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Kapitel 9

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Jaya sah seine Mutter an. Er musste sich an jenem Tag damals so gefühlt haben wie der kleine Raja heute. Denn Benjamin Franz hielt sein Versprechen und holte sie ab. Ja, er wartete schon auf sie, als sie mit ihrem Karton und der einen Tasche um die Ecke kamen, und brachte sie nach Tenampet, einem ruhigen Stadtteil von Chennai, stellte sie seinem Chef Lüder Lürs vor und von diesem Moment an wurde das Leben leichter.

Jaya war überglücklich, weil er nur wenige Wochen später, noch vor Weihnachten, zur Schule gehen und endlich lernen konnte. Er tat es mit großem Eifer, schnell und überaus gerne. Familie Lürs schenkte ihnen ein Zuhause und Priya tat das Ihre, um sich als Kindermädchen, Köchin und Haushälterin nicht nur nützlich zu machen, sondern das Haus, ihre eigenen und die deutschen Kinder, das Missionarsehepaar selbst und dessen Gäste mit Liebe und Mütterlichkeit zu beschenken.

Jaya stand auf, ging in sein Zimmer und kam einen Moment später mit einem alten Brief zurück. Priya sagte: „Du hast ihn aufbewahrt, natürlich hast du das.“

Sie erkannte sofort den Brief, den ersten, den Jaya von seinen deutschen Pateneltern bekommen hatte, weil er jetzt von dem Kinderhilfswerk, für das Benjamin Franz und Lüder Lürs arbeiteten, der Kindernothilfe, unterstützt wurde. Wie ihre drei anderen Kinder auch alle.

Am Ende hatten sie tatsächlich alle zur Schule gehen und studieren können. Sie bekamen weitere Stipendien und Empfehlungen aufgrund ihrer guten Noten. Und Jaya bekam, schon als er dreizehn war, einen allerersten kleinen Ferienjob im Büro von Lüder Lürs. So hatte er sich nicht nur ein eigenes Taschengeld verdienen können, von dem er sich meistens Bücher kaufte und süßen Kuchen für Priya, sondern hatte auch schon sehr früh Einblick bekommen in die Leitung des großen Kinderhilfswerkes. Anfänglich hatte er einfache Jobs erledigt, den Papierkorb geleert, die Post sortiert, Unterlagen abgeheftet. Er war als Hilfskraft eingearbeitet worden, hatte aber schnell eigene Ideen mit eingebracht, die dankbar aufgenommen wurden. Immer wieder sagte Lüder Lürs: „Der Junge hat sehr originelle Vorschläge.“

Jaya merkte selbst, dass sein neu erworbenes Wissen aus dem Studium, seine indische Art, zu denken, seine Lebenserfahrung eine Mischung ergaben, die seinen Mentor veranlasste, ihm mehr Verantwortung zu übertragen. Er hatte gelernt, Briefe zu schreiben und Menschen außerhalb von Indien die besonderen Nöte und Herausforderungen seines Landes zu vermitteln. Er hatte eine Leidenschaft entwickelt dafür, dass Kinder eine Chance bekommen und die Ärmsten echte Hilfe. Er hatte über die Jahre die Organisation einer Vision kennengelernt.

Er hatte Bücher gelesen über die Geschichte Indiens, über die Kolonialzeit, über Gandhi und den Weg zur Unabhängigkeit. Zu seinen besten Lehrern gehörten Hindus, Muslime, Buddhisten, Sikhs und Christen.

Er hatte immer wieder das Gespräch mit seiner Mutter gesucht, die ihm über die Jahre zunehmend wie eine wirklich weise Frau erschien, wenn sie auch nie eine Ausbildung im eigentlichen Sinne gemacht hatte. Das Leben hatte sie klug gemacht, ihre heiligen Texte ließen sie träumen, formten in ihr sehr konkrete Vorstellungen davon, was wichtig war. Seine Liebe an Kinder zu verschenken, war für sie das Größte. Und der Wunsch, dass diese Kinder stark wurden und sanft, teilen konnten und spielen, kühne Ideen entwickeln, selbstbewusst und sich im Klaren darüber, dass sie nicht allein auf dieser Welt waren. Dass andere Menschen sie brauchten und dass es einen Gott gab, der an sie glaubte. Jaya wusste, dass seine Mutter sich mit einer amerikanischen Freundin über diese Themen austauschte. Er übersetzte ihr die Briefe, die sie regelmäßig schrieb. Die beiden mochten dieselbe Idee, die sie „die Seidenkinder“ nannten. Diese Werte seiner Mutter hatten ihn begleitet und er hatte sich gerne von ihnen umwerben und beschenken lassen.

Und er hatte sich in diesen Jahren mit Lüder Lürs unterhalten, nächtelang, ihm seine vielen unruhigen Fragen gestellt. Er wusste es wirklich zu schätzen, dass sich der Missionar so viel Zeit für ihn genommen hatte und auch den kritischen Fragen nie ausgewichen war. Er war ein Mentor, der sein, Jayas, Potenzial gesehen und ihn gefordert und gefördert hatte, ihm Vertrauen geschenkt und Verantwortung übertragen hatte. Er hatte viel von ihm gelernt und er wollte das Prinzip, das er hier erlebt, von dem er so profitiert hatte, jetzt auch selber umsetzen. Ja, er merkte, wie glücklich er war, wenn es ihm gelang, andere zu unterstützen, und wie sehr er sich freute, wenn zum Beispiel ein Junge das Vertrauen, das man in ihn setzte, zu schätzen wusste und dann Fortschritte machte, lernte, erwachsen wurde und dabei manchmal sogar über sich hinauswuchs.

Er hatte damals erst überlegt, Arzt zu werden, diese Art zu helfen schien so direkt anzukommen, das erschien ihm sehr attraktiv. Aber dann hatte er sich doch dafür entschieden, Lehrer zu werden, und er hatte es nie bereut - obwohl er heute nicht an einer Schule Unterricht erteilte, sondern sein Weg sich dann anders entwickelt hatte. Es war die Faszination am Lernen und der Wunsch, Kindern, wie er eins gewesen war, etwas beizubringen, sie zu entdecken und zu fördern. Er hatte eine leitende Position in dem großen Kinderhilfswerk ausgefüllt, Seite an Seite mit Lüder Lürs, und war glücklich gewesen. Bis es dann eine weitere Wende in seinem Leben gab, die ihn auf den Weg führte, auf dem er heute ging.

Am Anfang hatte er noch, gespeist von den Bildern einer anderen Generation von Leitern, die Haltung gehabt, dass es in dieser Welt eben arme und reiche Nationen gab und dass es zu seinen Aufgaben gehörte, die Reichen zu bitten, den Armen etwas abzugeben.Naiv hätte er als Zwanzigjähriger sicherlich gesagt, dass Sonne und Regen und damit Armut und Reichtum eben leider einfach ungleich verteilt waren, man mit einigen Tricks und ein paar zumutbaren kleinen Projekten aber wenigstens ein bisschen Ausgleich schaffen könnte. Mit der Zeit war er misstrauisch geworden und hatte gemerkt, dass es so einfach nicht war.

Den entscheidenden Impuls, umzudenken, es noch einmal neu zu betrachten, hatten ihm die Leute auf der Straße gegeben. Er war durch die überfüllten Straßen Chennais gegangen, hatte die Gerüche und den Lärm wahrgenommen, die vielen Gesichter, die unendlich vielen bettelnden, hungrigen Hände, die sich ihm an diesem Tag entgegenstreckten. Er hatte dabei, mehr unterbewusst als schon wirklich reflektiert, wahrgenommen, dass die Kinder noch Energie ausstrahlten, die Älteren aber aufgegeben hatten. Da hatte er verstanden, dass sie niemals kämpfen würden, weil sie ihr Schicksal akzeptierten, und diese Erkenntnis hatte eine unglaublich große Wut in ihm ausgelöst. Er hätte sie am liebsten alle geschüttelt und angeschrien: Steht auf! Findet euch nicht ab mit dem, wie es ist! Tut was!

Aber diese Welt gab einem so schnell das Gefühl, dass man sowieso nichts ändern könne, und so gewöhnte man sich schnell an die Ungerechtigkeit, das Elend und die Gewalt; das war wohl überall so. In Indien aber konnte diese Haltung noch von der Religion unterstützt werden: Das Leben war ein festgeschriebenes Schicksal. Zu erdulden war im Hinduismus eine Tugend, die im nächsten Leben belohnt wurde. Gegen sein Karma anzukämpfen aber würde bestraft werden. Und so fand er sich umgeben von Menschen, die sich in den Lauf ihrer Geschichte fügten, deren Ende jetzt schon feststand.

An diesem Tag war er unendlich müde nach Hause gekommen und hatte sich für ein paar Tage in sein Zimmer zurückgezogen. Er hatte gezweifelt, gesucht, gebetet und gefastet. Und dann hatte er still für sich eine Art Gelübde getan: Auch wenn ich selber kein unbeschriebenes Blatt bin und meine Lebensgeschichte davon erzählt, dass ich als Halbwaise in einem Slum gelebt habe - es gibt noch weiße Stellen auf dem Papier meiner Geschichte und ich habe schreiben gelernt, ich kann sie weiterschreiben, ich werde sie mitgestalten. Wenn es stimmte - und dieses Bild war niemals ein Beweis, hatte sich aber in diesem Moment doch irgendwie in seine Seele gelegt -, dass der arme Jesus der Liebe der auferstandene Christus von Ostern war, dann war es möglich, aufzustehen, dazwischenzutreten, die tödliche Geschichte, die Routine, die Gewohnheit zu unterbrechen, mit dem Leben selbst. Dann war alles möglich. Danach hatte er eine neue Gewissheit gehabt und wusste, dass er die Energie der Kinder suchen würde.

Er rief nach Ganesh und weckte damit seine Mutter. „Und“, fragte er, „haben uns die Gäste von gestern Abend noch etwas übrig gelassen, das wir heute essen können?“ Priya lachte ihn an: „Reis, es ist noch jede Menge Reis da.“ Auch er musste lachen. „Dann essen wir Reis“, sagte er. „Und beim Essen werden wir uns über Reis unterhalten, über den ausgetrockneten Palar und die Satyagraha der Reisbauern. Was hältst du davon?“ Priya strahlte.

Sie aßen für eine Weile schweigend, alle drei einen großen Berg Reis vor sich auf dem Teller, dazu etwas scharfe Sauce mit Okra und Chilischoten, und genossen das einfache, sättigende Essen. Zwischen den einzelnen Happen, die sie zum Mund führten, blickten sie sich immer wieder lachend an, verschwörerisch.

Irgendwann lehnte sich Jaya zurück und begann mit ein paar Erläuterungen: „Unsere Regierung möchte, dass Indien genug Getreide anbauen kann, um nie mehr hungern zu müssen. Das ist ja eigentlich ein sehr ehrenwertes Ziel, nicht wahr?“ Priya nickte, auch Ganesh gab ihm recht. Jaya überlegte, wie er seiner Mutter dieses sehr komplexe Problem erklären könnte, und beschloss, es einfach zu versuchen: „Weißt du, unsere traditionellen Reissorten sind in den letzten Jahren immer mehr verdrängt worden. Dafür wurden neuere Sorten bevorzugt, die ergiebiger sein sollen. Man nennt sie auch Hybridsorten. Ihr Anbau wurde vom Staat bezuschusst. Zunächst waren die Erfolge dieser Maßnahmen dann tatsächlich sehr beeindruckend. Indien konnte nach langen Jahren, in denen wir immer Reis importieren mussten, sogar einen Vorrat an Reis anlegen.“

Priya nickte. „Das hört sich gut an, was unsere Regierung da gemacht hat. Aber du klingst, als würde es ein Problem geben?“

Jaya musste schmunzeln. „Ja, Ma. Ein erstes Problem ist, dass das in staatlichen Speichern gelagerte Getreide zum Teil nicht verkauft wurde und die Speicher so schlecht und unpassend waren, dass am Ende immer wieder Reis vernichtet werden musste.“ Leiser, mit Bitterkeit in der Stimme, fügte er hinzu: „Weil die Ratten kamen.“ Er wollte nicht zynisch werden, aber er merkte, dass sein Ton spöttisch wurde, wenn er sich die Katastrophe in ihrem Ausmaß vor Augen malte: „Also, Indien hat einen ganzen Katalog an Maßnahmen, schafft Bewässerungssysteme, baut riesige Staudämme, holzt dafür Wälder ab und überflutet ganze Dörfer, subventioniert Dünger und Hybridsorten und am Ende geht das Ergebnis an die Ratten. Während fast vierhundert Millionen Menschen unter der Armutsgrenze leben.“ Er schüttelte den Kopf. „Das darf man gar nicht laut sagen, so peinlich ist das.“

„Das muss man laut sagen, so schlimm ist das“, sagte Priya. Jaya sah sie an und nickte. „Ja, sicher, du hast natürlich recht. Denn das ist ja noch nicht alles.“

„Was noch?“, fragte Priya überrascht. „Was kann noch schlimmer sein, als dass unser Reis an die Ratten geht?“

„Na ja“, sagte Jaya langsam, „manche Auswirkungen zeigen sich erst nach einer Weile. Allmählich werden noch ganz andere Nachteile dieser Politik deutlich. Nach einer ersten Phase, in der die Erträge der Reisernten stark zugenommen hatten, nehmen sie jetzt deutlich ab. Und zwar, weil man zum Beispiel die ökologischen Folgen des einseitigen Reisanbaus, Wasserhaushalt und Bodenbeschaffenheit nicht bedacht hatte. Und, auch das kommt noch hinzu, diese Reispolitik hat soziale Konflikte zwischen moderneren Groß- und traditionelleren Kleinbauern ausgelöst. Chattisgarh ist ja ein sehr fruchtbarer Bundesstaat.“

Er sah Ganesh an und dann wieder seine Mutter: „Ihr wisst doch, früher nannte man ihn eine der, Reisschüsseln des Landes`. Aber heutzutage muss die Region wieder Reis importieren und die Ergiebigkeit ihrer Landwirtschaft ist erschreckend schnell gesunken.“

„Ach“, seufzte Priya. „Was für große Herausforderungen und wie viel Leid dahintersteckt. Aber“, fragte sie dann mit mehr Energie in ihrer Stimme, „was hat es denn jetzt mit der Satyagraha auf sich?“

„Bei dem Konflikt“, sagte Jaya langsam, „geht es noch einmal um einen ganz anderen Gesichtspunkt. Stell dir vor, dass es große internationale Agrarkonzerne gibt, die ein Interesse an der genetischen Vielfalt indischer Kulturpflanzen haben. Sie entwickeln neue Sorten und lassen sich die dann patentieren. Und da werden die Bauern nervös, ihre Sorge ist, dass sie am Ende nicht nur kein Geld für ihr Saatgut mehr bekommen, sondern sogar noch selber dafür zahlen müssten. Eine berechtigte Sorge, glaube ich. Und deshalb kämpfen sie mit der Saatgut-Satyagraha darum, sich vor der Plünderung ihrer Artenvielfalt zu schützen. Vor dem Diebstahl ihres Erbes, könnte man auch sagen.“

„Das sind große, große Sorgen“, sagte Priya.

Jaya lächelte sie an. „Ja, da hast du recht. Klein sind sie nicht.“

Sie schauten sich an, sehr nachdenklich, warfen einen Blick auf ihre leeren Teller und sahen sich wieder in die Augen. Ganesh hatte aufmerksam zugehört und besann sich jetzt auf seine Rolle im Haus und fragte: „Möchte noch jemand ein Stück Mango? Am Baum ist eine reife, die euch sicher gut schmecken würde.“

Priya winkte ab und erklärte, sie würde sie morgen essen und jetzt zu Bett gehen, die Gespräche hatten sie angestrengt. Jaya lehnte ebenfalls dankend ab und sagte, er werde noch etwas lesen und dann ebenfalls zu Bett gehen. Morgen früh würde er schon sehr früh ins Kinderheim fahren und dann Raja zur Schule begleiten.

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