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Kapitel 10

Juli 2003. Der riesige Staudamm Sardar Sarovar hat zu verheerenden Überflutungen geführt. Zahlreiche Dörfer der einheimischen Bevölkerung wurden überflutet, Ernten vernichtet, Tiere ersäuft. Umweltschutz- und Menschenrechtsorganisationen wehren sich seit mehr als fünfzehn Jahren gegen die zerstörerischen Staudammprojekte.

Matt las und konnte nicht mehr aufhören. Er versuchte zu verstehen. Nur dieses eine Beispiel durchdenken, vielleicht stellvertretend für andere. Eine Regierung beschließt also, Staudämme zu bauen. Sie tut es in der Überzeugung, das wollte er ihr mit einem Vorschuss an Vertrauen unterstellen, dass mit diesen Dämmen Menschen geholfen werden kann, Energie zu schaffen, Land besser zu bewässern als bisher, die Lebensqualität zu steigern, Leben zu retten. Um diese Dämme bauen zu können, müssen Flüsse gestaut und Landstriche geflutet werden. Das bedeutet, dass ganze Dörfer umgesiedelt werden.

Hier beginnt das erste Problem. Diese Menschen wollen ihr Land nicht verlassen. Wer könnte das nicht verstehen? Wer sollte sie zwingen dürfen? Nun, aber vielleicht würden sie sich bereitwillig opfern, wenn mit ihrem Umzug anderen, vielen anderen Menschen geholfen werden kann. Sie sind vielleicht bereit dazu. Aber man gibt ihnen im Austausch zu ihrem bisher besiedelten Land nicht etwa gleichwertiges Land anderswo, niemand entschädigt sie, man zahlt ihnen ein paar lächerliche Rupien und dann kommt man mit Planierraupen und Sprengungen, Wälder werden abgeholzt, Ernten vernichtet und die Menschen werden verjagt. Kinder, Erwachsene, Mütter, Väter, Großeltern. Menschen, die ihr Leben lang in den Urwäldern gelebt haben, sind plötzlich gezwungen, in der Großstadt zurechtzukommen. Es ist unmöglich. Sie schaffen es nicht. Und andere, die sich nicht verjagen lassen oder nicht rechtzeitig gewarnt werden, um fliehen zu können, müssen erleben, wie das Wasser ihr Land überschwemmt, ihre Hütten mitnimmt, ihre Tiere, ihre Kinder, sie selbst. Und hier ging es nicht um ein paar Einzelfälle, sondern um Tausende, Zehntausende, ja, wenn er es richtig sah, inzwischen Hunderttausende.

In allen offiziellen Berichten, die Matt bisher wahrgenommen hatte, wurden diese Menschen als Paps bezeichnet, er hatte zunächst gar nicht verstanden, dass es sich dabei um Menschen handelte, Paps, „programme affected persons“, vom Projekt betroffene Personen. Eintausend Paps sind ertrunken - das klingt tatsächlich ganz anders als eintausend Menschen tot, merkte er. Aber so war es, auch Hungertote und Aidsinfizierte und die Opfer einer Flutkatastrophe waren am Ende Zahlen, Nummern, eine Statistik. Matt schüttelte den Kopf, spürte Schmerzen im Nacken. Er las weiter. In keinem einzigen der bisher verwirklichten Staudammprojekte stimmten die Prognosen, weder die kalkulierten Sachkosten noch die Zahl der Betroffenen, mit den tatsächlichen Zahlen überein. Die Kosten waren am Ende oft doppelt so hoch und die Zahl der überschwemmten Dörfer ebenfalls. In allen Fällen.

Weiter. War das Paps-Problem dann einmal gelöst - Matt musste sich selber die Warnung aussprechen, nicht bissig zu werden, denn er wusste, Zynismus ist immer kalt, würde ihm die Herzenswärme nehmen und ihn damit denen ähnlich machen, über die er den Kopf schüttelte, gegen die er protestierte -, waren die Menschen also umgesiedelt, konnte das Wasser dann also helfen. Aber hier trat ein nächstes Problem auf. Ein geregelter, in Bahnen aus Zement verlaufender Fluss benimmt sich anders als ein natürlich fließender. Und so geht zum Beispiel die Artenvielfalt der Fische drastisch zurück. Was auch bedeutet, dass die Lebensgrundlage der Fischer bedroht ist. Ein Boden, der es bisher gewohnt war, einmal im Jahr vom Monsunregen gespeist zu werden und je nach Jahreszeit feucht oder trocken, schlammig oder ausgedorrt zu sein, benimmt sich anders als ein Boden, der jetzt ganzjährig dauerbewässert wird.

Und noch ein Problem ergibt sich mit der Zeit für die Bauern, die das kostbar gestaute und in sorgfältig bemessenen Rationen zugänglich gemachte Wasser nutzen. Denn derjenige, der das Wasser besitzt, darf auf einmal auch bestimmen, wofür. Gerade freuten sich noch alle, dass statt einer schlechten Ernte im Jahr dank des Wassers mehrere gute Ernten im Jahr eingebracht werden können, da werden die Abhängigkeiten klar: Der Bauer, der bisher für sich und seine Familie Mais und Hirse angebaut hatte, wird gezwungen, landwirtschaftliche Produkte anzupflanzen, die sich für den Export lohnen: Baumwolle, Soja und vor allem Zuckerrohr. Und so ist der Boden zwar fruchtbar, aber die ihn bestellen, können sich nicht mehr leisten, was auf ihm wächst. Ihr Land bringt keine Nahrung für sie, sondern für andere.

Nach einigen Jahren kann dann der Boden nicht mehr mithalten, er ist überfordert, wenn er so behandelt wird. Und ist erst einmal eine Verschlammung oder eine Versalzung der Böden eingetreten, sind die Ernten schlechter als vorher.

Matt zwang sich, weiterzulesen, weiterzudenken. Allmählich tauchten hinter diesen Fakten ein paar sehr tiefe, grundlegende Fragen auf: Wem gehört der Boden, das Wasser, die Wälder? Wem gehört Indien? Wem gehört eine Demokratie? Wem gehört eigentlich das Land? Wer darf bestimmen, was mit ihm passiert? Anders gefragt: Wer bestimmt und wem nutzen die Staudämme am Ende wirklich? Warum baut man sie weiter, wenn die Konsequenzen doch so offensichtlich verheerend sind? Wer profitiert eigentlich?

Matt seufzte. Wer immer und überall profitiert. Kreditgeber, Berater, die Weltbank, Ingenieure, internationale Firmen, Baufirmen, Schleusenhersteller. Wer leiht Indien teures Geld, damit Staudämme gebaut werden können? Dieselben, die ihnen ein paar Jahre später weitere Kredite geben, um die Böden zu entsalzen. Er war müde. Matt, sagte er zu sich selbst, mach dir keine Illusionen, das ist erst ein Thema. Das Land hat ein paar solcher Baustellen. Lern es kennen und schau, ob du dich irgendwo einbringen kannst. Er merkte, dass ihn die Hoffnung manchmal verließ. Er würde niemals so weit gehen, zu behaupten, dass Armut und Hunger, Elend, Trockenheit oder Überflutung Karma seien, Schicksal, denn der Gedanke, unfrei, festgelegt und wie von äußeren Kräften gelenkt, passiv, einer Bestimmung ausgeliefert zu sein, missfiel ihm aufs Äußerste. Aber er war heute fast so weit, nur noch mit den Schultern zu zucken. Weil man doch offensichtlich nichts tun konnte.

Er merkte, wie die Verzweiflung sich wie eine große Leere anfühlte. Als sei er mühsam eine Treppe hochgestiegen, nur um am Ende, oben angekommen, festzustellen, dass sie ins Nichts führte. Er ging zu seiner Stereoanlage. Musik würde ihm guttun. Er würde sich neue Hoffnung ins Herz singen lassen, Widerstandskraft für die Arbeit, Gnade gegen den kalten Zynismus. Er hörte, wie Bono laut sang: Grace, she travels outside of karma … Gnade, sie steigt aus dem ewigen Rad des Schicksals aus …

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