Читать книгу Die illegale Pfarrerin - Christina Caprez - Страница 26
Flammenkrankheit
ОглавлениеDen Sommer 1924 verbrachte Greti in einem Mädchenpensionat im Welschland, um Kochen, Haushalten und Französisch-Konversation zu lernen. Die Mitschülerinnen stammten aus England, Norwegen, Deutschland, Italien und der Schweiz, und waren zwischen sechzehn und achtzehn Jahre alt. Für die Bündnerin war es komplett neu, ausschliesslich unter jungen Frauen zu sein. Ist das ein Leben unter diesen Mädchen! Schön sind sie die meisten, einige sogar bildschön. Bewegung ist unter ihnen. Sie küssen sich, lachen und machen einen ungeheuren Krach. Ich habe aber bereits gemerkt, dass sie hinten herum übereinander schimpfen. (…) Diese Mädchen sind ganz anders als ich, oder bin ich nur nicht gewöhnt, mit Mädchen zu verkehren?,355 fragte sie sich. Verwundert beobachtete sie das Anhimmeln, Küssen und Schmeicheln. Beruhte die Zuneigung auf Gegenseitigkeit, dann gingen zwei junge Frauen eine Freundschaft ein, die exklusiv war. Erika ist verliebt in Alice, berichtete Greti ihrer Freundin Hildi. Alice aber hatte schon, bevor Erika kam, eine Deutsche als Freundin, und sie kommt nun zu spät. Immerhin erbarmte sich Alice und gab Erika abends einen Kuss, worüber Greti sich lustig machte: Habt ihr euch Zucker dazwischen gelegt, damit es süss wurde?356
Die Verliebtheiten unter jungen Frauen bezeichnete Greti im Tagebuch spöttisch als Flammenkrankheit.357 Die Beziehungen zu Jungen und die zu Mädchen beschrieb sie in ähnlichen Worten, sie sprach von Freundschaft, Verliebtheit und Liebe, von Küssen und Tränen, von wilder Sehnsucht und Eifersucht. Immer gab es ein Gebot der Exklusivität: So wie es undenkbar war, mit zwei Jungen gleichzeitig zu gehen, so konnte ein Mädchen auch nicht zwei Freundinnen zugleich haben. Trat eine zweite auf den Plan, versicherte sich das ursprüngliche Freundinnenpaar gegenseitig ihrer Bedeutung füreinander. Kannst Du Dich noch erinnern, dass ich zu Dir sagte: Wenn ich erfahren würde, dass ich Dich noch mit einem andern Mädchen teilen müsste, würde ich es nicht ertragen können?,358 wollte Greti von Hildi wissen. Trotz Verwandtschaft in der Wortwahl störte die Freundschaft zu einem Jungen diejenige zu einem Mädchen jedoch nicht. Beide konnten nebeneinander bestehen.
In der spärlichen Freizeit im Mädchenpensionat widmete sich Greti lieber ihren Büchern anstatt einer Liebschaft. Mich hat die grosse Lernwut ergriffen. (…) Jeden Tag müssen zwanzig Seiten Rousseau gelesen werden.359 Kein Wunder, galt sie zunächst als richtige, brave Pfarrerstochter.360 Doch seit sie bei einem Abendessen alle zum Lachen gebracht hatte, wurde sie scherzhaft nur noch die missratene Pfarrerstochter genannt. Und schliesslich fand auch Greti eine Flamme im Mädchenpensionat. Wer hätte das geglaubt! Ich glaube ganz sicher, die Flammenkrankheit ist ansteckend. Ich habe nämlich eine Flamme für Trudy Gassmann.361 Ich liebe sie, weil sie so schneidig und stark ist.362 Auch Trudy fand Gefallen an Greti. Sie liebt alle Bündner. (…) Und als sie heute Abend den letzten Tanz mit mir tanzte, sagte sie, sie liebe mich, weil ich so offen sei.363 Doch Gretis Flamme überdauerte die Sommerferien nicht. Die Flammenkrankheit war ein Fieber, das im Internat besonders schnell entflammte, zum Ende der Pensionatszeit aber ebenso rasch wieder erlosch. Gretis wahre Liebe galt Hildi, der Schulfreundin aus Chur.
Im Nachlass finden sich nur noch einzelne Seiten aus Gretis beiden ersten Jugendtagebüchern. Vor ihrem Tod steckte sie die Fragmente in einen Umschlag, den sie ins dritte Tagebuch legte. Offenbar war es ihr wichtig, genau diese Bruchstücke aufzubewahren. Dazu gehörten die Aufzeichnungen zum Generalstreik und ein Gedicht, das Hildi der Freundin 1923, im letzten gemeinsamen Sommer, bevor sie aus Chur wegzog, ins Tagebuch schrieb.
DIE FREUNDIN
Deine Briefe haben goldenen Rand
Und steht viel Törichtes drin!
Doch über das weisse Linnen hin
Ging Deine schmale Hand.
Du ahnst nicht, wie glücklich ich bin,
Da heut Deinen Brief ich fand.
Ist doch Dein ganzes Herz darin
Vertrauens Unterpfand.
Deine Briefe haben goldenen Rand
Gleich wie Dein krausbraun Haar
Als die Sommersonne ihr Licht so klar
auf Dich herniedergesandt,
Damals, als Du am Flussesrand
schlank lagst im feuchten Sand,
Da Dich, halbnackt am wellgen Strand
Mein heisser Blick verschlang.
Deine Briefe haben goldenen Rand
Wie Dein Ringlein mit rotem Rubin,
Das du gleich einer Königin
Trägst an der schmalen Hand.
Du ahnst wohl nicht, wie schlecht ich bin,
Du Kind aus Märchenland!
Doch Dein schlanker Leib, Dein Herz, Deine Hand,
S’liegt all mein Glück darin.
Aug. 1923
Eigentlich war es nicht dazu bestimmt, in diesem Tagebuch zu stehen. Aber nun – basta.
H. Hügli364
1924, ein Jahr früher als Greti, machte Hildi Matur und zog zum Studium nach Bern. Ich suche überall Hildi und sehe sie um jede Strassenecke biegen und bin doch allein,365 schrieb Greti im Tagebuch, und an Hildi: Im Nebenzimmer spielen Mama und Käti Klavier und Geige, und in jedem Ton liegt die Sehnsucht nach Dir.366
Doch die Freundschaft zu Hildi, die Greti so viel bedeutete, wurde jäh unterbrochen. Im Dezember 1924 verbot der Vater Greti jeden Verkehr mit der Freundin. Das Machtwort kam für sie aus heiterem Himmel. Hildi zu verlieren, war unvorstellbar. Als ich ihn nach dem Grunde des Verbotes fragte, antwortete er, sie bedeute für mich die grösste Gefahr. Darauf verlangte ich zu wissen, wieso er so plötzlich dazu gekommen, nachdem er zwei Jahre lang unsere Freundschaft ruhig mitangesehen. Er antwortete, er könne mir die Quelle seiner Befürchtungen nicht nennen, worauf ich ihn beschuldigte, heimlich Hildis Briefe gelesen zu haben. Er verteidigte sich mit keinem Wort, sondern sagte nur: «Du lieferst damit ein Geständnis!» (…) Am meisten schmerzte mich, dass mein Vater nicht offen war und nicht einfach sagte: Sie soll das und das getan haben. Weisst Du davon und wie stellst Du Dich dazu?367 Der Verdacht des Vaters, seine Tochter und Hildi hätten eine sexuelle Beziehung, war unaussprechlich, und auch Greti wagte es nicht, ihn beim Namen zu nennen. Statt dessen betonte sie, als sie sich später an Hildi erinnerte, den nicht körperlichen Charakter ihrer Freundschaft: Wir gingen nie Arm in Arm, wie die Mädchen es sonst zu tun pflegen, und küssten uns auch nie.368
In ihrem Tagebuch liess Greti ihrer Wut auf den Vater freien Lauf. Was soll Dein Verbot nützen?, schrieb sie sich in Rage. Gedanken sind zollfrei, und ich werde täglich, stündlich an sie denken müssen.369 Was hatte ihn überhaupt auf seinen Verdacht gebracht?370 Diese Frage beschäftigte sie mindestens ebenso sehr wie das väterliche Verbot an sich. Nach der Standpauke kam der Vater nicht mehr auf das Thema zu sprechen. Greti war froh darum. Im Tagebuch hielt sie fest, was sie ihm hätte sagen wollen: Siehst Du, unser Briefwechsel war so eine Art Beichte, und wir legten so alles Böse ab, nachdem wir es niedergeschrieben.371 Zwischen Moral und Verderben, Fantasie und Realität lag nur eine feine Linie. Eine trennscharfe Unterscheidung zwischen dem, was die Freundinnen dachten und dem, was sie taten, gab es nicht: Meistens waren es nur Gedanken, notierte Greti in ihrem Tagebuch. Meistens.
Erstaunlich offen beschrieb Greti die Episode in ihrem Curriculum Vitae zu Händen des Deutschlehrers vor der Matur. Womit auch immer der Vater ihr drohte, sie würde ihrer Freundin treu bleiben. Sie und der Vater seien schliesslich auch nicht frei von Sünde. Ich muss zu ihr halten; denn ich verdanke ihr zu viel, und wenn wir uns die Mühe nehmen wollten, vor unserer eigenen Türe zu kehren, würden wir vielleicht dort genug Unrat finden und sie ihre Sachen allein «auskäsen» (lösen) lassen. Ich denke auch keinen Augenblick daran, ein Urteil zu fällen. Ich bin im Gegenteil dem Schicksal dankbar dafür, dass es mich nicht in Versuchung geführt (…)372. Dem Vater zu gehorchen und den Kontakt zu Hildi abzubrechen, kam für sie so oder so nicht in Frage. Ich hätte mich selbst verachten müssen, wenn ich jetzt abgebrochen hätte. Ja, ich liebte sie noch mehr als vorher, denn meine Liebe wurde angetan mit dem Märtyrerstrahlenkranz.373
Als Greti ein Jahr nach Hildi die Matura machte, wagte sie es allerdings nicht, den Vater zu fragen, ob sie wie die Freundin in Bern studieren dürfe.374 Aus der innigen Verbindung wurde eine Brieffreundschaft, die die beiden auch dann noch aufrecht erhielten, als Hildi einige Jahre später mit ihrem Mann nach Amerika zog und eine Familie gründete. Sie wurde Dozentin, er Professor an der Universität von Chatanooga (Tennessee). Bis ins hohe Alter schrieben sich die beiden Freundinnen.
Möglicherweise wäre Joos Roffler ebenso eifersüchtig gewesen, hätte er entdeckt, dass seine Tochter einen Mann liebt. Schliesslich reagierte er auch auf Gian, der kurze Zeit später in Gretis Leben trat, mit Eifersucht. Fest steht jedoch auch: Die Selbstverständlichkeit, mit der Greti und ihre Freundinnen Frauenbeziehungen lebten, teilte er nicht. Damit war er ganz Kind des zwanzigsten Jahrhunderts, während in der Flammenkrankheit der Internatsschülerinnen die Kultur romantischer Frauenfreundschaften des neunzehnten Jahrhunderts nachzuwirken scheint. Die österreichische Historikerin Hanna Hacker stellt fest, dass innige Verhältnisse jedenfalls unter bürgerlichen und adeligen Frauen mindestens bis ins späte neunzehnte Jahrhundert kulturell nicht geächtet, sondern vielmehr unterstützt und gleichsam zelebriert wurden.375
Caroll Smith-Rosenberg, die Frauenbeziehungen im neunzehnten Jahrhundert in Nordamerika anhand von Briefen analysiert hat, schreibt: Die wesentliche Frage ist nicht, ob diese Frauen Geschlechtsverkehr miteinander hatten und so als hetero- oder homosexuell definiert werden können. Die Tendenz des zwanzigsten Jahrhunderts, Liebe und Sexualität im Rahmen einer dichotomisierten Welt von abweichendem und normalem Verhalten, von genitaler und platonischer Liebe zu sehen, ist den Gefühlen und Einstellungen des neunzehnten Jahrhunderts fremd und vermittelt ein von Grund auf verzerrtes Bild von den emotionalen Beziehungen dieser Frauen. Diese Briefe sind wichtig, weil sie uns zwingen, solche Liebesbeziehungen in einem bestimmten historischen Kontext zu situieren.376 Ab Ende des neunzehnten Jahrhunderts begannen sich Ärzte und Psychiater mit gleichgeschlechtlichen Beziehungen zu beschäftigen und entwickelten den Begriff Homosexualität. Diese neue öffentliche Aufmerksamkeit brachte betroffene Frauen – und Männer – in die Defensive.
Dreissig Jahre, bevor Greti ihre Freundschaft zu Hildi rechtfertigte, hatte sich eine andere Bündnerin gegen ähnliche Vorwürfe gewehrt: Meta von Salis, geboren 1855 im Schloss Marschlins in Igis, anderthalb Kilometer vom Pfarrhaus entfernt, in dem Greti später aufwuchs.377 Als junge Erwachsene pflegte die Adlige eine schwärmerische Freundschaft zur Deutschen Theo Schücking. Die beiden Frauen besiegelten ihre Beziehung mit Blut und einem Ring und malten sich ein gemeinsames Leben aus. Ihre Wege trennten sich allerdings bald.378 Kurz darauf begegnete Meta von Salis an der Universität Zürich, wo sie später als erste Frau in Geschichte promovierte, der Fotografin Hedwig Kym, Tochter des Professors Ludwig Kym.379 Meta und Hedwig wurden Freundinnen fürs Leben. Sie unternahmen zahlreiche Reisen miteinander und waren in der Frauenbewegung aktiv.380 Auch andere ledige Akademikerinnen ihrer Generation lebten als Freundinnen zusammen, etwa die Ärztin Caroline Farner und ihre Lebensgefährtin Anna Pfrunder. Meta von Salis beschrieb die Frauenfreundschaft als Phänomen ihrer Zeit.
Solange die Frau eine abhängige, gänzlich von der Familie bestimmte, in ihr begrenzte Stellung einnahm, konnte Freundschaft in dem weiten und tiefen Sinn (…) bei Frauen gar nicht aufkommen. Sie entstand nicht, weil ihr die Lebensbedingungen, Handlungsfähigkeit und Handlungsfreiheit fehlten. Kaum waren diese durch die berufliche Ausbildung und um sich greifende Befreiung der Frauen von männlichen Vormündern, Brüdern und Schwägern gegeben, so zeitigten sie auch die köstliche Frucht der Freundschaft à toute épreuve zwischen Frauen.381
Diese Freundinnenpaare waren gesellschaftlich respektiert – solange sie niemandem in die Quere kamen. Als Caroline Farner und Anna Pfrunder Mitte der 1880er-Jahre zwei Waisenkinder aus Pfrunders Verwandtschaft bei sich aufnahmen, zerrte sie ein Onkel der Kinder vor Gericht: Die Frauen hätten es nur auf das Vermögen der Waisen abgesehen. Im Prozess, der sogar in Deutschland wahrgenommen wurde,382 kam es zu einer Schlammschlacht gegen Caroline Farner. Der Kommentator der NZZ diffarmierte die Ärztin aufgrund ihres Äusseren. Dr. med. Karoline Farner erscheint mit Herrenkragen und weiter Krawatte383, das kurzgeschnittene Haar in der Mitte gescheitelt und auf die Stirn vorfallend. (…) Ihr durchaus männlich gebildetes Gesicht zeigt dabei den Ausdruck gespanntester Aufmerksamkeit.384 Meta von Salis verteidigte ihre Freundin in einer achtzigseitigen Broschüre mit dem Titel Der Prozess Farner – Pfrunder. Darin wehrte sie sich gegen den impliziten Vorwurf, die Frauen führten eine sexuelle Beziehung – und versuchte unausgesprochen auch sich und Hedwig Kym als keusch darzustellen.
Dass eines der entsetzlichen Entartungsgebilde der Hyperkultur auch den Namen Freundschaft trägt, ist zu bedauern, aber die beiden zu verwechseln, wird nur einem mit den raffiniertesten Lastern vertrauten Gesellen gegeben sein. Das Giftgeschwür heftet sich an die Existenzen beschäftigungs- und interesseloser, überreizter Genussmenschen, die keusche Blume der Freundschaft385 entspringt dem Boden einer arbeitsfrohen, pflichttreuen Lebensführung.386
Giftgeschwür, Entartungsgebilde, Hyperkultur: Meta von Salis benutzte Begriffe, die die körperliche Liebe zwischen Frauen als entsetzliche Seuche, genetischen Defekt oder Zivilisationskrankheit darstellten. Ihr Vokabular erinnert an zeitgenössische rassistische und antisemitische Schriften. Tatsächlich las die Bündnerin die Bücher des französischen Rassentheoretikers Arthur de Gobineau.387 Mit den Rassentheorien untermalten Aristokratinnen wie Meta von Salis ihre Machtansprüche, die in der Demokratie an Legitimation verloren hatten.
1904 verkaufte Meta von Salis Schloss Marschlins ihrem Cousin, dem Rechtsprofessor Ludwig Rudolf von Salis-Maienfeld, und war nur noch sporadisch zu Besuch auf dem Anwesen. Sie liess sich und Hedwig Kym auf der italienischen Insel Capri eine Villa bauen.388 Meta von Salis war damals knapp fünfzig Jahre alt, Greti wurde erst zwei Jahre später geboren. Der neue Schlossbesitzer amtete lange Jahre als Kirchgemeindepräsident von Igis389.
Maria Metz, geb. 1935, Tochter von Gretis Schwester Käti
Meine Mutter erzählte ab und zu von den Einladungen im Schloss Marschlins. Die Kinder (also Greti und ihre Geschwister) mussten sich in Gala stürzen und nobel tun. Sie gingen nicht gern dorthin, weil sie im Schloss nichts anfassen durften. Sie mussten ruhig dasitzen und darauf achten, dass sie richtig assen. Meta von Salis sass manchmal auch mit am Tisch. Die Kinder verstanden nicht, worüber die Erwachsenen sprachen. Was sie begriffen: Dass Meta von Salis eine hochgescheite Frau war.390