Читать книгу Seidenkinder - Christina Brudereck - Страница 16
ОглавлениеKapitel 7
Das Geräusch des Motorrollers unterbrach Priya in ihren Gedanken. Sie lief, um das kleine Tor zu öffnen, aber als sie dort ankam, war Ganesh bereits vor ihr angekommen und ließ Jaya in den Hof fahren. Wo war der Kleine denn plötzlich hergekommen? Er war so leise und so unauffällig wie ein Chamäleon, das sich seiner Umgebung anpasste, um nicht entdeckt zu werden. Er schien jahrelange Übung darin zu haben, nicht aufzufallen, man musste das schon fast als eine besondere Fähigkeit betrachten.
Jaya war um das Haus herumgefahren, hatte geparkt und kam jetzt auf sie zugelaufen. Er grüßte mit einem Lachen und hielt eine kleine Tüte in der Hand, die er, als er näher kam, schwenkte, um sie neugierig zu machen. Sie erkannte das Papier, rosafarbene Servietten, in die der Bäcker in der Nähe des Kinderheims die köstlichen Süßigkeiten einwickelte.
Jaya hatte ihr schon früher häufiger Süßigkeiten gekauft, aber in letzter Zeit brachte er ihr immer öfter solche kleinen Aufmerksamkeiten mit. Vielleicht, weil er es sich jetzt leisten konnte, wie um die früheren Jahre des Verzichts ein wenig auszugleichen. Vielleicht, weil auch er ahnte, dass sie nicht mehr lange da sein würde, und man die Lebenden mit Aufmerksamkeiten bedenken sollte, denn die Toten zu beschenken, würde nicht viel Sinn machen.
Sie nahm die Papiertüte entgegen, öffnete sie, zog den süßen Duft von Mandeln, Kokos und Zucker ein und griff sofort mit zwei Fingern nach einer Makrone, schob sie sich in den Mund, verspielt, wie ein junges Mädchen, und kaute genussvoll auf der klebrigen Masse herum. Sie strahlte. Sie bot auch ihm davon an, aber er lehnte dankend ab, wie sie es schon vermutet hatte. Sie reichte die Papiertüte weiter an Ganesh, der sich erst nach einer weiteren Aufforderung traute, eins der leckeren Plätzchen für sich zu nehmen. Alle miteinander gingen sie ins Haus.
Kaum hatte sich Jaya in seinen Sessel gesetzt, brachte Ganesh ihm eine Tasse frischen Tee: geriebener Ingwer, Zitrone und Zucker mit ein paar Blättern Schwarztee in einer großen Kanne mit heißem Wasser aufgegossen. Jaya lehnte sich zurück und wartete, dass seine Mutter anfangen würde, zu reden. Er konnte ihr ansehen, dass sie sich kaum noch zurückhalten konnte, wusste aber auch, dass sie aus Rücksicht auf ihn noch einen Moment wartete, bis er sich etwas entspannt hatte und zu Hause angekommen war. Er nickte ihr zu.
Priya gab sich gar nicht erst die Mühe, ihre Gedanken zu ordnen, sondern überließ es Jaya, sich aus dem bunten Angebot ein Thema herauszusuchen, dem er zuerst nachgehen wollte. Und so sprach sie ohne Pause, in einem Fluss, schnappte nur hin und wieder kurz nach Luft und erzählte von ihren Beobachtungen gestern Abend, fragte nach den Gästen und ob er ihnen auch die Geschichte von Doktor Ida erzählt habe, wie er es oft mit Gästen tat, erwähnte kurz die Saatgut-Satyagraha der Reisbauern in Chattisgarh, die sie im Fernsehen gesehen hatte, brachte ganz beiläufig ins Spiel, dass sie bemerkt hatte, dass die Gäste ihn angestrengt hatten, fragte nach, ob ihm die Mango geschmeckt hatte und das Essen, sagte ein paar wohlwollende Worte über Ganesh, hielt nicht zurück, dass sie sich über Shantis Mutter ärgerte, die ihre Tochter Ornamente mit Kreide malen ließ statt mit zermahlenem Reis, warf kurz ein, dass sie wirklich froh sei über die guten Niemblätter, sagte, dass ihr wieder eingefallen war, dass der Palar früher, als sie noch ein kleines Mädchen war, nie ganz ausgetrocknet gewesen war, und fragte, ob er ihr eine Erklärung dafür liefern könnte.
Sie sprudelte nur so. Sie wollte ihre Gedanken mit ihm teilen, erwartete Antworten von ihm auf ihre Fragen und wollte ihrerseits hören, was ihn bewegte, wie sein Tag gewesen war, was er erlebt hatte. Es war wunderbar, ihm erzählen zu können, was sie bewegte, aber das Größte für sie war, wenn er sie umgekehrt mit hineinnahm in seine Welt, in seine Überlegungen und Entscheidungen. Sie lehnte sich zurück und wartete, was er sagen würde.
Jaya fing langsam und mit ausgesuchten Worten an, von seinem Tag zu erzählen, und begann mit einem Satz, der eher ungewöhnlich für ihn war: „Heute habe ich oft an dich gedacht, Ma.“
Sie zog fragend die Stirn in Falten. Der kleine Satz klang ernst. Gleich würde er ihr sicher sagen, warum.
Jaya erzählte, und was er zu berichten hatte, klang zunächst nach einem ganz normalen Tag. Er erwähnte kurz, dass er mit seinen amerikanischen Gästen im CMC gewesen war und eine Klinikführung für sie organisiert hatte, beschloss, Dr. Ranjinis Namen nicht zu nennen, sondern von dem zu erzählen, was ihn tatsächlich am meisten beschäftigte, Raja. Dass ein neuer Junge in das Kinderheim aufgenommen worden war, war, wenn auch keine alltägliche Zeremonie, doch nicht so außergewöhnlich. Aber etwas war besonders an Raja, sie spürte es. Und dann, als sie die Geschichte dieses neuen Jungen hörte, wurde ihr auch schnell klar, warum Jaya an sie hatte denken müssen. Denn die Geschichte des Neuen war Jayas eigener und damit ihrer verblüffend ähnlich.
Jaya erzählte. Leiser als sonst. Während er von Raja berichtete, lief ein Film in seinem Kopf ab, der aus Bildern der Vergangenheit bestand und ihm seine eigene Entwicklung in Erinnerung rief und sehr konkret vor Augen malte. Ja, er meinte, selbst die Gerüche dieser Jahre wahrnehmen zu können, das brackige Wasser in den Pfützen auf der Straße, wo er gekniet hatte und kleine Palmkörbchen verkauft hatte, die Mischung aus Schweiß und saurer Milch, die in der Kleidung seiner Mutter hing, die staubige alte Matratze in der kleinen Hütte, in der sie wohnten. So roch der Hunger, so roch die Armut. Er führte den Becher mit Tee zum Mund, nahm einen großen Schluck und verjagte die Gerüche. Er versuchte, sich der Gegenwart zuzuwenden, dem Jungen, dem er heute ein Zuhause geschenkt hatte, und fuhr bewusst fröhlicher fort: „Raja ist ein aufgeweckter Junge.“ So wie du damals, dachte Priya. „Er ist in der Stadt aufgewachsen, in den Slums, in Chennai. Sein Vater hat in Sri Lanka Stoffe verkauft.“ Genau wie deiner, dachte Priya. Wie viele Inder es in der Vergangenheit gemacht haben, um Geld zu verdienen. „Seine Mutter hat keine Ausbildung machen können.“ Wie ich, dachte Priya. Jaya sah sie an; beiden war die Parallele deutlich bewusst. Er wusste nicht, ob er wirklich weitererzählen sollte.
Priya sah ihn fragend an und Jaya sah darin eine Aufforderung, weiterzumachen. „Rajas Vater verlor seine Anstellung und kam zurück nach Indien. Er hatte auch in Sri Lanka schon zu viel getrunken, wohl aus Einsamkeit, fand hier keinen neuen Job und starb, als er betrunken auf die Straße lief und auf einer viel befahrenen Kreuzung unter einen Wagen kam. Rajas Mutter starb nur ein paar Wochen später.“ Priya seufzte: „Der arme Kleine, das ist zu viel.“
Jaya sagte nachdenklich: „Er hat nicht genau gesagt, was mit seiner Mutter geschehen ist. Aber ich denke, dass sie lebensmüde war, zu verzweifelt. Der Verlauf ihrer Krankengeschichte hört sich so an, als habe sie vielleicht Gift geschluckt. Man hat ihr nicht mehr helfen können. Ihre Jüngste war wohl die ganze Zeit bei ihr, die beiden Älteren, die Söhne, waren auf sich gestellt. Der Älteste ist weggelaufen, Raja ist in der Nähe des Krankenhauses geblieben und hat es irgendwie und mit viel Geschick geschafft, hier zu überleben. Irgendwo in der Stadt könnte es eine Tante geben, sie war der Grund, warum die Familie nach dem Tod des Vaters überhaupt nach Vellore gekommen ist. Vielleicht können wir sie ausfindig machen. Rajas kleine Schwester hat man sicher in eins der Mädchenheime gebracht und wir können ihre Spur verfolgen. Die Mutter“, Jaya schüttelte den Kopf, „wie verzweifelt sie gewesen sein muss, dass sie sogar riskierte, ihre Kinder im Stich zu lassen!“
Und genau hier hört die Ähnlichkeit auf, dachte Priya und setzte sich ein bisschen aufrechter in ihren Sessel. Hatte sie jemals den Gedanken gehabt, aufzugeben? Es hatte wohl Momente gegeben, in denen sie müde war, sehr müde. Tage, an denen schon das Aufstehen am Morgen unendlich schwerfiel. Tage, an denen sie verzweifelt zusehen musste, wie ihre Kinder sich vor Hunger den Bauch hielten, und sie einfach nicht wusste, wie sie ihnen helfen sollte. Das Gefühl, dass ihre Brüste nicht genug Milch hatten, um ihr Neugeborenes zu stillen, war herzzerreißend gewesen. Und doch hatte sie weitergelebt. Gekämpft. Gebetet. Hatte Maria ihr Kind nicht in einer Hütte zur Welt bringen müssen? Und doch war es heilig gewesen. Hatte sie nicht auch fliehen müssen? Sie hatte immer gehofft. Nein, ihre vier Kinder hatten sie Kraft gekostet und doch gleichzeitig auch immer wieder Kräfte in ihr geweckt. Sie hatte leben wollen. Alle gemeinsam hatten sie kleine Körbe aus Palmblättern geflochten und sie am Straßenrand verkauft, bis spät in die Nacht hinein. So hatten sie es irgendwie geschafft, zu überleben. Allein und völlig auf sich gestellt. Eine Witwe und vier kleine Kinder. Nein, lebensmüde war sie zum Glück nie gewesen.
Jaya sah seine Mutter an. Sie hatte nie viel über diese Jahre gesprochen. Aber er hatte Fragen. Und in letzter Zeit drängte es ihn, sie zu stellen. Aber er war dabei immer unsicher, ob er ihr zumuten dürfe, sich mit den dunklen schweren Bildern von gestern auseinanderzusetzen. Er wusste, sie war stark und zäh, und deshalb wagte er es, eine erste, sehr direkte Frage zu stellen, von der er nicht wusste, wie man sie umschreiben sollte: Wie ist Papa gestorben?
Priya atmete langsam weiter. Sie kniff den Mund zusammen und für einen Moment dachte Jaya, sie wolle ihm signalisieren, dass die Antwort verschlossen sei und nicht über ihre Lippen käme. Aber dann redete sie doch.
„Deine Geschichte ist der von Raja sehr ähnlich. Auch dein Vater hat getrunken. Der Alkohol hat ihm wohl geholfen, seinen Misserfolg zu vergessen. Als er krank wurde - eigentlich war es eine einfache Grippe -, hatte er keine Abwehrkräfte und wurde nicht wieder gesund. Ich habe ihn am Morgen gefunden. Vor der Tür unserer Hütte, mit einer Flasche in der Hand, tot.“
Jaya spürte, dass er wohl nicht mehr Einzelheiten erfahren würde, zumindest nicht heute, und gab sich zufrieden. Stattdessen erzählte er, wie er Raja kennengelernt hatte.
„Ich habe ihn eingeladen, sich das Haus anzusehen und die anderen Jungen kennenzulernen. Er ist ohne zu zögern mitgekommen.“
Priya nickte: „Du hast das Richtige getan. Wir müssen teilen, was wir haben.“
„Ja“, sagte Jaya, „das stimmt. Und weißt du, das ist immer das Beste, was passieren kann. Es gibt mir das untrügliche Gefühl, dass hier ein Kind ist, das seine Chance erkennt und deshalb nicht wegwerfen wird. Raja wird uns nicht enttäuschen.“
Priya nickte zustimmend und sagte: „So wie du damals den weißen Missionar nicht enttäuscht hast. Erinnerst du dich noch?“
Oh ja, das tat er. Er schob die Gedanken an den kleinen Raja beiseite, hoffte, dass sein Besuch in den Gästezimmern des Kinderheims gut versorgt war, sah für einen Moment die funkelnden Augen von Dr. Kala Ranjini vor sich und tauchte dann vollkommen ein in die Erinnerung an den Tag, der zum ersten Mal alles in seinem Leben wirklich zum Guten verändern sollte. Nicht, dass er an Einzelheiten zurückdenken konnte, dafür war er wohl noch zu jung gewesen, gerade erst fünf. Die konkreten Bilder stammten aus den Erzählungen seiner Mutter, er selber verband mit dem Tag der wunderbaren Wendung, wie Priya ihn nannte, nur ein unbestimmtes, aber starkes Gefühl von Glück.