Zuhause. Er schlief unter dem großen Tisch, über dem immer eine Decke hing, die bis auf den Boden reichte, sodass niemand sehen konnte, dass sich jemand darunter verbarg. Die Kapelle roch gut und sie war ruhig. Nachts wurde die Tür verschlossen, sodass er sich wirklich sicher wusste, wie in einem eigenen Haus.

Tagsüber sortierte er die kleinen Kerzen in ihren Aluminiumbechern, die man am Eingang der Kapelle kaufen und aufstellen konnte. Die meisten Lichter brannten aus, bevor ihr Wachs ganz verbraucht war, oder wenn er ganz viel Glück hatte, ertrank die Flamme, weil der Docht zu kurz war. Von solchen Kerzen sammelte er das Wachs, goss es, solange es noch flüssig war, in einen der leeren Becher, wartete, bis die Kerzen trocken waren, und verkaufte sie dann. Das war doch eigentlich kein Diebstahl, sagte er sich, sondern eine ganz vernünftige Verwertung von Resten, von dem, was die Schwester, die die Kapelle säuberte, sonst ohnehin nur wegwerfen würde. Er aber konnte sich mit den Kerzen ein bisschen Geld verdienen, meistens gerade genug für einen Tag. So jedenfalls hatte er die letzten Jahre irgendwie überlebt.

Sie hielten an einer Kreuzung an. Ein Polizist regelte den Verkehr und winkte jetzt eifrig, damit sich die Linksabbieger in Bewegung setzten. Er trug ein Tuch vor dem Mund, um sich vor den Abgasen zu schützen, darunter blies er immer wieder in seine Trillerpfeife, die ein schrilles Geräusch von sich gab, aber für so einen Ordnungshüter, eine Staatsautorität, zu sehr an Kindergeburtstag erinnerte. Niemand wollte mit ihm tauschen.

Rechts am Straßenrand - nur die eine Hälfte derer, die im Auto saßen, konnten die Szene sehen, aber die konnten nicht daran vorbeischauen - saß ein Mann, nur mit einem Lunghi bekleidet, der nackte Oberkörper ausgezehrt, man konnte jede einzelne seiner Rippen sehen. In seinem linken Arm hielt er ein ganz junges Baby, auf dessen Augen Fliegen saßen. Der Mann versuchte, die Fliegen mit seiner rechten, freien Hand zu verjagen, aber man sah ihm an, dass seine Muskeln zu müde waren. Die Fliegen hatten mehr Ausdauer als er, er war schwächer. Er wirkte wie betäubt, übermüdet, erschöpft. Hin und wieder hob er seine Hand hoch, mit einer bettelnden Geste, aber niemand legte eine Münze in die offene Handfläche. Dann wieder ging seine Hand zum Gesicht des Babys.

Jaya sah auf die Gesichter seiner Gäste und konnte ihre Fragen dort lesen: Was wird aus den beiden? Wer stirbt zuerst? Wie lange wird der Vater sich noch um sich selbst und das Kind kümmern können? Wo ist die Mutter? Wie viele solcher Menschen gibt es in diesem Land? Wo soll man anfangen? Wie könnte man helfen? Eingreifen in ein Rad aus Armut und Chancenlosigkeit? Den Teufelskreis unterbrechen? Wie? Da fuhr der Wagen an und sie wurden weggebracht von diesem Anblick, einem Augenblick voller Fliegen, die stärker waren als ein Vater.

Der Fahrer lenkte sie sicher und mit viel Hupen durch die Straßen, bis sie in ein Viertel kamen, in dem es ruhiger wurde. Auf der rechten Seite lag das große Gelände der Don-Bosco-Schule. Für die meisten Jungen war der Unterricht zu Ende und man sah jede Menge Kinder, die in unterschiedliche Richtungen auseinandergingen, sich Bälle zuwarfen, um die Wette liefen, sich voneinander verabschiedeten und winkten. Die unterschiedlichen Jahrgänge, je nach Alter und Klasse, waren für jeden an der jeweiligen Farbe des T-Shirts zu erkennen, Rot, Gelb, Blau und Grün, immer mit weißem Kragen, das neben der schwarzen Hose die Schuluniform ausmachte. Jetzt sah auch Raja aus dem Fenster, mit großen, neugierigen und neidischen Augen.

Jaya erklärte an seine Gäste gewandt: „Die meisten unserer Kinder besuchen diese Schule. Sie ist recht groß, aber sehr gut. Die Lehrerinnen und Lehrer sind engagiert, geleitet von der Pädagogik von Don Bosco. Ja, die Schule überzeugt mich. Unsere Kinder lernen gerne und sie bringen gute Ergebnisse mit nach Hause, nicht nur in Mathematik oder Englisch, auch in Sport und Musik. Wenn ich die Entwicklung unserer Kinder betrachte, bin ich froh, so eine renommierte Schule in der Nähe zu haben und sie hierhin schicken zu können.“

Die Gäste nickten und einer, der Lehrer, meinte: „Don Bosco in allen Ehren, aber die Entwicklung der Kinder im Pattu-Heim hat ganz sicher noch viel mehr mit dir zu tun, mit deiner Art, mit der Atmosphäre, die du dort schaffst, mit der Liebe, die du schenkst, du und das ganze Team.“

Jaya hörte die Anerkennung in diesen Worten und bedankte sich auf eine so einfache Art und mit der für Inder typischen kleinen Verbeugung, dass klar war, er würde die Komplimente zulassen, aber niemals irgendeine Form von Verehrung. Das aber schien den Lehrer geradezu herauszufordern, doch noch weiterzureden, und Jaya hörte in seiner Stimme diese Spur von Aggressivität, so typisch für Gäste aus dem Westen. Einer von ihnen, ein Deutscher, hatte ihm einmal erklärt, dass echte Bescheidenheit sie unglaublich provozierte.

Das Gespräch konnte nicht fortgesetzt werden, denn in diesem Moment bogen sie in die Karishma-Straße ein. Sofort öffnete sich das Tor zu Haus Nummer sieben und mehrere Kinder sprangen auf die Straße, um das ankommende Auto zu begrüßen. Jaya wusste, sie waren aufgeregt, sie mochten es, Besuch zu haben, das brachte Abwechslung in ihren Tagesablauf, neue Geschichten, erweiterte ihren Horizont, machte das Leben spannend. Die Jungen öffneten die Türen des Autos und halfen den Gästen, auszusteigen, nahmen ihnen die kleinen Taschen und Rucksäcke ab und begleiteten sie mit ihren fröhlichen Grüßen ins Haus. „Uncle! Uncle!“ Überall waren ihre Stimmen, die Kinder wünschten sich Aufmerksamkeit. Sie holten Stühle und platzierten sie im Eingang, bedeuteten den Gästen, sich zu setzen, und brachten innerhalb kürzester Zeit Tassen, frischen Tee und Kekse. Dann begannen sie, den Gästen ihre Bücher und Schulhefte zu zeigen, und die hatten keine andere Wahl, wurden mitgerissen von ihrem Eifer und fanden sich ein paar Minuten später alle mitten in der konzentrierten Stimmung von Kindern, die tatsächlich gerne ihre Hausaufgaben machten.

Raja war in der Eingangstür stehen geblieben und wartete auf ein Zeichen, wie es weitergehen würde mit ihm. Er beobachtete die anderen Jungen, die ganze Szene. Alles wirkte natürlich und gleichzeitig eingespielt. Er hatte so ein Haus noch nie erlebt. Er konnte nur ahnen, dass es hier bestimmte Spielregeln gab, und er war neugierig, sie kennenzulernen, und fragte sich, ob er sie verstehen und einhalten könnte. Aber weil alle so ausgelassen wirkten, wurde er allmählich ruhiger.

„Raja!“ Die warme Stimme von Jaya riss ihn aus seinen Gedanken und er ging zu ihm, folgte ihm eine Treppe hinauf in die erste Etage in ein Büro. Jaya bot ihm einen Stuhl an, aber bevor sie anfingen, miteinander zu sprechen, kam einer der Jungen mit einem Tablett mit zwei Bechern, einer Teekanne und einem Teller mit Keksen und in Scheiben geschnittenem Apfel. Er stellte das alles auf dem Tisch ab und reichte Raja dann die Hand. „Ich bin Muthu“, sagte er und schenkte ihm ein breites Lächeln. Raja ergriff die Hand und sagte ebenfalls lächelnd: „Ich bin Raja.“

Jaya bedankte sich für den Tee und bat Muthu, später, in einer Stunde etwa, wiederzukommen und Raja dann das Haus zu zeigen. Muthu nickte und verließ das Zimmer. Raja sah ihm hinterher und musste plötzlich ganz unerwartet und heftig weinen. Er kämpfte gar nicht erst gegen die Tränen an, denn er merkte, sie überwältigten ihn. Er fragte sich auch nicht, warum er weinte oder ob er hier überhaupt weinen dürfe, er weinte einfach. Die Traurigkeit war auf einmal so groß, gleichzeitig war es hier endlich möglich, sie loszulassen. Auch Jaya fragte sich nicht, warum der Kleine weinte, es war nicht das erste Mal, dass er genau diese Reaktion erlebte. Er ließ ihn eine Weile für sich, reichte ihm dann die Pappbox mit den Papiertüchern hinüber und berührte ihn dabei kurz am Arm. Raja spürte, dass alles in Ordnung war, putzte sich die Nase und sah Jaya an. Der sagte mit ruhiger Stimme: „Weinen ist nicht schlimm, ist auch nicht peinlich, weinen ist manchmal einfach angemessen.“ Raja nickte, er verstand und er wusste sich verstanden.

Die beiden begannen, sich zu unterhalten. Diesmal aber folgten sie nicht mehr dem Frage-Antwort-Schema wie bei ihrer Unterhaltung im Krankenhaus, sondern Raja erzählte seine Geschichte. Jaya fragte sich wieder, wie viele solcher Gespräche er jetzt im Laufe der Zeit wohl schon geführt hatte? Damals bei der Kindernothilfe hatte er zunächst zugehört, wenn sein Lehrer, sein Mentor Lüder Lürs, mit den Kindern sprach. Er hatte sehr genau beobachtet, sich einiges von ihm abgeschaut und dann gemerkt, dass er selbst eine gute Art hatte, mit den Kindern umzugehen. Ja, es waren viele Kinder, aber von Routine konnte man nicht sprechen, weil sich die Geschichten zwar ähnelten, aber vor allem der Schmerz, den ein Mensch erlebte, immer seinen eigenen Respekt forderte. So sah er Raja an, ein besonderes Kind mit einer eigenen Geschichte.

Er erzählte tapfer, Satz für Satz: Seinen Vater hatte er kaum gekannt, er war die meiste Zeit des Jahres in Sri Lanka, arbeitete dort, trank aber auch sehr viel. Wenn er nach Hause kam, wurde das Leben in der kleinen Hütte anstrengender, er hatte nicht gelernt, sich seinen Kindern zuzuwenden, und auch seiner Frau gegenüber kannte er nur einen kommandierenden Ton. Als er den Unfall und den Tod seines Vaters erwähnte, kam er kurz ins Stocken.

Sie waren von Chennai aus nach Vellore gekommen, denn seine Mutter meinte, hier eine Verwandte, eine ältere Schwester, zu finden. Aber sie konnten diese Frau nicht finden. Als Raja erzählte, dass nur wenige Wochen nach dem Tod seines Vaters auch seine Mutter gestorben war, musste er wieder weinen, berichtete dann aber weiter von den näheren Umständen. Seine Mutter war seit dem Tod des Vaters nicht mehr dieselbe wie vorher, sie war verzweifelt, schlief kaum. Zunächst hatte sie ihre Hoffnung auf ihre Schwester gesetzt und hatte sich mit ihren drei Kindern auf den Weg nach Vellore gemacht, über hundert Kilometer zu Fuß. Als sie hier ankamen und sie sich hatte eingestehen müssen, dass sie seine Tante nicht finden würden und nicht wussten, wohin, war sie irgendwie ganz komisch geworden, wie verrückt, und dann ganz plötzlich schwer krank. Sie hatte sich vor Schmerzen gewunden, irgendwelche Fremden hatten sie ins Krankenhaus gebracht, ins CMC, und man hatte sich um sie gekümmert, aber nichts mehr für sie tun können. Drei Tage später war sie tot.

Da war er auf dem Gelände geblieben, sein älterer Bruder aber war schon Tage vorher weggegangen und hatte den Tod der Mutter nicht miterlebt, er wusste nicht, wo er jetzt war. Seine jüngere Schwester war bei seiner Mutter geblieben, weil sie noch so jung war, er nahm an, dass sich die Schwestern um sie gekümmert hatten und sie vielleicht in einem Kinderheim untergebracht worden war, auch sie hatte er nicht wiedergesehen, machte sich um sie aber nicht so große Sorgen. Das alles war jetzt schon über zwei Jahre her. Als er Muthu gerade hatte weggehen sehen, hatte er sich an seinen Bruder erinnert gefühlt und merkte, wie sehr er sich danach sehnte, Freunde zu haben, Geschwister, eine Familie, ein Zuhause.

Jaya ließ ihn in aller Ruhe erzählen, fragte zwischendurch ein paar Mal genauer nach, auch um zu wissen, wie Raja generell mit Erinnerungen umging, wie viel er verdrängt hatte, welche Erklärungen er für sich gefunden hatte. Dann brachte er seinerseits auch seine eigene Geschichte mit in das Gespräch ein, erzählte ebenfalls vom Tod seines Vaters.

Irgendwann kamen sie an den Punkt, wo Jaya ihm von der Idee, der Gründung und dem Bau des Kinderheims erzählte und wie ihr Zusammenleben hier organisiert war. Jetzt stellte Raja ein paar Fragen und Jaya merkte, dass er einen sehr aufgeweckten Jungen vor sich sitzen hatte. Er war zwar noch nie gefördert worden, aber sobald man einmal etwas Zeit in ihn investieren würde, er lesen lernen würde, genug zu essen bekam und sich sicher und angenommen fühlen konnte, würde er schnell große Fortschritte machen. Jaya erklärte ihm ein paar organisatorische Einzelheiten. Dass er, wenn Raja sich entscheiden würde, zu bleiben, morgen mit ihm zur Schule gehen würde, um ein paar Tests mit ihm zu machen. Dann würde Raja, je nachdem wie das Ergebnis dieser Tests ausfiel, für ein paar Wochen zusätzlichen Unterricht bekommen, Unterstützung bei seinen Hausaufgaben, und einer der älteren Jungen, vielleicht Muthu - bei dem Gedanken strahlte Raja über das ganze Gesicht - würde ihm helfen, den Alltag im Kinderheim zu verstehen und mit den anderen gemeinsam einige Aufgaben zu erledigen, Wäsche zu waschen, den Tisch zu decken, zu fegen, zu spülen, den Rasen zu schneiden, Tee zu kochen.

Was man außerdem erledigen müsste, wäre, ihn untersuchen zu lassen, um sicherzugehen, dass er gesund war, oder sich andernfalls um eine etwaige Krankheit zu kümmern. Raja schaute angespannt, fast ein bisschen ängstlich, aber als Jaya sagte: „Eine Ärztin aus dem CMC, Doktor Ranjini, du hast sie heute gesehen, wird das übernehmen“, entspannte er sich wieder.

Jaya stockte für einen Moment und sagte: „Du bist klein für dein Alter. Das kann daran liegen, dass du nicht viel zu essen hattest, aber bist du dir wirklich sicher, dass du schon neun Jahre alt bist?“ Raja nickte. Es war sich sicher. Und noch sicherer war er sich, dass er gerne größer wäre.

Jaya merkte, dass ihm das Thema unangenehm war, und fragte: „Hast du Mohankumar gesehen? Den allerkleinsten der Jungen?“ Raja nickte. Dieser Junge war wirklich auffällig klein. Jaya fuhr fort: „Mohan ist kleiner als du und gleichzeitig ist er doch ein Jahr älter. Er war total unterernährt, als er zu uns kam, und es fällt ihm immer noch schwer, zu essen, er hat oft keinen Appetit; aber er wächst, langsam, und er schreibt mit die besten Noten.“

Wie um zu beweisen, dass er dabei sein wollte, nahm Raja einen ersten Keks und eine Apfelscheibe, stopfte beides in den Mund, kaute und nahm einen großen Schluck aus seinem Teebecher. Beide mussten lachen.

Auch um das Thema zu wechseln, sagte Jaya, dass man ihn nach dem Test in der Schule und der Untersuchung durch die Ärztin ganz offiziell und mit seinem vollen Namen und Geburtstag bei der Stadtbehörde unter der Adresse des Kinderheims anmelden würde. Er wäre dann kein Straßenkind mehr, sondern sesshaft und würde später ohne Schwierigkeiten einen Pass ausgestellt bekommen. „Wenn du das möchtest, können wir versuchen, Familienangehörige von dir zu finden und Kontakt herzustellen zu Geschwistern deiner Eltern oder auch zu deinen eigenen Geschwistern. Vielleicht werden wir bei so einer Suche keinen Erfolg haben, aber wir könnten es probieren. Nun, das hat allerdings Zeit, du musst es nicht heute entscheiden.

Zum Tagesablauf hier im Haus kann dir Muthu gleich Näheres erklären. Am Morgen vor der Schule treffen wir uns zum Frühstück und zum Morgengebet. Am Nachmittag nach der Schule machen alle zuallererst ihre Hausaufgaben, erledigen ihre anderen Arbeiten im Haus, dann ist freie Zeit zum Spielen. Wenn Gäste da sind, werden sie von uns allen mit in den Tagesablauf hineingenommen. Nach dem Abendessen sehen wir zusammen die Nachrichten im Fernsehen und wenn es Fragen gibt, besprechen wir sie. Und vor dem Zubettgehen treffen wir uns noch einmal alle zum Abendgebet, ich erzähle eine Geschichte und bete um Gottes Segen. Dies ist ein christliches Kinderheim. Wir leben hier in Frieden zusammen, damit meinen wir nicht nur Waffenstillstand, sondern mehr eine Art entwaffnendes ganzes Glück. Lern es einfach kennen.“

Jaya hatte jetzt alle eher formalen, äußerlichen Angelegenheiten mit ihm besprochen und hatte den Eindruck, Raja habe alles soweit verstanden. Ein letzter Punkt aber musste noch offen angesprochen werden, und der betraf die Grundregeln für ihr Zusammenleben.

„Raja, du musst wissen, dass das Kastensystem in diesem Haus nicht akzeptiert ist. Kasten haben hier keine Bedeutung. Wir fragen nicht, aus welcher Kaste jemand kommt, wir teilen niemals die Jungen in niedrigere oder höhere Kasten ein und wir wollen auch nicht, dass ihr einander einteilt. Auch die Hautfarbe macht keinen Unterschied. Es ist nicht wichtig, ob jemand hellere oder dunklere Haut hat. Alle sind gleich viel wert und alle verdienen Respekt, alle können Freunde sein. Wir haben außerdem die Verabredung, dass wir einander nicht belügen, nicht bestehlen und nicht schlagen. Und dass wir uns entschuldigen und verzeihen, wenn wir etwas falsch machen und es einsehen. Es gibt keine Strafen, bisher haben wir keine gebraucht. Mit diesen Regeln kann Vertrauen entstehen, und das bedeutet mir sehr viel.“

Er sah Raja offen an und fragte: „Bist du einverstanden? Können wir verabreden, dass du dich auf diese Regeln einlässt?“

Raja nickte mehrmals ernsthaft.

Die Stunde war schnell umgegangen und Muthu klopfte an die Tür und betrat das Büro. „Wenn du erst mal keine Fragen mehr hast, zeigt dir Muthu jetzt das Haus. Guck dir alles genau an, die Küche, den Gemeinschaftsraum, die Zimmer, den Garten. Nimm am Abendessen teil und am Abendgebet und sag, wie es dir geht, frag, wenn du etwas nicht verstehst, und teil mir irgendwann heute oder morgen deine Entscheidung mit. Danke, Muthu. Viel Spaß, euch beiden.“

Fröhlich zogen die beiden ab.

Jaya blieb an seinem Schreibtisch sitzen, das Gesicht in den Händen vergraben, dachte über die unglaubliche Ähnlichkeit zwischen Rajas und seiner eigenen Geschichte nach und begann, leise zu beten.

Das Telefon klingelte unten in der Halle. Sunda, einer der beiden Erzieher, rannte, um den Hörer abzunehmen und zu antworten.

„Jaya“, rief er durch das ganze Haus, „es ist für dich.“ Jaya fragte sich, wer das sein könnte, verließ schnell sein Büro und kam zum Telefon gelaufen.

„Hallo, Jaya.“

Die Stimme hätte nicht sagen müssen, zu welcher Person sie gehörte, welchen Namen sie trug, er hätte sie wiedererkannt. Jaya räusperte sich: „Danke, dass Sie anrufen, Doktor Ranjini.“

„Bitte, nennen Sie mich doch Kala. Ich rufe an, um Ihnen zu sagen, dass ich es heute leider doch nicht schaffe, zu Ihnen in das Kinderheim zu kommen. Ich werde mich aber morgen im Laufe des Tages noch einmal bei Ihnen melden, um einen Termin zu vereinbaren, damit ich mir den kleinen Raja ansehen kann.“

Jaya nickte und erst als er merkte, dass es am anderen Ende der Leitung still wurde, realisierte er, dass sie sein Nicken nicht sehen konnte. „Ja“, sagte er. „Ja, vielen Dank. Bis morgen also.“

Kala sagte: „Ja, bis morgen.“

„Doktor Ranjini?“ Jayas Frage kam schnell und unüberlegt. „Ist alles in Ordnung? Oder habe ich mich in irgendeiner Weise falsch benommen Ihnen gegenüber?“

Er höre ihr feines Lachen. „Nein, nichts dergleichen. Aber auf der Säuglingsstation herrscht das Chaos, ein paar unvorhergesehene Problemfälle sind eingetroffen und ein paar Engpässe im Personalplan tun ihr Übriges. Ich kann hier gerade einfach nicht weg.“

Erleichtert sagte er: „Sie scheinen Ihren Beruf sehr zu lieben. Wird Ihr Mann da nicht manchmal eifersüchtig?“ Er hatte es fragen müssen, um sicherzugehen, um zu erfahren, ob sie verheiratet war und nur unverheiratet wirkte, und wartete angespannt auf ihre Antwort. „Ich bin nicht verheiratet“, kam es vom anderen Ende der Leitung. Ihre Gegenfrage stand unausgesprochen im Raum und er ersparte es ihr, sie formulieren zu müssen. „Ich bin selbst auch unverheiratet“, sagte er von sich aus.

Sie lachte wieder und fragte scherzhaft: „Und warum hat man für einen Mann wie Sie keine Ehe arrangiert?“

Er überlegte kurz, was und wie er es sagen sollte, und entschied sich für einen kurzen Satz: „Die Menschen scheinen schon immer gedacht zu haben, dass ich ein Typ bin, der allein zurechtkommt.“ Jaya selbst merkte erst in der abwartenden Stille zwischen ihnen, dass seine Antwort nicht eindeutig gewesen war und in zwei Richtungen interpretiert werden konnte. Er ärgerte sich über seine Formulierung, sie kam ihm unfair vor, als wolle er ihr Rätsel aufgeben, und sagte schnell: „Ich meinte damit, dass ich mich, entgegen allen Traditionen, wohl auch um diese Frage selbst kümmern muss.“

Sie spürte, dass in dieser Antwort viel Humor und gleichzeitig die Wahrheit lag, viel Einsamkeit wahrscheinlich obendrein. Sie entdeckte sich selbst in seiner Antwort wieder. Eine neue Art der Nähe zwischen ihnen war spürbar. Sie gaben beide einen zustimmenden Seufzer von sich und verabschiedeten sich voneinander.

„Bis morgen“, sagte Jaya und wiederholte noch ein paar Mal, auch als sie schon längst aufgelegt hatte, ihren Namen.

„Bis morgen, Kala.“

Am Abend, nach dem Essen, alle Hausaufgaben waren erledigt, das Geschirr wieder gespült und die Tische wieder sauber, der Boden gefegt, spielten die Jungen in ihren Zimmern. Die Gäste hatten ihnen mehrere Sets Mikado mitgebracht und jetzt saßen sie jeweils zu viert oder fünft auf dem Boden und übten sich in Geschicklichkeit.

Raja spielte mit und als er eine Spielrunde gewann, strahlte er über das ganze Gesicht. Das Großartige an diesem Moment des Erfolgs aber war, dass sich, wie bei jedem anderen auch, die anderen Jungen alle mitfreuten, ihm auf die Schulter schlugen, gratulierten, ihn lobten. So ging das jetzt seit über einer Stunde und einer der Gäste, der Journalist, der die Kinder beim Spielen beobachtete, traute schon die ganze Zeit über seinen Augen nicht. Er verstand nicht, wie man so eifrig spielen konnte, sich so ins Zeug legen, um zu beweisen, dass man es schaffen konnte, und dann trotzdem den anderen so von Herzen ihren Erfolg gönnte. Irgendetwas war hier völlig anders, als er es sonst kannte.

Gegen neun Uhr gingen die beiden Erzieher durch die Zimmer und riefen alle Kinder zum Abendgebet zusammen. Sie setzten sich im Gemeinschaftsraum, in dem auch gegessen wurde, in einem großen Kreis auf Matten auf den Boden, einige hatten Trommeln mitgebracht, alle ihre selbst gestalteten Liederbücher, und dann begannen sie laut zu singen. Raja setzte sich mit in den Kreis und hörte fasziniert zu. Die Gäste hatten sich außerhalb des Kreises auf Stühle gesetzt und waren auf ihre Weise ebenso begeistert von dem Gesang der Kinder.

Nach ein paar Liedern sagte Jaya: „Heute erzähle ich euch eine Geschichte, die mir eine schwarze Freundin aus Amerika einmal erzählt hat. Unsere Gäste haben weiße Haut, aber auch in ihrem Land gibt es Menschen, die dunkelhäutig sind. Ihr könnt sie gerne danach fragen, wie es dazu gekommen ist, nicht wahr?“ Er wandte sich fragend an die vier Männer, die sofort bereitwillig nickten.

Jaya sagte: „Ich bin der Dunkelste in meiner Familie, aber meine Mutter hat mir immer gesagt, dass ich schön bin und liebenswert. Und ich habe mich entschieden, ihr zu glauben. Sie hat uns Kinder immer alle gleich behandelt. Sie war darin ein großes Vorbild, finde ich. Andere würden zum Beispiel die Jungen vorziehen, aber meine kleine Schwester bekam genauso viel zu essen wie wir Brüder. Aber jetzt Schluss damit, kommen wir zur Geschichte.“

Jaya hatte für diesen Abend eine Geschichte ausgewählt, die die Kinder verstehen würden und die die Gäste an seinen Gedanken teilhaben lassen konnte. Und so begann er zu erzählen:

„Es war zu der Zeit, als Schwarze zum allerersten Mal Land kaufen durften, ein kleines Grundstück und ein eigenes Haus bauen; leicht, aus Holzbrettern; Kälte hielt das nicht ab, aber den Regen. Joanne wohnte zusammen mit ihren Eltern und vielen Geschwistern, ihren Tanten und Onkels und vielen Cousinen und Cousins, insgesamt an die zwanzig Kinder, in der Farmgegend. Hier arbeiteten die Erwachsenen auf dem Feld.

Eines Tages spielten die Kinder zusammen, als es plötzlich anfing zu regnen. Ein Sturm zog auf, der Himmel wurde dunkel, Tante Serena war die Einzige, die da war, und sie rief die Kinder ins Haus.

Ein Gewitter krachte und blitzte. Es regnete wie aus Eimern und der Sturm rüttelte an dem kleinen Haus.

Und dann traute Joanne ihren Augen nicht. Sie saßen alle zusammen in ihrem Holzhäuschen und plötzlich wurde eine Ecke des Hauses hochgehoben; es war einfach zu leicht. Da sagte ihre Tante Serena:

,Kinder, haltet euch an den Händen und geht mit mir zu der Ecke, wo das Haus wegfliegt, der Stelle, wo das Haus am leichtesten ist, und stellt euch mit eurem ganzen Gewicht gegen das Wetter.`

Sie taten sofort, was sie sagte. Alle blieben, niemand rannte weg und ließ das Haus im Stich. Sie waren eine Gruppe wie wir, an die zwanzig Kinder, Verbündete, die sich an den Händen hielten und die dann mal da und mal dort in die nächste Ecke gingen, sich an die Wand lehnten und wieder zurück in die Ecke gingen. Der Sturm zog vorbei und das Haus war stehen geblieben.“

Jaya schwieg für einen Moment und sagte dann: „Ich sage euch, warum ich diese Geschichte mag und was sie mir sagt. Dieses Erlebnis von Joanne ist eine Erfahrung, die ich auch immer wieder mache. Das Leben nimmt uns an die Hand. Wir stehen zusammen auf. Jeder einzelne Mensch hat Gewicht. Wir sollen uns gegen das Wetter stellen. Wir müssen zusammen in die Ecken gehen, wo diese Welt am schwächsten ist, wo das Lebenshaus von Familie Mensch am leichtesten auseinanderfliegen kann.“

Und damit stand er auf und sagte: „Kommt, lasst uns einen großen Kreis bilden und auch unsere Gäste und Raja mit hineinnehmen. Lasst uns einander an den Händen fassen und beten.“ Mit ein paar wenigen Worten bat Jaya seinen Gott um Segen und Schutz für die Nacht. Sie sangen ihr Gutenachtlied, ein Kinderlied, untermalt von Trommeln:

Segensreiche Nacht.

Die Engel singen.

Denn das Licht des Himmels kam zur Welt, liegt in seinem Bett, in einer Krippe.

Seine Mutter gibt ihm einen Kuss und singt ihm ein Schlaflied.

Segensreiche Nacht.

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